Bundesfinanzhof
DBA-Kanada 1981 Art. 19 Abs. 1 Buchst. a und b, Art. 23 Abs. 2 Buchst. a Satz 1, Abs. 3; EStG §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1
Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 enthält keine Rückfallklausel in dem Sinne, dass das Besteuerungsrecht für Einkünfte, die einem ausschließlichen Besteuerungsrecht des Quellenstaates unterfallen, bei Nichtausübung desselben an den Ansässigkeitsstaat zurückfiele (Aufgabe der Rechtsauffassung im Senatsurteil vom 5. Februar 1992 I R 158/90 (BFHE 167, 496, BStBl II 1992, 660).
BFH, Urteil vom 17. 12. 2003 – I R 14/02; FG Köln (lexetius.com/2003,3451)
[1] Gründe: I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Art. 23 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und bestimmter anderer Steuern (DBA-Kanada 1981) vom 17. Juli 1981 (BGBl II 1982, 802, BStBl I 1982, 753) als Rückfallklausel (subject-to-tax-Klausel) zu qualifizieren ist und auch dann eingreift, wenn dem Quellenstaat nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) ein ausschließliches Besteuerungsrecht zugewiesen ist.
[2] Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist kanadische und englische Staatsangehörige. Sie hatte in den Streitjahren (1996 und 1997) ihren Wohnsitz und den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen im Inland, wo sie bei der kanadischen Botschaft angestellt war. Die Bezüge aus ihrer dortigen Tätigkeit wurden in Kanada nicht besteuert. Auf Anfrage des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt – FA -) vertrat die kanadische Steuerverwaltung die Auffassung, dass eine Besteuerung der Bezüge in Deutschland zu erfolgen habe. Neben ihren vorgenannten Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit bezog die Klägerin Einkünfte aus Kapitalvermögen.
[3] In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre vertrat die Klägerin die Ansicht, die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit seien in Deutschland steuerfrei, weil nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. a DBA-Kanada 1981 das Besteuerungsrecht ausschließlich dem Kassenstaat Kanada zugewiesen sei. Die Nichtbesteuerung in Kanada lasse kein deutsches Besteuerungsrecht entstehen. Das FA folgte dieser Auffassung nicht, sondern bezog die Einkünfte unter Berufung auf Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 in die Besteuerung ein. Die Vorschrift enthalte eine Rückfallklausel, die i. V. m. Abschn. 13 des Protokolls zum DBA eine doppelte Freistellung vermeiden solle.
[4] Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 447 veröffentlicht.
[5] Dagegen wehrt sich die Klägerin mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung der Art. 19 und 23 DBA-Kanada 1981 rügt. Sie beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die streitbefangenen Einkommensteuerbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahin gehend zu ändern, dass die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit auf 0 DM festgesetzt werden.
[6] Dem ist das FA entgegengetreten und beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
[7] II. Die Revision ist teilweise begründet und im Übrigen unbegründet.
[8] Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass Deutschland hinsichtlich der streitbefangenen Einkünfte der Klägerin aufgrund Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 ein Besteuerungsrecht zusteht. Allerdings unterfallen diese Einkünfte dem Progressionsvorbehalt gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a Satz 1 Halbsatz 2 DBA-Kanada 1981.
[9] 1. Die Klägerin ist aufgrund ihres inländischen Wohnsitzes nach § 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unbeschränkt steuerpflichtig. Ihre unbeschränkte Steuerpflicht umfasst sämtliche Einkünfte i. S. des § 2 Abs. 1 EStG. Der unbeschränkten Steuerpflicht unterfallen damit auch die streitbefangenen Einkünfte sowie die Einkünfte aus Kapitalvermögen.
[10] 2. Entgegen der Auffassung des FG ist das deutsche Besteuerungsrecht für die streitbefangenen Einkünfte durch das DBA-Kanada 1981 eingeschränkt.
[11] a) Nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. a DBA-Kanada 1981 können Vergütungen, die von einem Vertragsstaat an eine natürliche Person für die diesem Staat geleisteten Dienste gezahlt werden, nur in diesem Staat besteuert werden. Dies gilt gemäß Art. 19 Abs. 1 Buchst. b DBA-Kanada 1981 bei im anderen Vertragsstaat von einer dort ansässigen Person geleisteten Diensten nur dann nicht, wenn die Person nicht Staatsangehörige des in Buchst. a genannten Vertragsstaates ist. Da die Klägerin in den Streitjahren kanadische Staatsangehörige war, steht Kanada hinsichtlich der streitbefangenen Bezüge das ausschließliche Besteuerungsrecht zu. Die Bezüge sind damit in Deutschland von der Steuer freizustellen. Die Steuerbefreiung ergibt sich allein aus Art. 19 Abs. 1 Buchst. a DBA-Kanada 1981, ohne dass insoweit auf Art. 23 Abs. 2 Buchst. a DBA-Kanada 1981 zurückzugreifen wäre. Der Ausschluss des Besteuerungsrechts des Ansässigkeitsstaates ergibt sich dann aus den Art. 6 bis 22 des einschlägigen DBA, wenn die Einkünfte danach "nur" im Quellenstaat besteuert werden können (Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerungsabkommen, Vor Art. 6 bis 22 MA Rz. 12 und Art. 19 MA Rz. 58; Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen, Vor Art. 6 bis 22 Rz. 5).
[12] b) Nichts anderes ergibt sich aus der Tatsache, dass Kanada im Streitfall tatsächlich auf sein Besteuerungsrecht verzichtet hat. Zwar regelt Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981, dass für Zwecke dieses Artikels Gewinne oder Einkünfte einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person als aus Quellen innerhalb des anderen Vertragsstaates stammend gelten, wenn sie in Übereinstimmung mit diesem Abkommen im anderen Vertragsstaat besteuert werden. Aus dieser Formulierung lässt sich aber nicht im Umkehrschluss folgern, dass im Falle der Nichtausübung des Besteuerungsrechtes durch den Quellenstaat dieses Recht an den Ansässigkeitsstaat zurückfiele.
[13] Der Senat hat zwar in seinem Urteil vom 5. Februar 1992 I R 158/90 (BFHE 167, 496, BStBl II 1992, 660; ebenso FG München, Urteil vom 11. Oktober 1995 7 K 3474/93, EFG 1996, 244) ausgeführt, dass der in Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 genannte andere Vertragsstaat nur dann als Quellenstaat anzusehen sei, wenn dort eine tatsächliche Besteuerung der streitigen Einkünfte stattfinde. Er hat die Frage nach dem Verständnis der Norm als einer sog. "subject-to-tax-Klausel" aber in seinem Urteil vom 27. August 1997 I R 127/95 (BFHE 184, 326, BStBl II 1998, 58) ausdrücklich offen gelassen.
[14] Während die Finanzverwaltung (Oberfinanzdirektion – OFD – München vom 10. Mai 1995, Recht der Internationalen Wirtschaft/Außendienst des Wirtschaftsberaters – RIW – 1995, 614; OFD Düsseldorf vom 11. Dezember 1996, Internationales Steuerrecht – IStR – 1997, 53) in Übereinstimmung mit Teilen der Literatur (Grotherr in Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, DBA-Kommentar, Art. 23 DBA-Kanada Rz. 41, 43; ders., Internationale Wirtschaftsbriefe – IWB –, Fach 3 Gr. 2 S. 689 ff.; Wacker/Seibold in Festschrift für L. Fischer, 1999, 285, S. 291; Valová/Bodenloher/Koch, IStR 2002, 405; Menck, Intertax 1982, 417, 421) Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 als Rückfallklausel auffasst, hält die Gegenauffassung (Wassermeyer, Steuerberater-Jahrbuch – StbJb – 1997/1998, S. 531 f.; FW, IStR 1998, 84; Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, a. a. O., Art. 23 DBA-Kanada Rz. 143; Hey, RIW 1997, 82, 84; Da, IStR 1994, 166, 167 f.; Vogel, Beihefter zu IStR 1997, Heft 24, S. 8 ff.) einen Umkehrschluss hinsichtlich des Regelungsgehaltes der Vorschrift für unzulässig.
[15] c) Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an; er hält an seiner in BFHE 167, 496, BStBl II 1992, 660 geäußerten Rechtsauffassung nicht länger fest.
[16] aa) Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 lässt keinen Umkehrschluss dahin gehend zu, dass das Besteuerungsrecht im Hinblick auf Einkünfte, die einem ausschließlichen Besteuerungsrecht des Quellenstaates unterfallen, bei Nichtausübung desselben an den Ansässigkeitsstaat zurückfiele. Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 regelt lediglich positiv, dass für Zwecke dieses Artikels Gewinne oder Einkünfte einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person als aus Quellen innerhalb des anderen Vertragsstaates stammend gelten, wenn sie in Übereinstimmung mit diesem Abkommen im anderen Vertragsstaat besteuert werden.
[17] bb) Für diese Auffassung spricht der Regelungszusammenhang zu Abschn. 13 Buchst. b des Protokolls. Danach gewährt Deutschland für Einkünfte, die in den Vertragsstaaten unterschiedlich qualifiziert oder zugerechnet wurden, und im Falle, dass sich dieser Unterschied nicht durch ein Verständigungsverfahren beseitigen lässt, statt der Steuerbefreiung nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. a DBA-Kanada 1981 eine Steueranrechnung nach Buchst. b der Vorschrift, wenn die Einkünfte in Kanada nicht oder ermäßigt besteuert und gleichzeitig von der deutschen Steuer befreit werden. Abschn. 13 Buchst. b des Zusatzprotokolls enthält seinem Wortlaut nach eine Rückfallklausel zur Behebung eines Qualifikationskonfliktes, während Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 nach dem zuvor Gesagten im Vorfeld einer Rückfallklausel anzusiedeln ist (Wassermeyer, a. a. O.; FW, IStR 1998, 84 f.). Für diese Auslegung spricht auch der Umstand, dass sie die Anwendungsbereiche des Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 und des Abschn. 13 Buchst. b des Protokolls sinnvoll voneinander abgrenzt, während ansonsten die letztgenannte Vorschrift leer laufen würde (Wassermeyer, StbJb 1997/1998, S. 531, 532, und Hey, RIW 1997, 82, 84, jeweils zum DBA-USA 1989; FW, IStR 1998, 84 f.). Es kommt das natürliche Interesse der Vertragsstaaten daran hinzu, dass der Verzicht auf die Besteuerung der aus dem eigenen Staat stammenden Einkünfte dem Steuerpflichtigen selbst und nicht dem jeweils anderen Staat zugute kommen soll.
[18] cc) Dagegen lässt sich nicht anführen, dass Art. 23 Abs. 3 DBA-Kanada 1981 generell eine "Keinmalbesteuerung" vermeiden solle. Zwar wird dieser Gedanke auch in der Denkschrift zum DBA-Kanada 1981 (BTDrucks 9/1620, S. 43) geäußert. Es ist allerdings schon fraglich, ob die Norm nicht lediglich – wie dies ebenfalls in der Denkschrift (a. a. O.) zum Ausdruck kommt – eine Regelung im Zusammenhang mit den im DBA geregelten Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung darstellt (so Da, IStR 1994, 166, 168). Entscheidend ist aber, dass der Zweck der Vermeidung einer Keinmalbesteuerung im Wortlaut der Norm nicht hinreichend zum Ausdruck kommt.
[19] 3. Sind nach den vorgenannten Ausführungen die streitbefangenen Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. a DBA-Kanada in Deutschland von der Steuer zu befreien, so heißt das nicht, dass die entsprechenden Einkünfte nicht gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a Satz 1 Halbsatz 2 DBA-Kanada 1981 in den Progressionsvorbehalt einbezogen werden können (so aber Grotherr, a. a. O., Art. 23 DBA-Kanada Rz. 14). Die Klägerin hat neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit unstreitig in den Streitjahren auch Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt. Zwar ist es richtig, dass die in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a DBA-Kanada 1981 geregelte Steuerbefreiung im Streitfall keine Anwendung findet, weil sie sich schon aus Art. 19 DBA-Kanada 1981 ergibt. Indes hat der Senat in seinen Urteilen vom 19. Dezember 2001 I R 63/00 (BFHE 197, 495) und vom 15. Mai 2002 I R 40/01 (BFHE 199, 224, BStBl II 2002, 660) entschieden, dass der Regelung des Progressionsvorbehaltes in dem Methodenartikel der DBA nur deklaratorische Bedeutung zukommt. An dieser Rechtsauffassung hält er fest. Danach dürfen die Vertragsstaaten die ihnen uneingeschränkt zur Besteuerung zugewiesenen Einkünfte jeweils unter Anwendung eines Progressionsvorbehaltes besteuern, sofern nur das eigene innerstaatliche Recht dies zulässt und das DBA dies nicht verbietet. Aus der Steuerbefreiung von Einkünften durch ein DBA folgt indes nicht, dass die steuerfreien Einkünfte nicht bei der Ermittlung des Steuersatzeinkommens berücksichtigt werden dürften. Abweichendes ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 23 Abs. 2 Buchst. a Satz 1 Halbsatz 2 DBA-Kanada 1981. Denn Einkünfte können auch dann "in Kanada besteuert werden", wenn Kanada nach den Art. 6 bis 22 des Abkommens das ausschließliche Besteuerungsrecht zusteht (Wassermeyer, a. a. O., Art. 23 DBA-Kanada Rz. 62); die Anwendung eines Progressionsvorbehaltes verstößt schließlich nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip (anderer Ansicht: Achter, IStR 2003, 203, 204).
[20] 4. Da das Urteil der Vorinstanz von der Rechtsauffassung des Senats abweicht, war es aufzuheben. Gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wird das FA verpflichtet, die jeweils festzusetzenden Steuerbeträge nach Maßgabe der Entscheidungsgründe zu errechnen und der Klägerin mitzuteilen.