Bundesgerichtshof
BGB § 723 Abs. 1 Satz 2
Bei der Gesamtbetrachtung, die anzustellen ist, wenn die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung einer bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft in Frage steht, kommt es in erster Linie auf die vor der Kündigungserklärung liegenden Ereignisse an; spätere Vorgänge haben allenfalls indizielle Bedeutung.

BGH, Urteil vom 24. 7. 2000 – II ZR 320/98; OLG München; LG München I (lexetius.com/2000,1763)

[1] Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juli 2000 durch den Vorsitzenden Richter Dr. h. c. Röhricht und die Richter Prof. Dr. Henze, Prof. Dr. Goette, Dr. Kurzwelly und die Richterin Münke für Recht erkannt:
[2] Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 14. Juli 1998 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
[3] Tatbestand: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von dem Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung ihres Gesellschaftsvertrages.
[4] Seit dem 15. Januar 1989 betrieben die Parteien in Gesellschaft bürgerlichen Rechts eine Wirtschaftsprüfer- und Steuerberaterkanzlei. Der Gesellschaftsvertrag war zunächst für fünf Jahre geschlossen und verlängerte sich jeweils um weitere fünf Jahre, wenn nicht 12 Monate vor Jahresablauf eine schriftliche Kündigung erfolgte. Zum 15. Januar 1994 kündigte keine der Parteien, so daß eine ordentliche Kündigung erst wieder zum 15. Januar 1999 möglich war.
[5] Zwischen den Parteien kam es ab 1994 zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten und in deren Folge zu einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten. Mit Anwaltsschreiben vom 31. Januar 1996 kündigte der Beklagte das Gesellschaftsverhältnis aus wichtigem Grund zum 30. Juni 1996 mit der Begründung, ihm sei mit Rücksicht auf zwei Schreiben des Klägers an Mandanten der Sozietät ein weiteres Verbleiben in der Gesellschaft nicht mehr zumutbar. Der Kläger hat u. a. die Feststellung beantragt, daß die Kündigung unwirksam sei. Ursache für das Zerwürfnis der Parteien ist aus seiner Sicht, daß der Beklagte ihn aus der Sozietät hinausdrängen wollte, um mit seiner Tochter, die Anfang 1994 das Wirtschaftsprüferexamen abgelegt hatte, eine Steuerberater- und Wirtschaftsprüferkanzlei zu gründen. Der Beklagte dagegen ist der Ansicht, daß der Grund für die Differenzen der Parteien in den erheblichen Verlusten des vom Kläger betriebenen Geschäftsbereichs, der 1991 gemeinsam erworbenen Steuerberaterkanzlei "F.", sowie der Weigerung des Klägers, kostensenkende Maßnahmen zu ergreifen, liege. Das Landgericht hat das Feststellungsbegehren des Klägers durch Teilurteil abgewiesen, das Oberlandesgericht hat ihm stattgegeben. Mit seiner Revision verfolgt der Beklagte sein Klagabweisungsbegehren weiter.
[6] Entscheidungsgründe: Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
[7] I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, das Vertrauensverhältnis der Parteien sei so tief zerstört, daß ein gedeihliches Zusammenwirken unmöglich erscheine. Das allein könne zwar als wichtiger Grund zu einer außerordentlichen Kündigung ausreichen. Die Kündigung des Beklagten vom 31. Januar 1996 müsse aber jedenfalls zu dem genannten Auflösungszeitpunkt 30. Juni 1996 wegen Treuwidrigkeit als unwirksam behandelt werden, weil sie in rücksichtsloser Verfolgung eigener Interessen ausgesprochen worden sei. Nach dem Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme und dem unstreitigen Sachverhalt stehe nämlich fest, daß die Kündigung des Beklagten im wesentlichen das zu mißbilligende Ziel gehabt habe, die Ende 1995 eingeleiteten Bemühungen um eine einvernehmliche Auseinandersetzung der Gesellschaft zu unterlaufen. Der Beklagte habe eine Gestaltung einseitig zu seinen Gunsten dadurch herbeiführen wollen, daß er das Personal und mit diesem das wesentliche "Kapital" der Sozietät, die Mandanten, habe abziehen und zum Schaden des Klägers der zum 1. Juli 1996 neu zu gründenden (und auch tatsächlich gegründeten) Steuerberater- und Wirtschaftsprüferkanzlei seiner Tochter habe zuführen wollen. Zur Begründung seiner Überzeugung hat das Berufungsgericht darauf verwiesen, daß im Zeitpunkt der Kündigung die Gespräche zur einvernehmlichen Auflösung der Sozietät noch nicht gescheitert gewesen seien, und im übrigen auf das Verhalten des Beklagten nach Ausspruch der Kündigung abgestellt.
[8] Das hält revisionsrechtlicher Prüfung nur teilweise stand. Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts tragen den Schluß auf eine Unwirksamkeit der Kündigung nicht.
[9] II. Zutreffend ist lediglich der rechtliche Ausgangspunkt des Oberlandesgerichts. Die irreparable Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Gesellschaftern kann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung des Gesellschaftsvertrages sein (st. Rspr. des Senats, BGHZ 4, 108, 112/113; Urt. v. 11. Juli 1966 – II ZR 147/64, WM 1966, 1051; Urt. v. 18. November 1974 – II ZR 107/73, WM 1975, 329, 330). Eine außerordentliche Kündigung kann trotz Vorliegens eines wichtigen Grundes wegen Rechtsmißbrauchs als unwirksam zu behandeln sein, etwa, wenn der Kündigende die Kündigungslage arglistig herbeigeführt hat (BGHZ 30, 195, 202 f.; Erman/Westermann, BGB 10. Aufl. § 723 Rdn. 19; MüKo/Ulmer, BGB 3. Aufl. § 723 Rdn. 40).
[10] Rechtsfehlerhaft gründet das Berufungsgericht aber seine Auffassung, die Kündigung vom 31. Januar 1996 sei unwirksam, im wesentlichen auf nach dem Ausspruch der Kündigung liegendes Verhalten des Beklagten. Es meint, die von ihm genannten Aktivitäten des Beklagten – vornehmlich die noch am Tage der Kündigung geführten Gespräche mit dem Kanzleipersonal, in denen er den Mitarbeitern sein Ausscheiden zum 30. Juni 1996 angekündigt und ihnen nahegelegt habe, ihrerseits zu diesem Termin zu kündigen, um in die noch zu gründende Sozietät seiner Tochter überzuwechseln, sowie die noch vor dem 30. Juni 1996 an die größeren und wichtigeren Mandanten ergangene Aufforderung, künftig die Dienste der Kanzlei seiner Tochter in Anspruch zu nehmen – machten deutlich, daß der im Kündigungsschreiben angeführte Kündigungsgrund nur vorgeschoben gewesen sei.
[11] Ob eine außerordentliche Kündigung als unzulässige Rechtsausübung anzusehen ist, läßt sich hinreichend zuverlässig nur beurteilen, wenn eine Gesamtbetrachtung angestellt wird, in die alle Umstände einbezogen werden. Dazu gehören naturgemäß in erster Linie die vor dem Ausspruch der Kündigung liegenden Geschehnisse. Nach der Kündigung liegende Ereignisse und Verhaltensweisen können zwar Hinweise auf die eigentlichen Motive und Ziele einer Kündigung geben, sie ändern aber nichts an der Vorrangigkeit des der Kündigung vorausgegangenen Sachverhalts. Deshalb durfte das Berufungsgericht nicht entscheidend auf das Verhalten des Beklagten nach Ausspruch der Kündigung abstellen. Dies gilt um so mehr, als – wovon auch das Berufungsgericht ausgeht – im Zeitpunkt der Kündigung bereits seit längerem ein tiefgreifendes Zerwürfnis zwischen den Parteien herrschte. Der einzige vom Berufungsgericht berücksichtigte Umstand, der vor der Kündigung lag, daß die Bemühungen um eine einvernehmliche Beendigung der Gesellschaft am 31. Januar 1996 noch nicht gescheitert waren, rechtfertigt nicht den Schluß, daß der Beklagte das Zerwürfnis der Parteien treuwidrig herbeigeführt hat.
[12] III. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, über die Frage der Berechtigung der Kündigung auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände erneut zu entscheiden. Dabei wird es maßgeblich darauf ankommen festzustellen, auf welche Ursachen das Zerwürfnis der Parteien zurückzuführen ist und in welchem Umfang beide zu der Zerstörung des Vertrauensverhältnisses beigetragen haben (vgl. Sen. Urt. v. 10. Juni 1996 – II ZR 102/95, NJW 1996, 2573 f.).