Bundessozialgericht
Pflegeversicherung – Begleitung – Behinderter – Behindertenwerkstatt – Nichtberücksichtigung als Pflegebedarf – Fußpilzbehandlung – Behandlungspflege – Beaufsichtigungsbedarf – Eingliederungshilfe
Die Begleitung eines Behinderten auf dem Weg zwischen Wohnung und Behindertenwerkstatt kann in der sozialen Pflegeversicherung nicht als Pflegebedarf berücksichtigt werden.

BSG, Urteil vom 24. 6. 1998 – B 3 P 4/97 R (lexetius.com/1998,308)

[1] Tatbestand: Die 1964 geborene Klägerin leidet an einem sog Morbus-Down-Syndrom mit schwerer geistiger Behinderung, Sehminderung, Haarausfall sowie außerordentlicher Körperfülle an Bauch, Hüften und Beinen. Sie wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester zusammen, die zu ihrer Betreuerin bestellt ist. Montags bis freitags fährt sie mit dem Bus zur Arbeit in einer Behindertenwerkstatt.
[2] Ihren Antrag vom Februar 1995 auf Pflegegeld gemäß Pflegestufe I nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) lehnte die beklagte Pflegekasse nach Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) ab (Bescheid vom 4. April 1995 und Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 1995). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage- nach Vernehmung der Mutter der Klägerin sowie der Gruppenleiterin in der Behindertenwerkstatt – abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteile vom 13. Juni 1996 bzw 22. April 1997). Das LSG hat ausgeführt, nach den glaubhaften Angaben der beiden Zeuginnen könne die Klägerin die Verrichtungen im Bereich der Grundpflege im wesentlichen selbst durchführen. Lediglich beim Duschen (10 Min), Kämmen und Befestigen der Perücke (5 Min) sowie Zurechtlegen der Kleidung (10 Min) sei eine Beaufsichtigung und Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Durchführung der Verrichtungen durch die Klägerin oder sogar eine Durchführung durch die Mutter erforderlich; damit werde der Mindestpflegebedarf von 45 Min im Bereich der Grundpflege aber nicht erreicht. Eine Fußpilzbehandlung hänge nicht mit den Verrichtungen gemäß § 14 Abs 4 SGB XI zusammen, insbesondere nicht mit dem "Gehen" und "Stehen"; ob eine Behandlungspflege zur Ermöglichung oder Sicherstellung der elementaren Lebensführung angesichts der Einbeziehung vieler unbedeutender Grundpflegeleistungen aus Gleichheitsgründen zu berücksichtigen sei, könne bei einer bloßen Fußpilzbehandlung dahinstehen. Weiterhin gehöre eine Anleitung und allgemeine Beaufsichtigung über das für die Verrichtungen Nötige hinaus auch nach den gesetzgeberischen Materialien nicht zu den maßgeblichen Hilfeleistungen. Schließlich zähle eine Hilfe beim "Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung", wie hier die Begleitung zur Haltestelle des Busses, mit dem die Klägerin zur Behindertenwerkstatt fährt, nicht dazu, weil die außerhalb der Wohnung angestrebte Verrichtung und das persönliche Erscheinen für die Aufrechterhaltung der häuslichen Lebensführung nicht unumgänglich seien.
[3] Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 15 und 37 SGB XI, weil auch die Fußpilzbehandlung, die in erheblichem Maße notwendige allgemeine Beaufsichtigung und die Begleitung zur Bushaltestelle zu berücksichtigen seien.
[4] Die Klägerin beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. April 1997 und des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. Juni 1996 sowie den Bescheid vom 4. April 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. April 1995 Pflegegeld gemäß Pflegestufe I nach dem SGB XI zu zahlen.
[5] Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
[6] Entscheidungsgründe: Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
[7] Der Anspruch auf Pflegegeld gemäß der Pflegestufe I, den die Klägerin ab dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der gesetzlichen Pflegeversicherung am 1. April 1995 (Art 68 Abs 2 Pflege-Versicherungsgesetz- PflegeVG -) geltend macht, setzt gemäß § 37 Abs 1 SGB XI voraus, daß Pflegebedürftigkeit iS des § 14 SGB XI vorliegt; außerdem muß nach § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI für die Pflegestufe I ein Hilfebedarf bei der Grundpflege von mindestens 45 Min bestehen, den das LSG- im Ergebnis zu Recht – verneint hat.
[8] Das LSG hat im Bereich der Grundpflege- nämlich beim Duschen, beim Kämmen und Befestigen der Perücke sowie beim Zurechtlegen der Kleidung – einen Gesamtpflegebedarf von nur 25 Min festgestellt. Diese Feststellungen werden von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen und sind daher für den Senat verbindlich (§ 163 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Die Revision greift mit Rechtsausführungen lediglich an, daß das LSG bei der Berechnung des Grundpflegebedarfs weder die Behandlung des Fußpilzes, noch eine Beaufsichtigung der Klägerin, noch deren Begleitung zur Bushaltestelle berücksichtigt hat. Dabei kann dahinstehen, ob unter Einbeziehung dieser weiteren Tätigkeiten der Pflegeperson (der Mutter der Klägerin) das notwendige Mindestmaß an Grundpflege von insgesamt 45 Min erreicht werden würde; denn das LSG hat die genannten Tätigkeiten zu Recht nicht einbezogen.
[9] a) Bei der Behandlung des Fußpilzes handelt es sich um eine Behandlungspflege, zu welcher der Senat bereits in seinem Urteil vom 19. Februar 1998 (B 3 P 5/97 R- zur Veröffentlichung vorgesehen) mit umfangreicher Begründung, unter verfassungsrechtlichen Abwägungen und unter Hinweis auf das begrenzte Finanzbudget der Pflegeversicherung dargelegt hat, daß sie nur dann in die Berechnung des Grundpflegebedarfs einbezogen werden kann, wenn sie einer im Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI im einzelnen aufgeführten Verrichtung "zugeordnet" werden kann. Wie das LSG zu Recht angenommen hat, ist die Fußpilzbehandlung aber weder für das Gehen und Stehen (§ 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI) notwendig noch steht sie mit diesen Verrichtungen in zeitlichem Zusammenhang. Daß mit der Fußpilzbehandlung ein "Zeit- und Arbeitsaufwand" verbunden ist, wie die Revision betont, reicht nicht aus. Deshalb kann auch dahinstehen, ob es sich im Hinblick auf die Therapiemöglichkeiten bei Fußpilzerkrankungen überhaupt um einen Behandlungsbedarf von ausreichender zeitlicher Relevanz handelt (vgl dazu Urteil vom 19. Februar 1998, B 3 P 7/97 R- zur Veröffentlichung vorgesehen).
[10] b) Zur Frage der Beaufsichtigung der Klägerin ist von der Feststellung des LSG auszugehen, bei den Verrichtungen der Grundpflege bedürfe die Klägerin "im wesentlichen" – die drei Ausnahmen machen, wie ausgeführt, nur einen Hilfebedarf von 25 Min täglich aus – keiner Hilfestellung, weil die Klägerin motorisch zur selbständigen Durchführung dieser Verrichtungen in der Lage sei und dazu auch nicht mehr als eine Aufforderung benötige. Auch insoweit werden die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht mit Verfahrensrügen angegriffen. Daraus hat das LSG zu Recht gefolgert, daß ein weiterer zu berücksichtigender Hilfebedarf nicht besteht. Eine allgemeine Aufsicht, die darin besteht zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens von der Klägerin ordnungsgemäß ausgeführt werden, und dazu führt, daß die Klägerin gelegentlich zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden muß, reicht nicht aus, weil eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson damit nicht verbunden ist. Ein Beaufsichtigungsbedarf ist, wie der Senat bereits entschieden hat, nur zu berücksichtigen, wenn die Pflegeperson dabei nicht nur verfügbar und einsatzbereit, sondern auch zeitlich und örtlich in der Weise gebunden ist, daß sie an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert ist (Urteil des Senats vom 19. Februar 1998, B 3 P 6/97 R).
[11] c) Schließlich hat auch die Begleitung der Klägerin zur Haltestelle des Busses, mit dem sie zur Behindertenwerkstatt fährt, bei der Bemessung des Pflegebedarfs außer Betracht zu bleiben. Die berücksichtigungsfähige Hilfe bei der allein in Frage kommenden Verrichtung des "Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung" (§ 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI) umfaßt diese Begleitung, mag sie für die Klägerin auch erforderlich sein, nicht. Der Wortlaut der Vorschrift führt allerdings lediglich den Vorgang des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung als solchen an, und macht keine Einschränkung bezüglich der Zwecke, die außerhalb der Wohnung verfolgt werden. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber habe damit die Hilfe zu jeglichem Zweck des Weggehens sowie in jedem zeitlichen Umfang- etwa auch zur Freizeitgestaltung – als notwendigen Hilfebedarf miteinbeziehen wollen. Die Hilfe außerhalb der Wohnung muß vielmehr erforderlich sein, um ein Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des Pflegegeldes und dem Zusammenhang der dafür maßgeblichen Verrichtungen, die sämtlich der Aufrechterhaltung der Existenz in der häuslichen Umgebung dienen. Diese Auslegung wird durch die Gesetzesmaterialien (BR-Drucks 505/93, S 97) bestätigt, wonach nur solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung zu berücksichtigen sind, die "für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machen" (dieselbe Formulierung findet sich in Nr 3. 4. 2 der Pflegerichtlinien). Als Beispiel wird in den Materialien das Verlassen der Wohnung genannt, um Ärzte, Krankengymnasten, Sprachtherapeuten, Apotheken und Behörden aufzusuchen; hingegen soll die Hilfe bei Spaziergängen oder Besuchen von kulturellen Veranstaltungen, obgleich wünschenswert, mangels Finanzierbarkeit nicht zum berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf gerechnet werden. Die Hilfe beim Einkaufen wird hingegen bei den hauswirtschaftlichen Verrichtungen in § 14 Abs 4 Nr 4 SGB XI berücksichtigt.
[12] Wegen der somit gebotenen einschränkenden Auslegung der Verrichtung "Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung" kann auch eine Begleitung zur Haltestelle des Busses, mit dem eine Behinderte zur Behindertenwerkstatt fährt, nicht als relevanter Hilfebedarf eingeordnet werden. Denn auch hier fehlt der erforderliche Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Existenz in der häuslichen Umgebung. Die Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt mag zwar im weiteren Sinn für einen Behinderten notwendiger sein als die normale Erwerbstätigkeit für eine gesunde und voll erwerbsfähige Person, da auch therapeutische Ziele mitverfolgt werden. Sie dient damit aber gleichwohl nicht der Aufrechterhaltung der häuslichen Existenz, sondern der Stabilisierung und Entwicklung der geistigen und körperlichen Kräfte, die auch dann erforderlich bleibt, wenn der Behinderte in einem Heim untergebracht ist. Dies entspricht dem Aufgabenbereich der Eingliederungshilfe für Behinderte nach den §§ 39 ff Bundessozialhilfegesetz, der durch die Pflegeversicherung unberührt geblieben ist. Mit dem neugeschaffenen § 13 Abs 3 Satz 3 SGB XI idF des Ersten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 14. Juni 1996 (BGBl I, 830) hat der Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet, daß eine Vor- und Nachrangigkeit im Verhältnis von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe nicht besteht (vgl dazu BT-Drucks 13/3696, 15, zu § 71 Abs 4). Erfordern die Maßnahmen der Eingliederungshilfe die Begleitung des Behinderten, so sind auch die notwendigen Fahrtkosten und die sonstigen mit der Fahrt verbundenen Auslagen der Begleitperson zu übernehmen (§ 22 der Eingliederungshilfe-Verordnung). Auch wenn danach die unentgeltliche Begleitung durch einen Angehörigen ohne weiteren Kostenaufwand nicht durch Leistungen der Eingliederungshilfe abgedeckt wird (vgl Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl 1997, § 22 EinglH-VO RdNr 3), ist dies kein zwingender Grund, diesen Pflegebedarf der Pflegeversicherung zuzuordnen. Wie der Senat in anderem Zusammenhang bereits ausgeführt hat, ist die Pflegeversicherung vom Gesetzgeber nicht auf die lückenlose Erfassung jeglichen Pflegebedarfs ausgerichtet worden, so daß zB auch der weite Bereich der Behandlungspflege nicht schon deshalb von der Pflegeversicherung abgedeckt wird, weil er von der gesetzlichen Krankenversicherung nur teilweise erfaßt wird (vgl BSG Urteil vom 19. Februar 1998- B 3 P 5/97 R – zu Veröffentlichung vorgesehen). Entsprechendes gilt auch hier.
[13] Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.