Bundesarbeitsgericht
Wahl einer Schwerbehindertenvertretung
BAG, Beschluss vom 7. 4. 2004 – 7 ABR 42/03 (lexetius.com/2004,949)
[1] Die Rechtsbeschwerde der Schwerbehindertenvertretung gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 10. April 2003 – 21 TaBV 4/02 – wird zurückgewiesen.
[2] Gründe: A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer am 6. Februar 2002 durchgeführten Wahl der Schwerbehindertenvertretung.
[3] Der antragstellende Arbeitgeber ist Inhaber einer Vielzahl von Drogeriemärkten. Im Jahr 1995 vereinbarte er mit der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen einen Zuordnungstarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG in der bis zum 27. Juli 2001 geltenden Fassung. Danach wurden Verkaufsstellen und Filialen Regionen zugeordnet. Die Arbeitnehmer der in der jeweiligen Region liegenden Verkaufsstellen oder Filialen wählten danach jeweils einen Betriebsrat.
[4] Nach diesem Zuordnungstarifvertrag wurde ua. eine Region H/K gebildet, der Verkaufsstellen angehören, die bis zu 60 Kilometer von einander entfernt liegen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln beträgt die Wegezeit von einzelnen Verkaufsstellen zum Betriebsratsbüro in H mehr als 1, 5 Stunden zuzüglich Fußweg.
[5] In dem Betrieb der Region H/K war ein Betriebsrat, aber bisher keine Schwerbehindertenvertretung gewählt worden. Nach einer dem Betriebsrat der Region vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Liste vom Dezember 2001 wurden in den Verkaufsstellen des Betriebs sieben Wahlberechtigte beschäftigt. Diese wählten auf einer Zusammenkunft am 6. Februar 2002 im Wege des vereinfachten Wahlverfahrens nach § 18 Wahlordnung Schwerbehindertenvertretung (SchwbVWO) Frau R zur Vertrauensperson (Schwerbehindertenvertretung – SBV) und Frau B als Stellvertreterin. Das wurde dem Arbeitgeber am Samstag, dem 9. Februar 2002 bekannt gemacht.
[6] Mit einem am Montag, dem 25. Februar 2002 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antrag hat der zu 1) beteiligte Arbeitgeber die Unwirksamkeit der am 6. Februar 2002 durchgeführten Wahl der zu 2) beteiligten Schwerbehindertenvertretung geltend gemacht. Er hat sie für nichtig, wenigstens jedoch für anfechtbar gehalten. Er hat in der Antragsschrift Verletzung des § 94 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX gerügt und "bestritten", dass überhaupt ein Wahlvorstand bestellt, eine Wählerliste errichtet, ein Wahlausschreiben erlassen, eine ordnungsgemäße Stimmabgabe erfolgt und das Wahlergebnis zutreffend festgestellt worden sei. Später hat er geltend gemacht, die Wahl hätte nicht im vereinfachten Wahlverfahren durchgeführt werden dürfen, weil der Betrieb aus räumlich weit auseinander liegenden Teilen bestehe.
[7] Der Arbeitgeber hat beantragt festzustellen, dass die Wahl zur Schwerbehindertenvertretung vom 6. Februar 2002 unwirksam ist.
[8] Die Schwerbehindertenvertretung hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen.
[9] Das Arbeitsgericht hat dem Antrag des Arbeitgebers stattgegeben. In den Gründen hat es ausgeführt, die Wahl sei wirksam angefochten, weil die Wahl nicht im vereinfachten Wahlverfahren hätte durchgeführt werden dürfen. Ob darüber hinaus gegen weitere wesentliche Vorschriften des Wahlverfahrens verstoßen worden sei, könne dahingestellt bleiben. Zum Nichtigkeitsantrag des Arbeitgebers hat das Arbeitsgericht keine Ausführungen gemacht.
[10] Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde der Schwerbehindertenvertretung zurückgewiesen. Mit der für die Schwerbehindertenvertretung zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt diese ihren Zurückweisungsantrag weiter. Der Arbeitgeber beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
[11] B. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Die Wahl der Schwerbehindertenvertretung im vereinfachten Wahlverfahren nach § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX iVm. § 18 SchwbVWO war auf den Wahlanfechtungsantrag des Arbeitgebers nach § 19 Abs. 1 BetrVG iVm. § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB IX für unwirksam zu erklären. Die Wahl durfte nicht im vereinfachten Verfahren nach § 18 SchwbVWO durchgeführt werden, weil der Betrieb der Region H/K aus räumlich weit (er) auseinander liegenden Teilen besteht. Damit würde gegen eine wesentliche Vorschrift des Wahlverfahrens verstoßen. Durch die Wahl im nicht statthaften Wahlverfahren könnte das Wahlergebnis beeinflusst worden sein.
[12] I. Der statthafte Antrag des Arbeitgebers ist form- und fristgerecht eingereicht und daher nach § 19 Abs. 1 BetrVG zulässig. Er enthält entgegen der in den Vorinstanzen vertretenen Auffassung der Schwerbehindertenvertretung Begründungen, die die Anfechtung tragen könnten. Das gilt wenigstens für die Ausführungen zu § 94 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX. Auf die insoweit fehlende Erheblichkeit des Vorbringens kommt es nicht an. Auch das "Bestreiten" einer ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl genügt den inhaltlichen Anforderungen an den fristgebundenen Antrag nach § 19 Abs. 1 BetrVG, wenn der Arbeitgeber über die Wahl und ihren Ablauf – wie im Streitfall – keine Kenntnis erlangt hat. Hat der Arbeitgeber innerhalb der Anfechtungsfrist betriebsverfassungsrechtlich erhebliche Gründe vorgetragen, so ist er nicht gehindert, später weitere Anfechtungsgründe geltend zu machen, die vom Arbeitsgericht im Rahmen der Offizialmaxime zu überprüfen sind.
[13] II. Der Antrag, die Wahl für unwirksam zu erklären, ist begründet. Die Wahl der Beteiligten zu 2) vom 6. Februar 2002 ist anfechtbar, weil gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren verstoßen worden ist und dadurch das Wahlergebnis beeinflusst werden konnte, § 19 Abs. 1 BetrVG. Da die Vorinstanzen nicht zugleich entschieden haben, dass die Wahl nichtig sei und insoweit vom Arbeitgeber bereits das Rechtsmittel der Beschwerde nicht eingelegt worden ist und das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde zugunsten des Arbeitgebers nicht zugelassen worden ist, hatte der Senat keine Entscheidung zur Nichtigkeit der Wahl zu treffen.
[14] 1. Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die unbestimmten Rechtsbegriffe der "nicht aus räumlich weit (er) auseinander liegenden Teilen" in § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX und in § 18 SchwbVWO nicht durch die Festlegung einer bestimmten Entfernung in Kilometern (zB über 20 Kilometer) näher zu bestimmen sind. Auch die Festsetzung einer festen Zeitspanne, innerhalb derer Mitarbeiter aus dem einen Betriebsteil einen anderen Betriebsteil erreichen können, ist zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs ungeeignet. Vielmehr ist der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls auszufüllen.
[15] 2. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX und in § 18 SchwbVWO nicht auf die Erkenntnisse zu § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG zurückgegriffen, sondern eine eigenständige Auslegung vorgenommen. Das gebietet nicht nur der gegenüber § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BetrVG abweichende Wortlaut, sondern auch der unterschiedliche Zweck der Vorschriften. § 4 BetrVG dient dazu, nicht betriebsratsfähige Betriebsteile von den betriebsratsfähigen Betriebsteilen abzugrenzen und damit die Wahleinheit festzulegen, für die ein, zwei oder mehrere Betriebsräte gewählt werden können. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der räumlich weiten Entfernung in § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG geht es also um die Bewertung, wer für die Mitarbeiter eines Betriebsteils für die Dauer einer Amtszeit betriebsverfassungsrechtlich und schwerbehindertenrechtlich zuständig ist. § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX und § 18 SchwbVWO dienen dagegen der Feststellung, ob in einem Betrieb wegen der überschaubaren Anzahl der Wahlberechtigten sowie der Lage des Betriebs und seiner Teile auf das förmliche Wahlverfahren mit der Bestellung eines Wahlvorstands nach § 2 SchwbVWO, der Aufstellung einer Wählerliste nach § 3 SchwbVWO, dem Erlass eines Wahlausschreibens nach § 5 SchwbVWO, der Einreichung von schriftlichen Wahlvorschlägen nach § 6 SchwbVWO ua. verzichtet werden kann und statt dessen die Wahl vereinfacht in einer Wahlversammlung nach den §§ 19, 20 SchwbVWO durchgeführt werden kann. Bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX und in § 18 SchwbVWO geht es daher um die Bewertung, ob es angesichts des Auseinanderfallens der Betriebsgemeinschaft gewährleistet ist, dass die Wahlberechtigten die ansonsten im förmlichen Wahlverfahren vermittelten Kenntnisse über die Wahlbewerber erlangen können und die Verständigung der Wahlberechtigten über Art und Inhalt der Wahl trotz der gegenüber dem förmlichen Wahlverfahren erheblich kürzeren Vorbereitungszeit möglich ist.
[16] 3. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht ferner erkannt, dass es bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe im SGB IX und in der SchwbVWO nicht darauf ankommt, ob die Mehrheit der wahlberechtigten schwerbehinderten Mitarbeiter in Betriebsteilen beschäftigt wird, die räumlich nah zum Sitz des Betriebsrats gelegen sind. Die Bestimmungen von § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX und des § 18 SchwbVWO stellen nicht auf die räumlich weit entfernte Beschäftigung der Wahlberechtigten ab, sondern auf die Lage der Betriebsteile eines aus zwei oder mehr Teilen bestehenden Betriebs. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde enthält die von ihr angezogene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (27. September 2000 – 1 A 1541/99. PVB – Behindertenrecht 2001, 147) insoweit keine abweichende Aussage. Das Oberverwaltungsgericht hat vielmehr gemeint, das vereinfachte Wahlverfahren sei möglich, wenn in einer Dienststelle weniger als die Hälfte der Schwerbehinderten beschäftigt werden, die von der Wahlordnung als Obergrenze für die Anwendung des vereinfachten Verfahrens vorgesehen sind, und wenn von 21 Wahlberechtigten lediglich drei in Dienststellen außerhalb des Wahlortes beschäftigt sind. Damit ist eine andere Rechtsfrage als im Streitfall beantwortet. Im Übrigen hat der erkennende Senat Zweifel, ob die Berücksichtigung der vom Oberverwaltungsgericht angeführten Tatsachen bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs in § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX bzw. § 18 SchwbVWO zutreffend ist. Er lässt das jedoch mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt.
[17] 4. Hieran gemessen hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen, dass die Wahl der Schwerbehindertenvertretung im Betrieb H/K des Arbeitgebers nicht im vereinfachten Wahlverfahren durchgeführt werden konnte. Die Entfernung der Verkaufsstellen von bis zu 60 Kilometern untereinander und die zeitaufwendige persönliche Kontaktaufnahme der in den verschiedenen Verkaufsstellen beschäftigten Wahlberechtigten sowie die dadurch bedingte erschwerte Information der Wahlberechtigten über diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die für die Aufgabe einer Schwerbehindertenvertretung bereit und geeignet sind, führt zu der Feststellung, dass die Voraussetzungen des SGB IX und seiner Wahlordnung für die Durchführung einer Wahl im vereinfachten Verfahren nicht gegeben waren. Vielmehr liegen die verschiedenen Betriebsteile des Betriebs der Region H/K weit auseinander iSd. § 94 Abs. 6 Satz 3 SGB IX und des § 18 SchwbVWO.
[18] Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde haben die Vorinstanzen zu Recht außer Acht gelassen, Arbeitgeber und zuständige Gewerkschaft hätten durch einen Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG in der bis zum 27. Juli 2001 geltenden Fassung bestimmt, dass die Verkaufsstellen im Bezirk einen Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes bilden. § 3 BetrVG in seiner damaligen Fassung betraf Abweichungen von § 4 BetrVG in der damaligen Fassung. Die dem Tarifvertrag zugrunde liegenden Wertungen, einzelne nicht betriebsratsfähige Verkaufsstellen zu einer betriebsratsfähigen Einheit zusammenzufassen, beruhen auf gänzlich anderen Überlegungen als die Vorstellungen des Gesetz- und Verordnungsgebers über die Möglichkeit einer vereinfachten Wahl der Schwerbehindertenvertretung in einem auf diese Weise geschaffenen Betrieb.
[19] 5. Wird eine Wahl im vereinfachten Verfahren anstelle einer Wahl im förmlichen Verfahren durchgeführt, liegt ein Verstoß gegen eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren vor, § 19 Abs. 1 BetrVG. In diesem Fall ist regelmäßig davon auszugehen, dass das Wahlergebnis beeinflusst werden konnte, § 19 Abs. 1 BetrVG. So verhält es sich auch im vorliegenden Fall, wie das Landesarbeitsgericht von den Beteiligten ungerügt festgestellt hat.