Europäischer Gerichtshof
"Vorabentscheidungsersuchen – Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 – Gemeinsamer Zolltarif – Zölle – Befreiung – Pharmazeutische Substanzen – Zusammensetzung – Beschränkungen"
Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2031/2001 der Kommission vom 6. August 2001 und die Verordnung (EG) Nr. 1832/2002 der Kommission vom 1. August 2002 geänderten Fassung ist dahin gehend auszulegen, dass einer pharmazeutischen Substanz, die in der Liste der in Anhang 3 von Teil III dieses Anhangs I genannten Substanzen aufgeführt ist, der andere, insbesondere pharmazeutische, Substanzen hinzugefügt worden sind, nicht mehr die Zollbefreiung zugutekommen kann, die anwendbar gewesen wäre, wenn diese Substanz in Reinform vorgelegen hätte.

EuGH, Urteil vom 17. 2. 2011 – C-11/10 (lexetius.com/2011,205)

[1] In der Rechtssache C-11/10 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Januar 2010, in dem Verfahren Staatssecretaris van Financiën gegen Marishipping and Transport BV erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-J. Kasel (Berichterstatter), des Richters E. Levits und der Richterin M. Berger, Generalanwalt: P. Mengozzi, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und L. Bouyon als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil (*):
[2] 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Kombinierten Nomenklatur des Gemeinsamen Zolltarifs, die den Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2031/2001 der Kommission vom 6. August 2001 (ABl. L 279, S. 1) und die Verordnung (EG) Nr. 1832/2002 der Kommission vom 1. August 2002 (ABl. L 290, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2658/87) bildet.
[3] 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Financiën und der Marishipping and Transport BV (im Folgenden: Marishipping), einer Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden, über die Frage, ob die Zollbefreiung für pharmazeutische Erzeugnisse nur für Erzeugnisse gilt, die aus reinen pharmazeutischen Substanzen bestehen, oder ob sie auch für Erzeugnisse gilt, denen andere Substanzen hinzugefügt worden sind.
Rechtlicher Rahmen
[4] 3 Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87, der die für die Zollbefreiung pharmazeutischer Erzeugnisse bestimmter Kategorien geltenden Vorschriften enthält, sieht vor:
"Die pharmazeutischen Erzeugnisse der nachstehenden Kategorien werden von den Zöllen befreit:
i) pharmazeutische Substanzen, die sowohl durch die CAS RN (Chemical Abstracts Service Registry Numbers) identifiziert als auch durch die INN (Internationalen Freinamen), aufgelistet im Anhang 3, erfasst werden".
[5] 4 Anhang I Teil 1 Titel II C Nr. 2 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87 bestimmt:
"Sonderfälle:
i) Die INN umfassen nur solche Substanzen, die in der Liste der von der WHO vorgeschlagenen und empfohlenen INN erfasst sind. Wenn die Anzahl der von einem INN umfassten Substanzen geringer ist als die von der CAS RN identifizierten, dann gilt die Zollfreiheit nur für die von dem INN erfassten Substanzen".
[6] 5 Zu den in der Liste der pharmazeutischen Substanzen aufgezählten Substanzen, für die eine Zollbefreiung beansprucht werden kann, gehört u. a. Chitosan (Polyglusam).
[7] 6 Sowohl Chitosan als auch Ascorbinsäure verfügen jeweils über einen individuellen internationalen Freinamen und eine individuelle CAS-Nummer.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[8] 7 Marishipping meldete in den Jahren 2002 und 2003 mehrmals ein Erzeugnis für den freien Verkehr an, das in den Anmeldungen als "absorbierendes Pulver" (im Folgenden: Ware) bezeichnet wurde. Die Ware wurde unter der Tarifposition 3913 90 80 der Kombinierten Nomenklatur angemeldet. In den Jahren 2002 und 2003 galt für die Einfuhr von Waren dieser Tarifposition ein Zolltarif von 7, 6 % bzw. 7, 1 %. In ihren Anmeldungen beanspruchte Marishipping eine Zollbefreiung für die Ware und bezog sich insoweit auf Anhang I der Verordnung Nr. 2658/87.
[9] 8 Nach einer Überprüfung der Ware befand der Zollinspecteur, dass der zu 96 % aus Chitosan, zu 3 % aus Ascorbinsäure und zu 1 % aus Weinsteinsäure bestehenden Ware diese Befreiung nicht zugutekommen könne. Er war der Auffassung, dass die für Chitosan vorgesehene Zollbefreiung auf die Substanz in reiner Form beschränkt sei und nicht auf eine Ware wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende angewandt werden könne. Daher erhob er die Zölle für die betreffenden Einfuhren nach.
[10] 9 Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, schützen die anderen in der Ware enthaltenen Substanzen, nämlich Ascorbinsäure und Weinsteinsäure, das Chitosan vor einer Oxidation und wurden diesem beigefügt, um seine Haltbarkeit zu verlängern. Diese beiden Säuren beeinflussen die Wirksamkeit des Chitosan nicht. Die Haltbarkeit von Chitosan in reiner Form kann auch durch die Vakuumverpackung der Substanz verlängert werden. Die Ware ist zur Verwendung als Hauptbestandteil für die Herstellung eines Erzeugnisses bestimmt, das als Schlankheitsmittel verkauft wird.
[11] 10 Die Rechtbank te Haarlem wies in erster Instanz die Klage von Marishipping gegen die vom Zollinspecteur erlassenen Bescheide über die Nacherhebung von Zöllen als unbegründet ab. Nachdem Marishipping gegen dieses Urteil beim Gerechtshof te Amsterdam Berufung eingelegt hatte, befand dieser in einem Urteil vom 18. Dezember 2007, dass die Hinzufügung von sehr geringen Mengen Ascorbinsäure und Weinsteinsäure zur Gewährleistung einer besseren Konservierung der Grundsubstanz der Anwendung der für pharmazeutische Erzeugnisse gewährten Befreiung nicht im Wege stehe. Folglich hob das Berufungsgericht das Urteil der Rechtbank sowie die Marishipping zugestellten Nacherhebungsbescheide auf.
[12] 11 In seiner Kassationsbeschwerde macht der Staatssecretaris van Financiën geltend, dass die einschlägigen Bestimmungen des Anhangs I der Verordnung Nr. 2658/87 es nicht zuließen, die dort vorgesehene Befreiung einem pharmazeutischen Erzeugnis zu gewähren, das aus einer pharmazeutischen Grundsubstanz bestehe, der andere pharmazeutische Substanzen hinzugefügt worden seien, und zwar unabhängig von der Menge der hinzugefügten Substanzen.
[13] 12 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die einschlägigen Bestimmungen nicht ausdrücklich vorsähen, dass die betreffenden Substanzen in reiner Form vorliegen müssten, um die in Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87 vorgesehene Zollbefreiung beanspruchen zu können. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere von Randnr. 13 des Urteils vom 18. März 1986, Ethicon (58/85, Slg. 1986, 1131), stellt es sich jedoch die Frage, ob es möglich sei, dem pharmazeutischen Wirkstoff andere Substanzen hinzuzufügen, und, wenn ja, welche Beschränkungen dann einzuhalten seien, damit der Ware noch die Zollbefreiung zugutekommen könne.
[14] 13 Daher hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Zollbefreiung für pharmazeutische Substanzen nach Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i des Anhangs I der Verordnung Nr. 2658/87 in Verbindung mit der in Teil III (Anhänge) Abschnitt II Anhang 3 aufgenommenen Liste von pharmazeutischen Substanzen auf die genannte (chemische) Substanz in reiner Form beschränkt?
2. Welche Beschränkungen müssen gelten, wenn der genannten pharmazeutischen Substanz andere Substanzen hinzugefügt werden dürfen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
[15] 14 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i des Anhangs der Verordnung Nr. 2658/87 dahin auszulegen ist, dass einer in der Liste der Substanzen in Anhang 3 des Teils III dieses Anhangs I aufgeführten pharmazeutischen Substanz, der andere, insbesondere pharmazeutische, Substanzen hinzugefügt worden sind, noch die Zollbefreiung zugutekommen kann, die anwendbar gewesen wäre, wenn diese Substanz in reiner Form vorgelegen hätte.
[16] 15 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass weder Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87 noch Anhang 3 des Teils III dieses Anhangs I ausdrücklich vorsehen, dass pharmazeutische Erzeugnisse, um die für die in diesem Anhang 3 aufgelisteten pharmazeutischen Substanzen vorgesehene Zollbefreiung beanspruchen zu können, in reiner Form vorliegen müssen.
[17] 16 Es ist jedoch klarzustellen, dass die Bestimmung, die die Anwendung einer Zollbefreiung vorsieht, eine Ausnahme von dem Grundsatz darstellt, dass in die Europäische Union eingeführte Erzeugnisse generell zollpflichtig sind, und sie daher als abweichende Bestimmung eng auszulegen ist.
[18] 17 Mangels einer ausdrücklichen Angabe oder eines Indizes, das den Schluss zuließe, der Unionsgesetzgeber habe den in Anhang 3 aufgelisteten pharmazeutischen Substanzen die Zollbefreiung zugutekommen lassen wollen, die – abgesehen von eventuellen in diesen Substanzen vorhandenen Verunreinigungen aus Rückständen – nicht in reiner Form vorliegen, kann die Verordnung Nr. 2658/87 deshalb nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass pharmazeutische Substanzen, denen andere Substanzen hinzugefügt worden sind, diese Befreiung in Anspruch nehmen können.
[19] 18 Als solche Verunreinigungen aus Rückständen können Substanzen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen nicht angesehen werden, die der Grundsubstanz in unterschiedlichen Mengen hinzugefügt worden sind und die als solche nicht Teil dieser Substanz oder des Erzeugnisses sind, aus dem die Substanz gewonnen wurde.
[20] 19 Somit ist die Verordnung Nr. 2658/87 in dem Sinne auszulegen, dass einer Ware wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die aus einer pharmazeutischen Grundsubstanz, im vorliegenden Fall Chitosan, besteht, der andere (pharmazeutische) Substanzen hinzugefügt worden sind, nicht die in dieser Verordnung vorgesehene Zollbefreiung zugutekommen kann.
[21] 20 Zunächst wird diese Auslegung, wie u. a. die Kommission ausgeführt hat, durch die Leitlinien zur Anwendung der INN in Bezug auf pharmazeutische Substanzen gestützt. Nach diesen Leitlinien werden die INN nämlich grundsätzlich für einzelne fest definierte Substanzen ausgewählt, die eindeutig durch einen chemischen Namen (oder eine chemische Formel) bezeichnet werden können, da das INN-Programm dem Grundsatz folgt, dass keine Namen für Mischungen von Substanzen vergeben werden.
[22] 21 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass der Chitosan gegebene INN nicht die Ware erfasst, weil sie einen zu großen Anteil anderer Substanzen enthält.
[23] 22 Was die CAS-Nummern angeht, auf die sich Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87 ebenfalls bezieht, steht, wie die niederländische Regierung und die Kommission ausgeführt haben, auch fest, dass sowohl Chitosan (CAS 9012—76—4) als auch Ascorbinsäure (CAS 5081—7) und Weinsteinsäure (CAS 8769—4) jeweils eine individuelle CAS-Identifizierungsnummer haben und dass ihre Mischung nicht durch eine einzige CAS-Nummer identifiziert werden kann.
[24] 23 Sodann entspricht die in Randnr. 19 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung dem Grundsatz, dass Bestimmungen über Aussetzungen und Befreiungen von Zöllen den Erfordernissen der Rechtssicherheit genügen und den Schwierigkeiten Rechnung tragen müssen, denen die nationalen Zollverwaltungen aufgrund des Umfangs und der Komplexität der Aufgaben, die sie zu erfüllen haben, gegenüberstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile Ethicon, Randnr. 12, und vom 3. Dezember 1998, Schoonbroodt, C-247/97, Slg. 1998, I-8095, Randnr. 23).
[25] 24 Das Erfordernis, dass die pharmazeutischen Substanzen, um für sie die Zollbefreiung nach Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87 in Anspruch nehmen zu können, grundsätzlich in reiner Form vorliegen müssen, entbindet nämlich zwar die Zollbehörden nicht davon, gegebenenfalls eine chemische Analyse einer Probe einer eingeführten Ware durchzuführen, doch können sich die Behörden darauf beschränken, zu untersuchen, ob diese Ware tatsächlich ausschließlich aus einer Substanz zusammengesetzt ist, die in der Liste der pharmazeutischen Substanzen aufgeführt ist, denen die fragliche Befreiung zugutekommen kann, ohne dass sie verpflichtet wären, die anderen in dieser Ware enthaltenen Substanzen zu identifizieren oder festzustellen, zu welchem Anteil sie in der Zusammensetzung der Ware enthalten sind.
[26] 25 Schließlich ist diese Auslegung diejenige, die sich am besten eignet, um eine einheitliche Anwendung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2658/87 zu gewährleisten, da sie den nationalen Zollbehörden nur einen begrenzten Beurteilungsspielraum für die Feststellung lässt, ob eine pharmazeutische Substanz in reiner Form vorliegt oder nicht.
[27] 26 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Anhang I Teil I Titel II C Nr. 1 Ziff. i der Verordnung Nr. 2658/87 dahin gehend auszulegen ist, dass einer pharmazeutischen Substanz, die in der Liste der in Anhang 3 von Teil III dieses Anhangs I genannten Substanzen aufgeführt ist, der andere, insbesondere pharmazeutische, Substanzen hinzugefügt worden sind, nicht mehr die Zollbefreiung zugutekommen kann, die anwendbar gewesen wäre, wenn diese Substanz in Reinform vorgelegen hätte.
Zur zweiten Frage
[28] 27 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
[29] 28 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
* Verfahrenssprache: Niederländisch.