Bundesarbeitsgericht
Tarifauslegung: Verdienstsicherung älterer, leistungsgeminderter Arbeitnehmer

BAG, Urteil vom 10. 9. 2002 – 3 AZR 624/01 (lexetius.com/2002,3167)

[1] 1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 29. Juni 2001 – 9/2 Sa 1080/00 – insoweit aufgehoben, als es der Klage stattgegeben hat.
[2] 2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hanau vom 6. April 2000 – 2 Ca 157/99 – wird insgesamt zurückgewiesen.
[3] 3. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
[4] Tatbestand: Die Parteien streiten um die Höhe des dem gesundheitlich leistungsgeminderten Kläger zustehenden Garantielohnes.
[5] Der am 4. Januar 1945 geborene Kläger steht bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit Mai 1971 in einem Arbeitsverhältnis als Produktionsarbeiter. Kraft beiderseitiger Tarifbindung fand auf dieses Arbeitsverhältnis bis 30. Juni 1998 das "Arbeitsplatzsicherungsabkommen für die Hessische Gummiindustrie" (ASA Hessen) Anwendung, das, soweit hier von Interesse, lautete:
[6] "§ 2. Durch dieses Abkommen werden erfaßt a) die durch technologische Maßnahmen hervorgerufenen Auswirkungen, soweit sie unmittelbar oder nach Umsetzung zu einem niedriger eingruppierten Arbeitsplatz oder zum Wegfall des bisherigen Arbeitsplatzes und Ausscheiden aus dem Betrieb führen, b) Verdienstminderungen, die durch gesundheitliche oder altersmäßige Gründe bei Arbeitnehmern eintreten. …
[7] § 8. I. 1. Arbeitnehmer, bei denen die Summe aus vollendeten Lebensalters- und Betriebszugehörigkeitsjahren die Meßzahl 74 ergibt, erhalten den bisherigen Effektivverdienst garantiert, wenn sie aus gesundheitlichen oder Altersgründen a) auf einen niedriger eingestuften Arbeitsplatz umgesetzt werden müssen o d e r b) bei ihnen zwar eine Leistungsminderung eintritt, ihr Verbleiben am bisherigen Arbeitsplatz jedoch zweckmäßig und betrieblich vertretbar ist und sie eine Leistung erbringen, die ihnen entsprechend ihrer körperlichen und geistigen Verfassung zugemutet werden kann. … 3. Die nach Durchführung der Maßnahmen der Ziffer 1. eintretenden tariflichen Lohn- und Gehaltserhöhungen sind entsprechend zu berücksichtigen. …"
[8] Unter dem 9. August 1994 unterrichtete die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Kläger darüber, daß ihm ab September 1994 unter Anwendung von § 8 Abs. 1 ASA Hessen ein Stundenlohn von 24,39 DM garantiert werde. Das Schreiben lautete auszugsweise:
[9] "… für Sie treffen die Bestimmungen des § 8 des Arbeitsplatzsicherungsabkommens vom 18. 11. 1967 (in der Fassung vom 07. 07. 1978) zu. § 8, 1. lautet: 'Arbeitnehmer, bei denen die Summe aus vollendeten Lebensalters- und Betriebszugehörigkeitsjahren die Meßzahl 72 ergibt, erhalten den bisherigen Effektivverdienst garantiert, wenn sie aus gesundheitlichen oder Altersgründen a) auf einen niedriger eingestuften Arbeitsplatz umgesetzt werden müssen o d e r b) bei Ihnen zwar eine Leistungsminderung eintritt, ihr Verbleiben am bisherigen Arbeitsplatz jedoch zweckmäßig und betrieblich vertretbar ist und sie eine Leistung erbringen, die Ihnen entsprechend ihrer körperlichen und geistigen Verfassung zugemutet werden kann'. Das bedeutet für Sie, daß Ihnen ab Monat September 1994 ein Stundenlohn von DM 24, 39 auf Basis der Lohngruppe 5 ohne EG garantiert wird. …"
[10] Der Garantielohn des Klägers nahm in den Folgejahren an den Tariflohnerhöhungen teil und betrug zuletzt 25,68 DM.
[11] Am 10. Juni 1998 schlossen auf Bundesebene der Arbeitgeberverband der Deutschen Kautschukindustrie e. V. und die IG BCE das "Bündnis für Beschäftigungsförderung und Ausbildungsplätze in der deutschen Kautschukindustrie". Zu den bisherigen Arbeitsplatzsicherungsabkommen wurde bestimmt:
[12] "III. Arbeitsplatzsicherungsabkommen
[13] Die Arbeitsplatzsicherungsabkommen sind durch die Verdienstsicherungen in den §§ 9 der Manteltarifverträge für Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie durch § 6 des Manteltarifvertrages für Hamburg und Schleswig-Holstein ersetzt und treten außer Kraft."
[14] Am selben Tag erhielt der Manteltarifvertrag für die Kautschukindustrie in den Ländern Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland mit Wirkung ab dem 1. Juli 1998 eine neue Fassung (MTV 1998). Soweit hier von Interesse lauten seine Bestimmungen:
[15] "§ 9. Verdienstsicherung für ältere Beschäftigte. 1. Arbeitnehmer, die nach mindestens 23jähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit das 50. Lebensjahr vollendet haben und unverschuldet an einen anderen Arbeitsplatz mit geringeren Anforderungen umgesetzt werden müssen oder bei Ihnen zwar eine Leistungsminderung eintritt, ihr Verbleiben am bisherigen Arbeitsplatz jedoch zweckmäßig und betrieblich vertretbar ist, erhalten den bisherigen Effektivstundenverdienst der letzten abgerechneten 13 Wochen bzw. der diesem Zeitraum annähernd entsprechenden Abrechnungsperioden (ohne die Zuschläge des § 4 des Manteltarifvertrages und ohne Erschwerniszulagen, wie z. B. Schmutzzulagen) für jede künftig geleistete Arbeitsstunde gewährleistet. Für Angestellte gilt diese Regelung entsprechend. Der Arbeitnehmer darf eine seinem Leistungsvermögen entsprechende Arbeit nicht ausschlagen. …
[16] § 11. Allgemeine Lohn- und Gehaltsbestimmungen. 1. Die Löhne und Gehälter werden bezirklich in Lohn- und Gehaltstarifverträgen vereinbart. Sie sind Mindestsätze. … 4. Für die Eingruppierung der Arbeitnehmer in eine Lohn- oder Gehaltsgruppe ist die Art der Tätigkeit maßgebend. Die Gruppeneinteilung der gewerblichen Arbeitnehmer ergibt sich aus den Lohntarifverträgen; …
[17] § 18. Günstigkeitsklausel. 1. Bisher bestehende günstigere betriebliche oder im Einzelarbeitsvertrag vereinbarte Arbeitsbedingungen werden durch den Abschluß dieses Manteltarifvertrages nicht berührt. …"
[18] Die zum 1. Juli 1998 vereinbarte tarifliche Lohnerhöhung ließ die Beklagte dem Kläger wie den anderen verdienstgesicherten Arbeitnehmern nicht mehr zu Teil werden.
[19] Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihm 1994 anläßlich der Information über die für ihn beginnende Verdienstsicherung die Anwendung des ASA Hessen vertraglich zugesichert. Unabhängig davon müßten jedoch auch nach der ab 1. Juli 1998 geltenden neuen Tariflage die Garantielöhne weiterhin an den Tariflohnerhöhungen teilnehmen. Ziel der tariflichen Verdienstsicherung sei die Erhaltung von Reallohn und Lebensstandard, so daß die entsprechende Klausel im ehemaligen ASA Hessen nur deklaratorische Bedeutung gehabt habe. Nach wie vor werde die tarifliche Lohngruppe, in seinem Falle, also die Lohngruppe V, abgesichert, was nach den übrigen Regelungen des Manteltarifvertrages und der Lohn- und Gehaltsabkommen automatisch die Teilnahme an Tariflohnerhöhungen bedeute.
[20] Der Kläger hat zuletzt beantragt 1. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab 1. Januar 1999 einen Garantielohn von DM 26, 04 brutto je Arbeitsstunde zu zahlen; 2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn DM 3. 235, 40 brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
[21] Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Für sie ergibt sich aus dem Wegfall des ASA Hessen, also auch des dortigen § 8. 3, daß ab Mitte 1998 eine steigende Entgeltgarantie von den Tarifvertragsparteien nicht mehr gewollt gewesen sei. Verdienstsicherung bedeute nach dem nunmehr geltenden § 9 MTV 1998, daß älteren Arbeitnehmern trotz geminderter Leistungsfähigkeit oder Umsetzung auf einen geringerwertigen Arbeitsplatz der bisherige Lohn zu gewährleisten sei, nicht jedoch, daß er weiterhin an Lohnerhöhungen teilnehme.
[22] Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers war im wesentlichen erfolgreich. Mit der Revision strebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils an.
[23] Entscheidungsgründe: Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Auslegung des für die Verdienstsicherung des Klägers allein maßgeblichen Manteltarifvertrages in der ab 1. Juli 1998 gültigen Fassung ergibt, daß er keinen Anspruch darauf hat, mit seinem Garantielohn an der Tariflohnerhöhung 1998 teilzunehmen.
[24] I. Wie die Vorinstanzen zu Recht angenommen haben, ist dem Kläger die Anwendung des ehemals geltenden ASA Hessen nicht einzelvertraglich zugesagt worden. Ersichtlich ist das Schreiben der Arbeitgeberin vom 9. August 1994, das den Kläger vom Beginn seines Garantielohnes unterrichtete, allein auf Tarifvollzug ausgerichtet. Es enthält weder die Erklärung, künftig Garantielohnleistungen nur nach § 8 ASA Hessen in der Fassung vom 7. Juli 1978 zu erbringen noch nimmt es überhaupt zu der hier zwischen den Parteien strittigen Frage der Teilnahme an Tariflohnerhöhungen Stellung.
[25] II. Nach dem ab 1. Juli 1998 für das Arbeitsverhältnis geltenden Manteltarifvertrag kann der Kläger die Teilnahme an Tariflohnerhöhungen mit seinem Garantielohn nicht mehr verlangen.
[26] 1. Die Verdienstsicherung älterer und leistungsgeminderter Arbeitnehmer ist in § 9 MTV 1998 geregelt. Nach § 9 Abs. 1 sichert dabei der MTV 1998 den Verdienst sowohl der Arbeitnehmer, die unverschuldet an einen anderen Arbeitsplatz mit geringeren Anforderungen umgesetzt werden (Umsetzung mit tariflicher Abgruppierung), als auch der Arbeitnehmer, die zwar am bisherigen Arbeitsplatz verbleiben können, bei denen jedoch eine Leistungsminderung eintritt (Verdienstminderung bei Leistungsentlohnung) auf gleiche Art und Weise: Der bisherige Effektivstundenverdienst der – umgesetzten oder leistungsgeminderten – Arbeitnehmer, den sie durchschnittlich ohne Berücksichtigung von Zuschlägen und Erschwerniszulagen im letzten Vierteljahr erreicht hatten, wird ihnen für jede künftig geleistete Arbeitsstunde gewährleistet. Damit wird ein bestimmter, bisheriger Effektivverdienst gesichert, jedoch nicht die bisherige Eingruppierung oder der bisherige Leistungsgrad. Mit ihrem Garantielohn werden die verdienstgesicherten Arbeitnehmer auf die Bezugsgröße des bisherigen durchschnittlichen Effektivverdienstes verwiesen. Damit werden sie bei der Sicherung ihres Verdienstes teilweise aus dem System der tariflichen Lohnfindung ausgegliedert, wie es in § 11 MTV 1998 und im ebenfalls ab 1. Juli 1998 geltenden Lohn- und Gehaltstarifvertrag für die Hessische Kautschukindustrie angelegt ist. Zusätzlich zu dem gemäß den tariflichen Lohnfindungsmethoden ermittelten Verdienst erhalten die unter § 9 Abs. 1 MTV 1998 fallenden Arbeitnehmer eine Ausgleichszahlung bis zur Höhe des ihnen zugesicherten Garantielohnes. Diese Ausgleichszahlung stellt die Verdienstsicherung für ältere Arbeitnehmer dar.
[27] 2. Der tariflich abgesicherte Effektivverdienst des § 9 Abs. 1 MTV 1998 nimmt mit dem Ausgleichsbetrag nicht an Tariflohnerhöhungen teil. Die verdienstgesicherten Arbeitnehmer bleiben zwar grundsätzlich in die tarifliche Lohnfindung eingefügt, weil § 9 Abs. 1 MTV 1998 keine Ausnahme von § 11 Abs. 4 MTV 1998 und den Bestimmungen des Lohntarifvertrags enthält. Dadurch werden die Löhne nach Lohngruppen, Leistungslohnbestimmungen und Lohntabellen ermittelt, wobei sich der Mindestsatz für den einzelnen Arbeitnehmer aus der Art seiner Tätigkeit ergibt. Das bedeutet aber gerade, daß § 9 Abs. 1 MTV 1998 keine bestimmte Tarifgruppe absichert und auch keinen bestimmten Leistungsgrad im Sinne des tariflichen Leistungslohnes. Bereits nach dem Wortlaut dieser Bestimmung wird nur der "bisherige Effektivstundenverdienst", also der bisher tatsächlich gezahlte Verdienst gesichert, dh. eine Zulage auf den nach wie vor ermittelten Tariflohn, deren Höhe je nachdem schwankt, wie sich die Tariflöhne selbst entwickeln. Bei einer allgemeinen Tariflohnerhöhung steigen also auch die Tariflöhne der abgruppierten oder leistungsgeminderten Arbeitnehmer. Das führt aber nicht notwendig zu einer Erhöhung des effektiven Stundenverdienstes, sondern zunächst nur zu einer Verringerung der Ausgleichszahlung. Garantiert ist nur der durchschnittliche Effektivstundenverdienst in seinem absoluten Betrag, nicht garantiert sind die ehemaligen Berechnungsgrundlagen und auch nicht Steigerungen für die Zukunft.
[28] 3. Soll der Garantielohn als Effektivverdienstsicherung außerhalb des Systems der tariflichen Lohnfindung an Tariflohnerhöhungen teilnehmen, so bedarf es dazu entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts einer besonderen Bestimmung. Diese enthielt früher § 8 Abs. 1 Satz 3 ASA Hessen, der entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht nur deklaratorische Bedeutung hatte. § 9 MTV 1998 enthält dagegen eine entsprechende Bestimmung nicht mehr. Ziff. III des "Bündnisses für Beschäftigungsförderung und Ausbildungsplätze in der deutschen Kautschukindustrie" vom 10. Juni 1998 setzt die Arbeitsplatzsicherungsabkommen, auch das ASA Hessen, außer Kraft und "ersetzt" sie durch § 9 MTV 1998. Damit ist seit dem 1. Juli 1998 die Anspruchsgrundlage für den Kläger, mit seinem gesamten Garantielohn an Tariferhöhungen teilzunehmen, entfallen. Vielmehr muß er seither für effektive Entgeltverbesserungen darauf warten, daß sich seine tarifliche Grundvergütung so steigert, bis sie eines Tages seinen ehemaligen, aber garantierten Effektivverdienst überschreitet.
[29] 4. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wird mit diesem Auslegungsergebnis die Zwecksetzung der tariflichen Absicherung älterer und leistungsgeminderter Arbeitnehmer nicht in Frage gestellt: Verdienstsichernden Tarifbestimmungen kann nicht unabhängig von ihrem Wortlaut generell der Zweck "Absicherung des Lebensstandards" unterstellt werden. Häufig besteht das Sicherungsziel nur darin, Reallohnverluste zu mildern. Soll die Absicherung auch einen Ausgleich des Kaufkraftverlustes darstellen, so muß dies im Tarifvertrag vereinbart sein. Die dafür sprechende Tarifbestimmung des ASA Hessen ist mit dem Inkrafttreten des MTV 1998 entfallen.
[30] Dabei ist auszuschließen, daß die Tarifvertragsparteien insoweit einem Redaktionsversehen unterlegen sind. Im Berufungsrechtszug hat der Kläger selbst vortragen lassen, die gewerkschaftlichen Verhandlungspartner hätten zunächst Berechnungsbeispiele mit Tariflohnerhöhungen vorgelegt. Haben sie gleichwohl dann dem MTV 1998 zugestimmt, obwohl eine dem § 8 Abs. 1 Satz 3 ASA Hessen entsprechende Klausel in diesem fehlt, so läßt dies nur den Schluß zu, daß die Arbeitnehmervertreter bei den Tarifverhandlungen sich in dieser Frage nicht durchsetzen konnten.
[31] 5. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist auch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nicht verletzt. Der Betriebsrat hatte nicht mitzubestimmen. Die Beklagte hat nur die jeweils gültigen tariflichen Bestimmungen angewandt.