Bundesfinanzhof
AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1; FGO § 96 Abs. 1, § 56
Bestreitet ein Steuerberater, den Steuerbescheid eines Mandanten erhalten zu haben, ist die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 auch dann widerlegt, wenn er kein Fristenkontrollbuch führt, sofern nicht weitere Indizien für den Zugang des Bescheides sprechen.

BFH, Urteil vom 31. 5. 2005 – I R 103/04; FG Düsseldorf (lexetius.com/2005,1599)

[1] Gründe: I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, gab für das Streitjahr 1998 keine Steuererklärungen ab. Daraufhin schätzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt – FA -) die Besteuerungsgrundlagen. Den Einspruch gegen den Körperschaftsteuerbescheid wies das FA am 6. Februar 2001 als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde am 6. Februar 2001 mit einfachem an die Geschäftsanschrift des Prozessbevollmächtigten adressierten Brief zur Post gegeben.
[2] Mit Bescheid vom 6. Juni 2001 wies das FA auch den Einspruch gegen den Bescheid über das verwendbare Eigenkapital (vEK) zum 31. Dezember 1998 als unbegründet zurück. Am 7. Juni 2001 gingen beim FA die Steuererklärungen für 1998 ein. Der Prozessbevollmächtigte erklärte, die Einspruchsentscheidung vom 6. Februar 2001 nicht erhalten zu haben. Den Eingang der Körperschaftsteuererklärung 1998 wertete das FA als Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung. Nachdem es den Prozessbevollmächtigten vergeblich aufgefordert hatte, das Posteingangsbuch und das Fristenkontrollbuch im Original vorzulegen, lehnte das FA den Antrag mit Bescheid vom 1. März 2002 unter Hinweis auf die seiner Auffassung nach bestandskräftige Einspruchsentscheidung vom 6. Februar 2001 ab.
[3] Mit dem gegen diese Ablehnung gerichteten Einspruch machte der Prozessbevollmächtigte erneut geltend, die Einspruchsentscheidung vom 6. Februar 2001 sei bei ihm nicht eingegangen. Anstelle eines Fristenkontrollbuchs werde in seiner Praxis eine Fristenmappe geführt, wodurch die Überwachung von Terminen gewährleistet werde, allerdings auch nur dann, wenn die Schriftstücke ihm tatsächlich zugegangen seien.
[4] Mit Einspruchsentscheidung vom 18. April 2002 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Die dagegen erhobene Klage war erfolgreich. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 85 veröffentlicht.
[5] Mit seiner Revision macht das FA eine Verletzung materiellen Rechts geltend (§ 122 Abs. 2 der Abgabenordnung – AO 1977 – i. V. m. § 444 der Zivilprozessordnung – ZPO –, § 155 der Finanzgerichtsordnung – FGO -).
[6] Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
[7] Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.
[8] II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
[9] A. Einer Sachentscheidung steht nicht entgegen, dass die Klägerin möglicherweise bereits im Handelsregister gelöscht ist, denn die Klägerin ist durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten, dem sie vor ihrer Löschung Vollmacht erteilt hat (§ 155 FGO i. V. m. §§ 86, 241, 246 ZPO; Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 11. April 1990 I R 119/85, BFH/NV 1991, 415). Die vom Prozessvertreter mit Schreiben vom 10. Januar 2005 angezeigte Mandatsniederlegung wirkt erst, wenn die Bestellung eines anderen vertretungsbefugten Bevollmächtigten angezeigt wird (§ 155 FGO i. V. m. § 87 ZPO; BFH-Beschluss vom 25. Januar 1999 III B 59/98, BFH/NV 1999, 953; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 62a FGO Rz. 35).
[10] B. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der angefochtene Körperschaftsteuerbescheid 1998 aufgrund des noch laufenden Einspruchsverfahrens geändert werden konnte.
[11] Das Einspruchsverfahren wegen Körperschaftsteuer 1998 ist nicht abgeschlossen. Dem FA ist es nicht gelungen nachzuweisen, dass die Einspruchsentscheidung vom 6. Februar 2001 dem Prozessbevollmächtigten zugegangen ist.
[12] 1. Nach § 122 Abs. 2 AO 1977 gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes nachzuweisen.
[13] a) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 14. März 1989 VII R 75/85, BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534; vom 15. September 1994 XI R 31/94, BFHE 175, 327, BStBl II 1995, 41; vom 12. März 2003 X R 17/99, BFH/NV 2003, 1031) kann der Beweis über den Zugang des Steuerbescheides auf Indizien gestützt werden. Danach können bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraums nach Absendung des Steuerbescheides im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung vom FG im Wege der freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO dahin gehend gewürdigt werden, dass – entgegen der Behauptung des Steuerpflichtigen – ihm der Steuerbescheid tatsächlich zugegangen ist. Für Einspruchsentscheidungen gilt das Gleiche. Auf den sog. Anscheinsbeweis, der auf einen typischen, nicht aber auf den tatsächlichen Geschehensablauf abstellt, kann der Zugangsnachweis nach § 122 Abs. 2 AO 1977 hingegen nicht gestützt werden (ständige Rechtsprechung seit BFH-Urteil in BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534).
[14] b) Ausgehend von diesen allgemeinen Beweisregeln ist die Entscheidung des FG, dem FA sei es nicht gelungen, den Nachweis der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 6. Februar 2001 durch Indizien zu erbringen, nicht zu beanstanden.
[15] Zutreffend hat das FG den Umstand, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin kein Posteingangsbuch bzw. Fristenkontrollbuch geführt hat, nicht als allein ausreichendes Indiz für den Zugang der Einspruchsentscheidung gewertet.
[16] Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH (Beschluss vom 7. August 1970 VI R 24/67, BFHE 100, 71, BStBl II 1970, 814) ein Fristenkontrollbuch oder eine vergleichbare Einrichtung die unerlässliche Voraussetzung einer ordnungsmäßigen Büroorganisation zur Wahrung von Ausschlussfristen. Es genügt nicht, Schriftstücke, die zur Wahrung einer Rechtsmittelfrist eine termingebundene Erledigung erfordern, in sog. Terminmappen abzulegen (vgl. auch BFH-Urteil vom 26. Mai 1977 V R 139/73, BFHE 122, 251, BStBl II 1977, 643). Die Folge dieses Organisationsmangels erschöpft sich jedoch darin, dass ein Berater sich bei einer Fristversäumung nicht zu entschuldigen vermag und eine Wiedereinsetzung nach § 56 FGO nicht gewährt werden kann (Senatsurteil vom 5. November 1998 I R 90/97, BFH/NV 1999, 512; BFH-Beschluss vom 17. Februar 1993 VIII R 61/91, BFH/NV 1993, 614). Dieser Organisationsmangel ersetzt aber nicht den Nachweis des Zugangs eines Verwaltungsaktes i. S. des § 122 Abs. 2 AO 1977. Er kann allenfalls – wie vom FG zutreffend ausgeführt – die Indizien für einen Zugang verstärken (ebenso FG des Landes Brandenburg, Urteil vom 30. April 1997 4 K 67/97 F, EFG 1997, 1284; anders Hessisches FG, Beschluss vom 4. Mai 2004 6 V 3793/03, 6 V 4633/03, EFG 2004, 1276 – insoweit nicht abgedruckt -). Solche weiteren Indizien hat das FA jedoch nach den Feststellungen des FG, gegen die das FA keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben hat und an die der Senat daher gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.