Bundesverwaltungsgericht
Förderung; Dienstvergehen; Härtefälle.
SG § 3 Abs. 1; ZDv 20/7 Nr. 135
Zu den Voraussetzungen einer Härtefallentscheidung, einen Soldaten trotz eines gegen ihn geführten gerichtlichen Disziplinarverfahrens zu fördern.
BVerwG, Beschluss vom 27. 7. 2006 – 1 WB 15.06 (lexetius.com/2006,2989)
[1] Der Antragsteller, ein Berufssoldat, wendet sich gegen die Ablehnung der Erteilung einer Ausnahme vom allgemeinen Förderungsverbot während der Dauer eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens.
[2] Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung blieb erfolglos.
[3] Aus den Gründen: … a) Das dem zuständigen militärischen Vorgesetzten in § 3 Abs. 1 SG eingeräumte Verwendungsermessen (vgl. dazu Scherer/Alff, SG, 7. Aufl., § 3 Rn. 9 m. w. N.; grundlegend: Beschluss vom 22. April 1975 – BVerwG 1 WB 189.72, 1 WB 227.72 – BVerwGE 53, 23 [26]) hat das Bundesministerium der Verteidigung in der Vorbemerkung Nr. 8 zur ZDv 20/7 (sowohl in der Fassung vom 27. März 2002 als auch in der Neufassung vom Januar 2006) dahin konkretisiert, dass die Chancengerechtigkeit gebiete, alle Soldatinnen und Soldaten nach ihren Anlagen und ihrer Bewährung zu fördern. Einschränkend ist in Nr. 134 ZDv 20/7 festgelegt, dass jedes Dienstvergehen Auswirkungen auf eine mögliche Förderung einer Soldatin oder eines Soldaten haben kann, weil sie oder er grundsätzlich durch jedes Fehlverhalten ihre oder seine Eignung in Frage stellt. Nr. 135 Abs. 1 Satz 1 ZDv 20/7 bestimmt deshalb ermessensbindend, dass die Betroffenen während der Ermittlungen der Disziplinarvorgesetzten, disziplinarer Vorermittlungen gemäß § 92 WDO, eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens oder eines strafrechtlichen Ermittlungs- oder Gerichtsverfahrens nicht gefördert werden "sollen". Die Ausgestaltung einer Vorschrift als "Soll-Vorschrift" verpflichtet nach der Rechtsprechung des Senats im Regelfall die mit ihrer Durchführung betraute Stelle dazu, grundsätzlich so zu verfahren, wie es in der Vorschrift bestimmt ist; im Regelfall bedeutet das "Soll" ein "Muss" bzw. – hier – ein "Nicht dürfen" (Beschluss vom 27. Februar 2003 – BVerwG 1 WB 57.02 – BVerwGE 118, 25 [31] = Buchholz 252 § 23 SBG Nr. 2 = NZWehrr 2003, 212, vgl. auch Beschluss vom 11. Mai 2006 – BVerwG 2 WD 25.05 -).
[4] Nr. 135 Satz 1 ZDv 20/7 enthält insofern ein "Förderungsverbot".
[5] Bei Vorliegen atypischer Umstände ist indessen ausnahmsweise eine andere Verfahrensweise zulässig (Beschluss vom 27. Februar 2003 a. a. O.). Als in diesem Sinne atypisch können Umstände gelten, die in der Person des Betroffenen zu Härtefällen führen.
[6] Damit übereinstimmend hat das Bundesministerium der Verteidigung in Nr. 135 Satz 2 und 3 ZDv 20/7 festgelegt, dass Ausnahmen in Härtefällen im Ermessenswege vertretbar sind; solche Härtefälle liegen vor, wenn die Soldatin oder der Soldat sich besonders bewährt hat, der bestandskräftige Abschluss eines der in Satz 1 genannten Verfahren sich erheblich verzögert und die Soldatin oder der Soldat dies nicht zu vertreten hat und wenn der Tatbestand eine einmalige situationsbedingte und nicht charakterlich bedingte Verfehlung von geringer Schwere darstellt. Diese drei Härtefallkriterien müssen nach dem unmissverständlichen Wortlaut der Nr. 135 Abs. 1 Satz 3 ZDv 20/7 kumulativ erfüllt sein, um Raum für eine Ermessensentscheidung nach Nr. 135 Abs. 1 Satz 2 ZDv 20/7 zu bieten. Davon gehen auch der Antragsteller und der BMVg übereinstimmend aus.
[7] Das Personalamt der Bundeswehr (PersABw) hat den Antrag auf Erteilung einer Ausnahme vom allgemeinen Förderungsverbot ohne Rechtsfehler abgelehnt, weil jedenfalls die dritte genannte Voraussetzung für die Annahme eines Härtefalls beim Antragsteller nicht erfüllt ist.
[8] Das dem Antragsteller im gerichtlichen Disziplinarverfahren vorgeworfene Fehlverhalten stellt keine einmalige situationsbedingte und nicht charakterlich bedingte Verfehlung "von geringer Schwere" dar. … (wird ausgeführt)
[9] Angesichts dessen kann sich die – auch vom BMVg im Rahmen des Beschwerdebescheides eingeräumte – ohne Zutun des Antragstellers eingetretene erhebliche Verzögerung des bestandskräftigen Abschlusses des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht zu dessen Gunsten auswirken.
[10] Es kann deshalb auch offen bleiben, ob der Antragsteller eine "besondere Bewährung" im Sinne des ersten Härtefallkriteriums nach Nr. 135 Abs. 1 Satz 3 ZDv 20/7 dargelegt hat. Insoweit gibt der Senat allerdings Folgendes zu bedenken:
[11] Der Begriff der "besonderen Bewährung" ist in der ZDv 20/7 nicht näher erläutert. Er knüpft inhaltlich an die Begriffe der Eignung, Befähigung und Leistung in § 3 Abs. 1 SG an. Um die "besondere Bewährung" als Härtefallkriterium überprüfen zu können, benötigt die zuständige personalbearbeitende Stelle Anhaltspunkte, die der antragstellende Soldat zumindest glaubhaft machen muss.
[12] Solche Anhaltspunkte können sich aus einer (noch) aktuellen planmäßigen Beurteilung, aus dem Vorschlag des beurteilenden Vorgesetzten auf Anforderung einer Sonderbeurteilung im Sinne der Nr. 206 Buchst. a Abs. 1 Satz 2 ZDv 20/6 oder aus dem Vorschlag für eine förmliche Anerkennung ergeben.
[13] Auch der Inhalt einer auf Anforderung eines Wehrdienstgerichts oder eines Wehrdisziplinaranwalts erstellten Beurteilung nach Nr. 206 Buchst. b und Nr. 406 Buchst. b Abs. 1 Satz 1 ZDV 20/6 kann einen derartigen Anhaltspunkt bieten, die besondere Bewährung des Betroffenen glaubhaft zu machen. Zwar sind die Ausfertigungen dieser Sonderbeurteilung nur für die Verfahrensakte des Anfordernden und für den betroffenen Soldaten bestimmt; die Beurteilung stellt nach Nr. 406 Buchst. b Abs. 2 ZDv 20/6 keine Grundlage für Personalentscheidungen dar und ist auch nicht in die Grund- oder Nebenakte aufzunehmen oder mit ihren Daten in das Personalführungs- und -informationssystem PER-FIS einzugeben. Sie äußert sich aber – wie jede reguläre planmäßige Beurtei- 29 lung – zur Eignung, Befähigung und Leistung des Betroffenen und enthält insbesondere eine Stellungnahme zu seiner Förderungswürdigkeit. Indem Nr. 406 Buchst. b Abs. 1 Satz 3 ZDv 20/6 die Zweitausfertigung dieser Beurteilung dem Soldaten zur Verfügung stellt, kann dieser den Inhalt der Beurteilung der zuständigen personalbearbeitenden Stelle vortragen, um die von ihm behauptete "besondere Bewährung" glaubhaft zu machen. Es ist dann Sache der zuständigen personalbearbeitenden Stelle, auf dieser Grundlage die "besondere Bewährung" zu prüfen.
[14] Die Entscheidung des PersABw leidet auch nicht an einem Formfehler.
[15] Das PersABw hat als zuständige personalbearbeitende Stelle im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Art. 1 ZDv 14/5 B 125 den angefochtenen ablehnenden Ausgangsbescheid erlassen. Eine Entscheidung durch den Amtschef oder stellvertretenden Amtschef/Chef des Stabes PersABw nach Maßgabe der Nr. 135 Abs. 3 ZDv 20/7 war im vorliegenden Fall nicht erforderlich.
[16] Insoweit hat der BMVg im Rahmen einer vom Senat erbetenen amtlichen Auskunft am 25. Juli 2006 erklärt, dass in ständiger Verwaltungspraxis des PersABw Anträge von Soldaten, bei denen die Voraussetzungen eines Härtefalls nach Nr. 135 Abs. 1 Satz 3 ZDv 20/7 nach Prüfung und Bewertung durch das zuständige personalführende Dezernat nicht gegeben sind, dem Amtschef des PersABw nicht zur Entscheidung vorgelegt werden; in diesen Fällen werde ein entsprechender Antrag regelmäßig durch das personalführende Dezernat im PersABw abgelehnt. Nur dann, wenn nach Prüfung des personalführenden Dezernats die Voraussetzungen der Nr. 135 Abs. 1 Satz 3 ZDv 20/7 kumulativ vorlägen, werde eine entsprechende Stellungnahme der zuständigen Wehrdisziplinaranwaltschaft nach Nr. 135 Abs. 2 ZDV 20/7 eingeholt und zusammen mit einem Entscheidungsvorschlag dem Amtschef PersABw zugeleitet und dessen persönliche Entscheidung oder die seines Vertreters eingeholt. Dabei bediene sich das PersABw in ständiger Verfahrenspraxis eines Vorlagemusters (Kennziffer 2. 4. 9) aus dem Personalhandbuch des PersABw.
[17] Diese vom BMVg im Einzelnen dokumentierte – und von den Bevollmächtigten des Antragstellers nicht in Frage gestellte – ständige Verwaltungspraxis des PersABw steht im Einklang mit dem Wortlaut und dem systematischen Aufbau der Nr. 135 ZDV 20/7. Danach ist, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen eines Härtefalles nach Nr. 135 Abs. 1 Satz 3 ZDv 20/7 nicht kumulativ vorliegen, kein Raum für eine Ermessensentscheidung nach Nr. 135 Abs. 1 Satz 2 ZDV 20/7; der Ausnahmeantrag ist unmittelbar ohne Ermessensentscheidung abzulehnen.
[18] Dies kann durch das zuständige personalführende Dezernat geschehen, weil die spezielle Entscheidungskompetenz der Dienststellenleitung oder ihrer Vertretung im Amt nach Nr. 135 Abs. 3 ZDV 20/7 – entsprechend der ständigen Verwaltungspraxis, gegen die keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken bestehen – nur dann geboten ist, wenn im Rahmen des Ermessens von der Ausnahmemöglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, um damit der besonderen Bedeutung des Vorgangs Rechnung zu tragen. Der Umstand, dass im vorliegenden Fall das PersABw durch das personalführende Dezernat entschieden hat, erweist sich deshalb nicht als rechtsfehlerhaft.