Bundesverwaltungsgericht
Vorläufige Dienstenthebung; Uniformtrageverbot; vorläufige Einbehaltung der Dienstbezüge; Ermessen; Unschuldsvermutung; rechtfertigender Grund; Verhältnismäßigkeitsgebot; Begründungspflicht; Einleitungsbehörde; Bundeswehrdisziplinaranwalt.
1. Die vorläufige Dienstenthebung eines Soldaten bedarf – ebenso wie ein Uniformtrageverbot und eine vorläufige Einbehaltung eines Teils der Dienstbezüge – eines besonderen rechtfertigendes Grundes, dessen Vorliegen von der Einleitungsbehörde konkret und nachvollziehbar dargetan werden muss; die Begründung muss sich für den Soldaten und das die Maßnahme überprüfende Gericht aus der getroffenen bzw. aufrechterhaltenden Anordnung erschließen lassen (im Anschluss an Beschluss vom 15. November 2006 BVerwG 2 WDB 5.06 -).
2. Diese zwingend erforderliche Begründung der Entscheidung der Einleitungsbehörde kann nicht durch andere Stellen (etwa den Wehrdisziplinaranwalt oder den Bundeswehrdisziplinaranwalt) nachgeholt oder ersetzt werden.
BVerwG, Beschluss vom 7. 12. 2006 – 2 WDB 3.06; TDG Süd (lexetius.com/2006,4119)
[1] Die Einleitungsbehörde leitete gegen den Soldaten ein gerichtliches Disziplinarverfahren mit der Begründung ein, der Soldat habe wiederholt einem ihm erteilten Befehl zur Duldung der Abnahme von Fingernagelmaterial (für ein Drogenscreening) nicht gehorcht (Anschuldigungspunkt 1) sowie Betäubungsmittel erworben und zu sich genommen (Anschuldigungspunkt 2). Zugleich mit der Einleitungsverfügung enthob sie den Soldaten vorläufig des Dienstes, verbot ihm das Tragen der Uniform und ordnete die Einbehaltung der Hälfte seiner Dienstbezüge an. Den Antrag auf Aufhebung dieser Anordnung lehnte das Truppendienstgericht ab. Die dagegen eingelegte Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht hatte Erfolg.
[2] Aus den Gründen: … Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnungen nach § 126 WDO über (a) die vorläufige Dienstenthebung und das Uniformtrageverbot sowie (b) die vorläufige Einbehaltung der Hälfte der jeweiligen Dienstbezüge liegen nicht vor. Dementsprechend ist der angefochtene Beschluss der Truppendienstkammer vom 10. Januar 2006 aufzuheben. …
[3] Das gerichtliche Disziplinarverfahren gegen den Soldaten ist zwar mit der ausgehändigten Einleitungsverfügung rechtswirksam eingeleitet worden. Vor Ergehen der Einleitungsverfügung ist dem Soldaten auch Gelegenheit zur Stellungnahme in der Sache (§ 93 Abs. 1 Satz 2 WDO) und zur Frage der Anhörung der Vertrauensperson nach § 4 Abs. 1 WDO i. V. m. § 27 Abs. 2 SBG gegeben worden.
[4] Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung sind jedoch (bislang) nicht erfüllt.
[5] Allerdings kann die von der Einleitungsbehörde getroffene Ermessensentscheidung vom Senat nur darauf überprüft werden, ob diese Stelle die gesetzlichen Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten oder von diesem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 VwGO analog).
[6] Der gesetzliche Zweck der Ermessensbefugnis der Einleitungsbehörde ergibt sich daraus, dass die vorläufige Dienstenthebung eines Soldaten im Zusammenhang mit einem gegen ihn eingeleiteten (gerichtlichen) Disziplinarverfahren dazu dient, einen Zustand, der endgültig erst aufgrund eines einen längeren Zeitraum beanspruchenden förmlichen Verfahrens geregelt wird, vorübergehend zu ordnen, um dadurch Nachteile und Gefahren – insbesondere für das gemeine Wohl – abzuwehren und zu verhindern, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden, bevor die Entscheidung im gerichtlichen Disziplinarverfahren rechtskräftig getroffen (BVerfG, Beschluss vom 4. Oktober 1977 – 2 BvR 80/77 – BVerfGE 46, 17 ff. = NJW 1978, 152 = DÖV 1977, 274 m. w. N.; BVerwG, Beschlüsse vom 18. April 1991 BVerwG 2 WDB 3.91 BVerwGE 93, 69 m. w. N., vom 10. April 1992 BVerwG 2 WDB 2.92 m. w. N. und vom 19. Januar 2006 a. a. O. S. 210 m. w. N.; Dau, WDO, 4. Aufl. 2002, § 126 Rn. 2) und damit – im Falle einer Verurteilung – die Unschuldsvermutung widerlegt ist (vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK und Urteil vom 12. Februar 2003 BVerwG 2 WD 8.02 BVerwGE 117, 371 = Buchholz 236. 1 § 7 SG Nr. 48 sowie Beschluss vom 15. November 2006 BVerwG 2 WDB 5.06 -). Eine solche vorläufige Maßnahme, die in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Soldaten eingreift (vgl. u. a. Beschluss vom 10. April 1992 BVerwG 2 WDB 2.92 -), bedarf aus verfassungsrechtlichen Gründen eines besonderen sie rechtfertigenden Grundes. Sie muss im Rahmen des gemeinen Wohls geboten sein und zudem – im Hinblick auf die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung – dem Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit genügen (Beschluss vom 15. November 2006 BVerwG 2 WDB 5.06 -).
[7] Ein rechtfertigender besonderer Grund im dargelegten Sinne ist nur dann gegeben, wenn ohne die angegriffene Anordnung der Dienstbetrieb durch den vom gerichtlichen Disziplinarverfahren Betroffenen empfindlich gestört oder in besonderem Maße gefährdet würde (BVerfG, Beschluss vom 4. Oktober 1977 a. a. O.; BVerwG, Beschlüsse vom 10. April 1992 BVerwG 2 WDB 2.92 m. w. N. und vom 19. Januar 2006 a. a. O. m. w. N.).
[8] Bei der Beurteilung dessen, ob ohne die angegriffene Anordnung der Dienstbetrieb empfindlich gestört oder in besonderem Maße gefährdet würde, steht – nur – der Einleitungsbehörde innerhalb des dargelegten rechtlichen Rahmens ein Beurteilungsspielraum zu. Denn für eine sachgerechte Beurteilung dieser Folgen sind in aller Regel spezifische militärische Fachkenntnisse und Erfahrungen sowie eine genaue Kenntnis und Beurteilung des internen Dienstbetriebes erforderlich, die notwendigerweise mit nicht-rechtlichen Wertungs- und Zweckmäßigkeitserwägungen verbunden sind. Dieser Beurteilungsspielraum wird jedoch dann überschritten, wenn dessen rechtliche Grenzen nicht eingehalten werden.
[9] Danach kommt es für die gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung in diesem Zusammenhang darauf an, ob bei einem vorläufigen Verbleiben des Soldaten im Dienst nach der insoweit maßgeblichen fachlichen Beurteilung der Einleitungsbehörde mit einer empfindlichen Störung oder in besonderem Maße mit einer Gefährdung des Dienstbetriebes zu rechnen ist. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn durch das in Rede stehende Fehlverhalten das Ansehen der Bundeswehr so sehr beeinträchtigt worden ist oder wird, dass bei einem Verbleiben im Dienst ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Schaden eintreten könnte (vgl. dazu u. a. Beschlüsse vom 18. November 2003 BVerwG 2 WDB 2.03 BVerwGE 119, 206 = Buchholz 236. 1 § 8 SG Nr. 5 und vom 19. Januar 2006 a. a. O.), oder wenn Sicherheitsinteressen der Bundeswehr zu schützen sind (vgl. u. a. Beschlüsse vom 18. April 1991 a. a. O. und vom 10. April 1992 BVerwG 2 WDB 2.92 -). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen muss von der Einleitungsbehörde konkret und nachvollziehbar dargetan werden und sich aus der getroffenen bzw. aufrechterhaltenen Anordnung für den Soldaten und das Gericht erschließen lassen. Anderenfalls kann nicht festgestellt werden, ob die Einleitungsbehörde von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Die lediglich formelhafte und nicht näher substantiierte Erwägung, ohne die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung werde der Dienstbetrieb empfindlich gestört oder in besonderem Maße gefährdet, reicht nicht aus (Beschluss vom 15. November 2006 BVerwG 2 WDB 5.06 -).
[10] Diese von der Einleitungsbehörde vorzunehmende Darlegung kann auch nicht durch andere Stellen, etwa den Wehrdisziplinaranwalt oder den Bundeswehrdisziplinaranwalt, ersetzt werden. Denn das gesetzliche Ermessen sowie der Beurteilungsspielraum hinsichtlich des die Anordnung rechtfertigenden besonderen Grundes stehen nur der Einleitungsbehörde zu.
[11] Das Gebot der Verhältnismäßigkeit verlangt neben der (im Hinblick auf den rechtfertigenden Grund) notwendigen Geeignetheit und Erforderlichkeit der getroffenen Anordnung insbesondere, dass die Einleitungsbehörde dem Betroffenen mit ihrer Ermessensentscheidung keine Nachteile zufügt, die außer Verhältnis zu dem Interesse des Dienstherrn stehen, einen Soldaten, der eines schwerwiegenden Dienstvergehens hinreichend verdächtig ist, bis zur endgültigen Klärung dieses Vorwurfs von der Dienstausübung auszuschließen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Oktober 1977 a. a. O; BVerwG, Beschlüsse vom 18. November 2003 a. a. O. und vom 19. Januar 2006 a. a. O. m. w. N.). Im Übrigen ist die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung – im Gegensatz zur teilweisen Einbehaltung von Dienstbezügen (§ 126 Abs. 2 Satz 1 WDO) – nicht (zusätzlich) davon abhängig, dass im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf die höchstzulässige Disziplinarmaßnahme erkannt wird.
[12] Ob im vorliegenden Fall ohne die angeordnete vorläufige Dienstenthebung des Soldaten mit einer empfindlichen Störung oder in besonderem Maße mit einer Gefährdung des Dienstbetriebes in seiner gegenwärtigen und auch in jeder anderen Verwendung zu rechnen ist, ob durch das in Rede stehende Fehlverhalten das Ansehen der Bundeswehr so sehr beeinträchtigt worden ist oder wird, dass bei einem Verbleiben im Dienst ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Schaden eintreten könnte, oder ob Sicherheitsinteressen der Bundeswehr zu schützen sind, lässt sich der Begründung der vom Soldaten angegriffenen Anordnung der Einleitungsbehörde nicht entnehmen und ist auch sonst aus weiteren, deren Aufrechterhaltung betreffenden Entscheidungen der Einleitungsbehörde (bislang) nicht ersichtlich, so dass von einem aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderlichen rechtfertigenden Grund gegenwärtig nicht ausgegangen werden kann.
[13] Zwar spricht vieles dafür, dass der Soldat jedenfalls die in der Einleitungsverfügung unter Nr. 1 näher bezeichneten Dienstpflichtverletzungen begangen hat. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um die getroffenen Anordnungen zu rechtfertigen. …
[14] Selbst wenn danach hinsichtlich beider in der Einleitungsverfügung bezeichneten Vorwürfe ein hinreichender Verdacht eines schwerwiegenden disziplinaren Fehlverhaltens des Soldaten besteht, hat die Einleitungsbehörde bisher nicht durch Tatsachen nachvollziehbar konkret dargetan, dass bei einem vorläufigen Verbleiben des Soldaten im Dienst mit einer empfindlichen Störung oder in besonderem Maße mit einer Gefährdung des Dienstbetriebes sowohl in seiner gegenwärtigen Verwendung als auch in einer anderen Verwendung zu rechnen ist, dass durch das in Rede stehende Fehlverhalten das Ansehen der Bundeswehr so sehr beeinträchtigt worden ist oder wird, dass bei einem Verbleiben im Dienst ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Schaden eintreten könnte, oder dass Sicherheitsinteressen der Bundeswehr zu schützen sind (vgl. dazu Beschluss vom 15. November 2006 BVerwG 2 WDB 5.06 -). … (wird ausgeführt)
[15] … Die Einleitungsbehörde trägt in ihrer Verfügung keine konkreten Tatsachen und Umstände vor, aus denen sich für den Fall eines vorläufigen Verbleibens des Soldaten in seiner bisherigen Einheit oder (nach einer Kommandierung oder Versetzung) auf einem anderen Dienstposten innerhalb der Streitkräfte die erhebliche Gefahr einer empfindlichen Störung oder im besonderen Maße die Gefährdung des Dienstbetriebes ergibt. Insbesondere unterlässt es die Einleitungsbehörde, im Einzelnen durch Vorbringen von Tatsachen zu begründen, weshalb sich – außerhalb des fliegerischen Bereichs – bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahrens und damit bis zur Widerlegung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung (vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK und Urteil vom 12. Februar 2003 a. a. O. sowie Beschluss vom 15. November 2006 BVerwG 2 WDB 5.06 -) jede andere als die bisherige Verwendung des Soldaten verbietet.
[16] Auch auf den Antrag des Soldaten hat die Einleitungsbehörde in ihrem Ablehnungsbescheid hinsichtlich der angeordneten vorläufigen Dienstenthebung lediglich näher begründet, aus welchen Gründen der Soldat zur Duldung der geforderten Entnahme von Hornmaterial seiner Finger- bzw. Fußnägel verpflichtet gewesen sei und welche Dienstpflichtverletzungen er mit seiner Weigerung begangen habe. Gleiches gilt hinsichtlich des angeordneten Uniformtrageverbotes. …
[17] Im Übrigen ist die Ermessensentscheidung der Einleitungsbehörde auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil weder die Verfügung noch der Bescheid erkennen lassen, dass sie der Frage nachgegangen ist, ob mit einer den Soldaten weniger belastenden Maßnahme als der Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung (und des Uniformtrageverbotes) der Anordnungszweck dennoch in gleicher Weise erreicht werden könnte.
[18] Ob das schriftsätzliche Vorbringen des Bundeswehrdisziplinaranwalts im vorliegenden Beschwerdeverfahren Gesichtspunkte enthält, die eine Anordnung nach § 126 Abs. 1 WDO rechtfertigen könnten, bedarf hier keiner näheren Prüfung. Denn es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dieses schriftsätzliche Vorbringen des Bundeswehrdisziplinaranwalts der Verfügung der Einleitungsbehörde oder dem Bescheid zugrunde lag, oder dass sich die Einleitungsbehörde diese Erwägungen für die Aufrechterhaltung ihrer Ermessensentscheidung zwischenzeitlich zu Eigen gemacht hat. Es fehlt insoweit an jedem diesbezüglichen Vortrag. Da die nach § 126 Abs. 1 WDO getroffene und hier zu prüfende Entscheidung allein im Ermessen der Einleitungsbehörde steht, kann deren Ermessensbetätigung weder durch andere Stellen noch durch den beschließenden Senat ersetzt werden.
[19] Da die Einleitungsbehörde somit im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung ihrer Darlegungspflicht bezüglich der nach § 126 Abs. 1 WDO erfolgten vorläufigen Dienstenthebung nicht nachgekommen ist, war damit nicht nur diese und das von den gleichen Voraussetzungen abhängige Uniformtrageverbot, sondern auch die nach § 126 Abs. 2 WDO getroffene Anordnung, die Hälfte der jeweiligen Dienstbezüge einzubehalten, aufzuheben. Denn diese setzt die wirksame Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung voraus, so dass es auf die Richtigkeit einer positiven Prognose hinsichtlich der im gerichtlichen Disziplinarverfahren zu erwartenden Verhängung der Höchstmaßnahme nicht mehr ankommt. …