Bundesarbeitsgericht
Rufbereitschaft – tarifliche Verpflegungspauschale
BAG, Urteil vom 22. 1. 2004 – 6 AZR 543/02 (lexetius.com/2004,919)
[1] 1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. Juli 2002 – 8 Sa 846/01 – wird zurückgewiesen.
[2] 2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
[3] Tatbestand: Die Parteien streiten über eine tarifliche Verpflegungspauschale.
[4] Der Kläger ist bei der Beklagten im Netzbezirk S im Bereich Oberleitung beschäftigt. Kraft beiderseitiger Tarifbindung finden auf das Arbeitsverhältnis die Bestimmungen des Zulagentarifvertrags für die Arbeitnehmerin/den Arbeitnehmer der DB AG (ZTV) vom 1. Juli 1995 Anwendung. Im ZTV in der ab dem 1. Juni 1999 gültigen Fassung heißt es:
[5] "§ 18. Rufbereitschaftszulage. (1) Beginn und Ende der Rufbereitschaft sind nach betrieblichen Belangen festzusetzen. (2) Der Arbeitnehmer erhält für Rufbereitschaft eine Rufbereitschaftszulage in Höhe von 3,20 DM je Stunde. …
[6] § 20. Einsatzwechseltätigkeit. (1) Der Arbeitnehmer, der an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt wird (Einsatzwechseltätigkeit, z. B. Gleisbauarbeiter, Bau-, Montagearbeiter), erhält eine Verpflegungspauschale. (2) Für die Höhe der Verpflegungspauschale ist allein die Dauer der beruflich bedingten Abwesenheit von der Wohnung am jeweiligen Kalendertag maßgebend. Ist der Arbeitnehmer an einem Kalendertag mehrmals auswärts eingesetzt, sind die Abwesenheitszeiten an diesem Kalendertag zusammenzurechnen. … (3) Die Pauschale für Verpflegungsmehraufwand beträgt für jeden Kalendertag a) bei einer Abwesenheit von weniger als 14 Stunden, aber mindestens 8 Stunden: 8,00 DM, b) bei einer Abwesenheit von weniger als 24 Stunden, aber mindestens 14 Stunden: 12,00 DM, c) bei einer Abwesenheit von 24 Stunden: 19,00 DM. …"
[7] Ab dem 1. November 2000 betrug die in § 18 Abs. 2 ZTV geregelte Rufbereitschaftszulage 3,26 DM/1,67 Euro je Stunde.
[8] Die Beklagte setzt den Kläger an wechselnden Streckenabschnitten ein. Seine Tätigkeit beginnt und endet auf dem Betriebsgelände in S. Dorthin benötigt der Kläger von seinem Wohnort H aus etwa 75 Minuten. Zur Beseitigung außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit auftretender Störungen an Oberleitungen ordnet die Beklagte Rufbereitschaft an. Zu dieser teilt sie den Kläger im Wechsel mit anderen Beschäftigten in der Regel monatlich einmal für jeweils eine Woche ein. In der Rufbereitschaft muss der Kläger innerhalb von 45 Minuten nach Abruf am Einsatzort eintreffen. Um diese Zeitvorgabe einhalten zu können, nutzt er während der Rufbereitschaft ebenso wie andere Beschäftigte in vergleichbarer Lage eine von der Beklagten in S kostenlos zur Verfügung gestellte Unterkunft.
[9] Für die Rufbereitschaft zahlt die Beklagte die Rufbereitschaftszulage nach § 18 Abs. 2 ZTV. Die tarifliche Verpflegungspauschale erhalten die Arbeitnehmer in Rufbereitschaft nur bei tatsächlichen Arbeitseinsätzen mit den in § 20 Abs. 3 ZTV festgelegten Abwesenheitszeiten.
[10] Der Kläger hat gemeint, ihm stehe die tarifliche Verpflegungspauschale für die gesamte Zeit der Rufbereitschaft zu. Maßgeblich sei die Dauer der beruflich bedingten Abwesenheit von seiner Wohnung in H.
[11] Der Kläger hat beantragt, 1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn restlichen Verpflegungsmehraufwand für die Monate Juli 2000 bis Februar 2001 in Höhe von 375,29 Euro (734,00 DM) nebst Zinsen in Höhe von 5 % über den Basiszinssatz gem. § 1 DÜG seit 11. Mai 2001 zu zahlen, 2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn restlichen Verpflegungsmehraufwand für die Monate März und April 2001 in Höhe von 125,27 Euro (245,00 DM) nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz gem. § 1 DÜG seit 14. August 2001 zu zahlen, 3. die Beklagte zu verurteilen, an ihn restlichen Verpflegungsmehraufwand für die Monate Mai bis August 2001 in Höhe von 254,11 Euro (497,00 DM) nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz gem. § 1 DÜG seit 9. Oktober 2001 zu zahlen.
[12] Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
[13] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
[14] Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.
[15] Entscheidungsgründe: Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
[16] I. Die für den Kläger im Anspruchszeitraum angeordnete Rufbereitschaft war Einsatzwechseltätigkeit iSv. § 20 Abs. 1 ZTV, soweit er während dieser abgerufen und zur Arbeitsleistung herangezogen wurde. Seinen Anspruch auf die tarifliche Verpflegungspauschale für die Dauer dieser Einsätze bei Erreichen der in § 20 Abs. 3 ZTV bestimmten Abwesenheitszeiten hat die Beklagte unstreitig erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).
[17] II. Der Kläger hat nach § 20 Abs. 1 ZTV keinen weitergehenden Anspruch auf die tarifliche Verpflegungspauschale. Rufbereitschaft ohne eine Heranziehung zur Arbeitsleistung ist keine Einsatzwechseltätigkeit iSd. Tarifvorschrift. Ob es für die Berechnung des Verpflegungsmehraufwandes bei Einsatzwechseltätigkeit auf die Abwesenheitsdauer von der Wohnung am Ort des Lebensmittelpunktes oder von der am Ort der Beschäftigung ankommt (vgl. BFH 7. Mai 2001 – VI B 238/00 -), ist entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht entscheidungserheblich.
[18] 1. Nach § 20 Abs. 1 ZTV erhält der Arbeitnehmer, der an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt wird (Einsatzwechseltätigkeit, zB Gleisbauarbeiter, Bau-, Montagearbeiter), eine Verpflegungspauschale. Die Vorschrift regelt damit den Anspruch auf die Verpflegungspauschale dem Grunde nach. Anspruchsbegründende Voraussetzung ist die Heranziehung zur Arbeitsleistung.
[19] a) Das folgt aus dem Wortlaut der Bestimmung, auf den es für die Tarifauslegung zunächst ankommt (st. Rspr., BAG 11. Dezember 2003 – 6 AZR 539/02 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu I 4 a der Gründe; 27. Juni 2002 – 6 AZR 209/01 – AP BAT § 29 Nr. 18, zu A II 2 a der Gründe; 27. Juni 2002 – 6 AZR 378/01 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 18, zu A IV 1 der Gründe). Für den Begriff "Einsatzwechseltätigkeit" in der Tarifvorschrift ist konstituierend, dass der Arbeitnehmer an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten arbeitet. Die Formulierung "eingesetzt wird" stellt auf einen tatsächlichen Arbeitseinsatz ab, der nach dem weiteren Wortlaut der Tarifvorschrift an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten erfolgen muss. Diese Voraussetzung ist während der Rufbereitschaft nur bei einer Heranziehung zur Arbeitsleistung nach Abruf erfüllt. Ein Wille der Tarifvertragsparteien, nach dem allein die Abwesenheit von der Wohnung auch ohne Ausübung einer Einsatzwechseltätigkeit den Anspruch auf die Pauschale für Verpflegungsmehraufwand begründen soll, hat in der Tarifbestimmung keinen Niederschlag gefunden.
[20] b) Auch Sinn und Zweck der tariflichen Regelung sprechen für dieses Verständnis. Die Ausgestaltung der tariflichen Verpflegungspauschale in § 20 ZTV orientiert sich an der Privilegierung der Mehraufwendungen für die Verpflegung im Steuerrecht. Der Begriff der "ständig wechselnden Tätigkeitsstätten" in § 20 Abs. 1 ZTV und in § 4 Abs. 5 Nr. 5 Satz 3 EStG grenzt den Arbeitsbereich eines Arbeitnehmers von dem eines Arbeitnehmers ab, der eine regelmäßige Arbeitsstätte und damit einen Mittelpunkt der Tätigkeit hat (BAG 30. Januar 2002 – 10 AZR 441/01 –, zu II 1 c dd der Gründe; BFH 11. Juli 1980 – VI R 198/77 – BFHE 131, 64, 66). Tarifliche Pauschalen für Verpflegungsmehraufwand bezwecken ebenso wie die steuerrechtliche Privilegierung der Mehraufwendungen für die Verpflegung den Ausgleich von Nachteilen, die daraus entstehen, dass der Arbeitnehmer sich nicht darauf einrichten kann, längere Zeit an einem Ort zu bleiben und von dort aus seine Verpflegung zu organisieren. Bei Einsatzwechseltätigkeit ist es ihm nicht oder schlechter möglich, Lebensmittelvorräte zu halten, um sich so preiswert selbst zu verpflegen, zB regelmäßig zu kochen (BAG 30. Januar 2002 – 10 AZR 441/01 –, zu II 1 d der Gründe). Solche Mehraufwendungen fallen jedoch typischerweise nur an, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich an ständig wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt wird. In seiner Freizeit kann sich ein solcher Arbeitnehmer ebenso verpflegen wie ein Arbeitnehmer mit gleichbleibender Arbeitsstätte.
[21] c) Dieses Auslegungsergebnis steht zudem im Einklang mit dem tariflichen Gesamtzusammenhang. Die Tarifvertragsparteien haben in § 20 Abs. 2 Unterabs. 1 ZTV die Berechnung der Abwesenheitszeiten für die in § 20 Abs. 3 ZTV festgesetzten Pauschalen geregelt und bestimmt, dass für die Höhe der Verpflegungspauschale allein die Dauer der beruflich bedingten Abwesenheit von der Wohnung am jeweiligen Kalendertag maßgebend ist. In § 20 Abs. 2 Unterabs. 2 ZTV haben sie angeordnet, dass die Abwesenheitszeiten zusammenzurechnen sind, wenn der Arbeitnehmer an einem Kalendertag mehrmals auswärts eingesetzt ist. Die Pauschalen für den Verpflegungsmehraufwand haben sie in § 20 Abs. 3 ZTV in Anlehnung an § 4 Abs. 5 Nr. 5 Satz 2 und Satz 3 EStG nach der Abwesenheitsdauer gestaffelt. Damit haben die Tarifvertragsparteien die Verpflegungspauschale der Höhe nach geregelt. Sie haben dabei vorausgesetzt, dass ein Anspruch auf die Verpflegungszulage nach § 20 Abs. 1 ZTV dem Grunde nach besteht. Die Dauer der beruflich bedingten Abwesenheit von der Wohnung ist nach der Systematik der tariflichen Regelung nur für die Höhe der Pauschale für den Verpflegungsmehraufwand maßgebend. Ohne die Ausübung von Einsatzwechseltätigkeit begründet die beruflich bedingte Abwesenheit von der Wohnung für sich gesehen keinen Anspruch auf die tarifliche Verpflegungspauschale.
[22] 2. Die von der Beklagten im Anspruchszeitraum nach § 18 Abs. 1 ZTV festgesetzte Rufbereitschaft erfüllt nicht die Voraussetzungen der Einsatzwechseltätigkeit iSv. § 20 Abs. 1 ZTV, soweit der Kläger nicht zur Leistung von Arbeit abgerufen wurde. Rufbereitschaft ohne Heranziehung zur Arbeitsleistung ist der Freizeit des Klägers zuzuordnen und damit keine Einsatzwechseltätigkeit.
[23] a) Die Beklagte hat den Kläger außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zur Rufbereitschaft eingeteilt. Bei der Rufbereitschaft bestimmt der Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort. Die Rufbereitschaft soll es dem Arbeitgeber ermöglichen, den Arbeitnehmer auch außerhalb der Arbeitszeit bei Bedarf zur Arbeitsleistung zu verpflichten (BAG 29. Juni 2000 – 6 AZR 900/98 – BAGE 95, 210, 213). Sie verlängert nicht die regelmäßige Arbeitszeit (BAG 9. Oktober 2003 – 6 AZR 447/02 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu I 4 b bb der Gründe). Der Arbeitnehmer erbringt während der Rufbereitschaft nicht die nach dem Arbeitsvertrag geschuldete, sondern eine andere, zusätzliche Leistung (BAG 24. Oktober 2000 – 9 AZR 634/99 – AP BUrlG § 11 Nr. 50 = EzA BUrlG § 11 Nr. 48, zu II 2 b der Gründe). Diese besteht darin, seinen Aufenthaltsort dem Arbeitgeber anzuzeigen und so zu wählen, dass er auf Abruf die Arbeit aufnehmen kann und darüber hinaus dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft über das vertraglich vereinbarte hinaus zur Verfügung zu stellen (BAG 31. Januar 2002 – 6 AZR 214/00 – ZTR 2002, 432, zu B I 2 der Gründe; 29. Juni 2000 – 6 AZR 900/98 – BAGE 95, 210, 214, 215). Diese Bindung des Arbeitnehmers betrifft seine Freizeit (BAG 9. Oktober 2003 – 6 AZR 447/02 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu I 2 b der Gründe). Die Vergütung der Zeit der Rufbereitschaft mit der in § 18 Abs. 2 ZTV geregelten Rufbereitschaftszulage dient dem Ausgleich des Eingriffs in die Freizeitgestaltung.
[24] b) Die von der Beklagten im Anspruchszeitraum angeordnete Rufbereitschaft wird dem gerecht. Der Kläger war nicht verpflichtet, während der Rufbereitschaft in der ihm von der Beklagten in S kostenlos zur Verfügung gestellten Unterkunft zu wohnen. Er musste sich nicht an einer von der Beklagten bestimmten Stelle aufhalten, sondern konnte seinen Aufenthaltsort ebenso wie die in S oder der näheren Umgebung wohnenden anderen Beschäftigten während der Rufbereitschaft selbst bestimmen.
[25] c) Entgegen der Auffassung des Klägers führt die einzuhaltende Zeitvorgabe von 45 Minuten nicht dazu, dass Arbeitsbereitschaft vorliegt. Bei der Arbeitsbereitschaft bestimmt nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber den Aufenthaltsort. Arbeitsbereitschaft kann allerdings auch dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer, ohne dessen Aufenthaltsstelle konkret festzulegen, dadurch in der freien Wahl des Aufenthaltsortes beschränkt, dass er die Zeit zwischen Abruf und Aufnahme der Arbeit eng bestimmt und dem Arbeitnehmer dadurch die Gestaltung seiner an sich arbeitsfreien Zeit faktisch entzieht (BAG 19. Dezember 1991 – 6 AZR 592/89 – AP BMT-G II § 67 Nr. 1 = EzA BGB § 611 Arbeitsbereitschaft Nr. 1, zu II 1 der Gründe). Daran fehlt es. Der Kläger musste zwar innerhalb von 45 Minuten nach Abruf am Einsatzort eintreffen. Damit hat die Beklagte den Aufenthaltsort des Klägers jedoch noch nicht bindend durch den Faktor Zeit festgelegt. Der Kläger konnte ebenso wie die in S oder der näheren Umgebung wohnenden anderen zur Rufbereitschaft eingeteilten Beschäftigten in und außerhalb der ihm von der Beklagten in S kostenlos zur Verfügung gestellten Unterkunft seine Freizeit gestalten. Ohne Bedeutung ist, dass er sich während der Rufbereitschaft nicht in seiner Wohnung in H aufhalten konnte. Diese Aufenthaltsbeschränkung beruht nicht auf einer Aufenthaltsbestimmung der Beklagten, sondern darauf, dass der Kläger sich nicht in einer Entfernung vom Arbeitsort aufhalten konnte, die dem Zweck der Rufbereitschaft zuwiderlief (BAG 19. Dezember 1991 – 6 AZR 592/89 – AP BMT-G II § 67 Nr. 1 = EzA BGB § 611 Arbeitsbereitschaft Nr. 1, zu II 2 der Gründe).