Europäischer Gerichtshof
"Kraftfahrzeuge – Haftpflichtversicherung – Richtlinie 72/166/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Richtlinie 84/5/EWG – Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 1 – Zahlungsunfähigkeit des Versicherers – Fehlendes Eintreten der Entschädigungsstelle"
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung in der durch die Richtlinie 2005/14 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass zu den Pflichten, die den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung auferlegt werden, nicht die Pflicht gehört, eine Stelle einzurichten, die eine Entschädigung der Opfer von Verkehrsunfällen in Fällen sicherstellt, in denen die für die Schäden verantwortlichen Personen eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abgeschlossen hatten, der Versicherer aber zahlungsunfähig geworden ist.
EuGH, Urteil vom 11. 7. 2013 – C-409/11 (lexetius.com/2013,2237)
In der Rechtssache C-409/11 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fvárosi Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 12. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 1. August 2011, in dem Verfahren Gábor Csonka, Tibor Isztli, Dávid Juhász, János Kiss, Csaba Szontágh gegen Magyar Állam erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter E. Levits, J.-J. Kasel, M. Safjan und der Richterin M. Berger (Berichterstatterin), Generalanwalt: P. Mengozzi, Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2012, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Fehér, K. Veres und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Simon, K.-P. Wojcik und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Oktober 2012 folgendes Urteil (*):
[1] 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 (ABl. L 149, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Erste Richtlinie).
[2] 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Herren Csonka, Isztli, Juhász, Kiss und Szontágh einerseits und dem Magyar Állam (Ungarischen Staat) andererseits über die Haftung, die dieser nach Ansicht der Kläger wegen der fehlerhaften Umsetzung der genannten Richtlinie in das ungarische Recht zu übernehmen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
[3] 3 Die Unionsregelung im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung wurde durch die Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 263, S. 11) kodifiziert. Diese Richtlinie war jedoch in dem für den vorliegenden Fall maßgeblichen Zeitraum noch nicht in Kraft. Auf den vorliegenden Fall sind darum die vor der Kodifizierung geltenden Richtlinien anzuwenden, nämlich die Erste Richtlinie und die Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) in der durch die Richtlinie 2005/14 geänderten Fassung (im Folgenden: Zweite Richtlinie).
Erste Richtlinie
[4] 4 Wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 3 hervorgeht, wurde die Erste Richtlinie unter Erwägung des Umstands erlassen, dass die Grenzkontrollen der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, die die Interessen der möglicherweise bei einem von diesen Fahrzeugen verursachten Unfall Geschädigten wahren sollten, eine Folge der Unterschiede in den einzelstaatlichen Vorschriften auf diesem Gebiet waren und dass "[d] iese Unterschiede … geeignet [waren], den freien Verkehr von Kraftfahrzeugen und Personen innerhalb der Gemeinschaft zu behindern", und sich daher "unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes" auswirkten. Im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird die Notwendigkeit betont, dass "Maßnahmen zur weiteren Liberalisierung der Regeln für den Personen- und Kraftfahrzeugverkehr im Reiseverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ergriffen werden".
[5] 5 Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie sah vor:
"Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 4 alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt."
[6] 6 Nach Art. 4 dieser Richtlinie konnten die Mitgliedstaaten in Bezug auf Fahrzeuge, die bestimmten Personen gehörten, und bei gewissen Arten von Fahrzeugen oder Fahrzeugen mit besonderem Kennzeichen von Art. 3 der Richtlinie abweichen.
Zweite Richtlinie
[7] 7 Laut dem sechsten Erwägungsgrund der Zweiten Richtlinie erschien es "notwendig, eine Stelle einzurichten, die dem Geschädigten auch dann eine Entschädigung sicherstellt, wenn das verursachende Fahrzeug nicht versichert war oder nicht ermittelt wurde. Die betreffenden Unfallopfer müssen sich unmittelbar an diese Stelle als erste Kontaktstelle wenden können; diese Möglichkeit berührt nicht die von den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Frage der Subsidiarität des Eintretens dieser Stelle angewandten Vorschriften sowie die für den Rückgriff geltenden Regeln. Den Mitgliedstaaten sollte jedoch die Möglichkeit gegeben werden, in bestimmten begrenzten Fällen die Einschaltung der betreffenden Stelle auszuschließen und bei von einem nicht ermittelten Fahrzeug verursachten Sachschäden wegen der Betrugsgefahr vorzusehen, dass die Entschädigung bei derartigen Schäden begrenzt oder ausgeschlossen werden kann." Nach dem achten Erwägungsgrund konnten "[d] ie Mitgliedstaaten …, um die finanzielle Belastung dieser Stelle zu verringern, die Anwendung einer gewissen Selbstbeteiligung in den Fällen vorsehen, in denen die Stelle bei der Entschädigung für Sachschäden eingeschaltet wird, die durch nicht versicherte oder gegebenenfalls gestohlene oder unter Anwendung von Gewalt erlangte Fahrzeuge verursacht worden sind".
[8] 8 Art. 1 Abs. 1 und 4 der Zweiten Richtlinie bestimmte:
"(1) Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten] Richtlinie … bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen. …
(4) Jeder Mitgliedstaat schafft eine Stelle oder erkennt eine Stelle an, die für Sach- oder Personenschäden, welche durch ein nicht ermitteltes oder nicht im Sinne von Absatz 1 versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen der Versicherungspflicht Ersatz zu leisten hat.
Unterabsatz 1 lässt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, der Einschaltung dieser Stelle subsidiären Charakter zu verleihen oder Bestimmungen zu erlassen, durch die der Rückgriff der Stelle auf den oder die für den Unfall Verantwortlichen sowie auf andere Versicherer oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die gegenüber dem Geschädigten zur Regulierung desselben Schadens verpflichtet sind, geregelt wird. Die Mitgliedstaaten dürfen es der Stelle jedoch nicht gestatten, die Zahlung von Schadenersatz davon abhängig zu machen, dass der Geschädigte in irgendeiner Form nachweist, dass der Haftpflichtige zur Schadenersatzleistung nicht in der Lage ist oder die Zahlung verweigert."
[9] 9 Nach Art. 1 Abs. 6 und Art. 2 der Zweiten Richtlinie können die Mitgliedstaaten die Einschaltung der nach Art. 1 Abs. 4 dieser Richtlinie geschaffenen Stelle in bestimmten Fällen ausschließen oder bei ihrer Einschaltung die Anwendung einer gewissen Selbstbeteiligung vorsehen.
[10] 10 Art. 1 Abs. 7 der Zweiten Richtlinie sah vor, dass "[j] eder Mitgliedstaat … bei der Einschaltung der Stelle unbeschadet jeder anderen für die Geschädigten günstigeren Praxis seine Rechts- und Verwaltungsvorschriften an [wendet]".
Ungarisches Recht
[11] 11 Nach den Art. 14 und 15 des Regierungsdekrets 190/2004 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (Korm. Rendelet a gépjárm üzembentartójának kötelez felelsségbiztosításról) (im Folgenden: Regierungsdekret 190/2004), das zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens in Kraft war, tritt die subsidiäre Haftung des Kártalanítási Számlát Kezel MABISZ GKI (Ausgleichsfonds des Verbands der ungarischen Versicherungsgesellschaften) für die Entschädigung des Geschädigten nur ein, wenn der Schadensverursacher zur Zeit des Unfalls über keine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung verfügte, wenn der Schadensverursacher unbekannt ist oder wenn die Schäden durch nicht zugelassene oder stillgelegte Fahrzeuge verursacht wurden.
[12] 12 Das Regierungsdekret 190/2004 wurde durch § 67 des Gesetzes Nr. LXII aus dem Jahr 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (2009. évi LXII törvény a kötelez gépjárm-felelsségbiztosításról, im Folgenden: Haftpflichtversicherungsgesetz) aufgehoben.
[13] 13 Das Haftpflichtversicherungsgesetz, das am 1. Januar 2010 in Kraft trat, führt einen neuen Entschädigungsfonds ein und bestimmt in Art. 29 Abs. 3, dass dieser Fonds "unter Berücksichtigung der in der Versicherungspolice oder im Gesetz vorgesehenen Modalitäten für die Geltendmachung der Entschädigungsansprüche die Forderung des Geschädigten gegenüber dem Versicherer deckt, gegen den ein Insolvenzverfahren durchgeführt wird".
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[14] 14 Die MAV Àltalános Biztosító Egyesület (im Folgenden: MAV) ist eine Versicherungsgesellschaft, die in der Form eines Vereins ohne Gewinnerzielungsabsicht gegründet wurde und ihren Mitgliedern Dienstleistungen zu niedrigen Preisen mit der Besonderheit anbot, dass die Versicherungsnehmer dieser Gesellschaft auch Verpflichtungen als Vereinsmitglieder eingingen.
[15] 15 Die Pénzügyi Szervezetek Àllami Felügyelete (Behörde zur Überwachung des Finanzwesens) richtete zwischen 2003 und 2008 an die MAV 15 Mahnungen und forderte sie zur Einhaltung der Rechtsvorschriften über die Regelung ihrer Tätigkeit auf. Da ein den Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet entsprechender Betrieb nicht hergestellt werden konnte, widerrief die Überwachungsbehörde mit Wirkung zum 15. August 2008 die Zulassung der MAV zur Ausübung ihrer Tätigkeit. Die MAV, deren Vermögen verbraucht war, wurde für zahlungsunfähig erklärt.
[16] 16 Die Kläger des Ausgangsverfahrens hatten als Halter von Kraftfahrzeugen bei der MAV eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung für ihre Fahrzeuge abgeschlossen.
[17] 17 Im Zeitraum von Juli 2006 bis Juli 2008 verursachten sie mit ihren Fahrzeugen Schäden.
[18] 18 Die MAV war aufgrund ihrer Zahlungsunfähigkeit nicht in der Lage, ihren Pflichten als Versicherer nachzukommen. Die Kläger des Ausgangsverfahrens mussten für den Ersatz der von ihren Fahrzeugen verursachten Schäden selbst aufkommen.
[19] 19 Sie erhoben danach eine Schadensersatzklage gegen den Magyar Állam wegen des Schadens, der ihnen ihrer Ansicht nach durch die fehlerhafte Umsetzung der Ersten Richtlinie entstanden ist.
[20] 20 Die Kläger des Ausgangsverfahren tragen vor, dass das ungarische Recht seit dem 1. Januar 2010 zwar die Einschaltung einer Stelle gewährleiste, die den Ersatz des durch ein versichertes Fahrzeug verursachten Schadens in Fällen übernehme, in denen der Versicherer zahlungsunfähig sei, diese Maßnahme aber nicht für die zivilrechtliche Haftung aufgrund von Unfällen gelte, die sich vor diesem Zeitpunkt ereignet hätten, wie diejenigen, bei denen ihre Haftung vorausgesetzt werde. Sie sind der Ansicht, dass der Magyar Állam dadurch gegen seine Pflichten aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 3 der Ersten Richtlinie verstoßen habe, dass er nicht die Maßnahmen erlassen habe, die erforderlich seien, um die Einschaltung einer Entschädigungsstelle im Fall von vor diesem Zeitpunkt eingetretenen Schäden unter den gleichen Bedingungen zu gewährleisten, und dass er somit hafte.
[21] 21 Unter diesen Umständen hat das Fvárosi Bíróság, jetzt das Fvárosi Törvényszék, entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Hatte der ungarische Staat zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kläger die Schäden verursachten, die Erste Richtlinie umgesetzt und dabei insbesondere die Verpflichtungen aus Art. 3 der Richtlinie beachtet? Entfaltet diese Richtlinie damit unmittelbare Wirkung für die Kläger?
2. Kann eine Privatperson, die in ihren Rechten verletzt wurde, weil dieser Staat die Erste Richtlinie nicht umgesetzt hat, nach dem geltenden Unionsrecht von ihm verlangen, dass er der Richtlinie nachkommt, und sich dazu gegenüber dem Mitgliedstaat, der seinen Pflichten nicht nachkommt, unmittelbar auf das Unionsrecht berufen, um die Garantien in Anspruch nehmen zu können, die er ihr hätte gewährleisten müssen?
3. Hat eine Privatperson, die in ihren Rechten verletzt wurde, weil die Erste Richtlinie nicht umgesetzt wurde, nach dem geltenden Unionsrecht wegen dieses Verstoßes Anspruch auf Schadensersatz?
4. Ist der Magyar Állam im Fall der Bejahung des Vorstehenden verpflichtet, entweder die Kläger oder die Personen, die bei den von den Klägern verursachten Verkehrsunfällen geschädigt wurden, zu entschädigen?
5. Besteht eine Schadensersatzpflicht des Staates, wenn der Schaden auf einen Gesetzgebungsfehler zurückgeht?
6. Ist das Regierungsdekret 190/2004, das bis zum 1. Januar 2010 in Kraft war, mit den Bestimmungen der Ersten Richtlinie vereinbar, oder hat Ungarn vielmehr seine Pflicht zur Umsetzung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen verletzt?
Zu den Vorlagefragen
Zum ersten Teil der ersten Frage und zur sechsten Frage
[22] 22 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie auferlegten Pflichten auch die Pflicht umfassen, eine Stelle einzurichten, die eine Entschädigung der Opfer von Verkehrsunfällen in Fällen sicherstellt, in denen für die Schäden verantwortliche Personen eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abgeschlossen hatten, der Versicherer aber zahlungsunfähig geworden ist.
[23] 23 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 22. November 2012, Brain Products, C-219/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[24] 24 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie sehr allgemein formuliert ist, da verlangt wird, dass jeder Mitgliedstaat "alle zweckdienlichen Maßnahmen [trifft], um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist". Wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht aus dieser Bestimmung hervor, dass die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsordnungen eine allgemeine Versicherungspflicht für Fahrzeuge vorzusehen haben.
[25] 25 Angesichts der allgemeinen Formulierung von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie ist der Umfang dieser Pflicht der Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung des Zusammenhangs und der Ziele dieser Bestimmung genauer zu klären.
[26] 26 Die Erste Richtlinie gehört zu einer Reihe von Richtlinien, mit denen die Pflichten der Mitgliedstaaten im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung schrittweise präzisiert wurden. Wie sich aus den Erwägungsgründen der Ersten und der Zweiten Richtlinie ergibt, sollen diese zum einen den freien Verkehr der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Europäischen Union sowie der Fahrzeuginsassen gewährleisten und zum anderen den bei durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, an welchem Ort innerhalb der Gemeinschaft sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantieren (vgl. u. a. Urteil vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C-300/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[27] 27 Unter diesem Blickwinkel schreibt die Erste Richtlinie in der durch die Zweite Richtlinie und die späteren Richtlinien ergänzten Fassung den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist, und gibt insbesondere an, welche Arten von Schäden diese Versicherung zu decken und welchen geschädigten Dritten sie Ersatz zu gewähren hat (vgl. u. a. Urteil Marques Almeida, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[28] 28 Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie in Verbindung mit den späteren Richtlinien verpflichtet somit jeden Mitgliedstaat, dafür zu sorgen, dass vorbehaltlich der Abweichungen nach Art. 4 der Ersten Richtlinie jeder Eigentümer oder Halter eines Fahrzeugs mit gewöhnlichem Standort im Inland mit einer Versicherungsgesellschaft einen Vertrag abschließt, damit zumindest innerhalb der durch das Unionsrecht definierten Grenzen seine Haftpflicht für dieses Fahrzeug garantiert wird.
[29] 29 Die Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber dem Schutz der Geschädigten beimisst, hat ihn dazu veranlasst, dieses System zu vervollständigen, indem er durch Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet hat, eine Stelle einzurichten, die für Sach- oder Personenschäden, welche durch ein nicht ermitteltes oder nicht im Sinne von Art. 1 Abs. 1 – der auf Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie verweist – versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen des Unionsrechts Ersatz zu leisten hat. Um die von dieser Stelle zu tragende finanzielle Last abzumildern, konnten die Mitgliedstaaten die Einschaltung dieser Stelle in bestimmten Fällen ausschließen oder Selbstbeteiligungen vorsehen.
[30] 30 Die Einschaltung einer solchen Stelle war als allerletzte Maßnahme gedacht, die nur für den Fall vorgesehen war, dass die Schäden durch ein nicht ermitteltes Fahrzeug oder ein Fahrzeug verursacht worden sind, das entgegen der Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie nicht versichert wurde (Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company und Evans, C-442/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 41).
[31] 31 Für die Bestimmung der konkreten Umstände, in denen man davon ausgehen kann, dass die Versicherungspflicht im Sinne dieser Bestimmung nicht erfüllt wurde, ist, wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, von Bedeutung, dass sich der Unionsgesetzgeber nicht darauf beschränkt hat, vorzusehen, dass die Stelle im Fall von Schäden eingeschaltet werden muss, die von einem Fahrzeug verursacht wurden, für das die Pflicht zur Versicherung im Allgemeinen nicht erfüllt war, sondern er klargestellt hat, dass dies nur für Schäden der Fall sein muss, die von einem Fahrzeug verursacht wurden, das nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie versichert ist, d. h. von einem Fahrzeug, für das es keinen Versicherungsvertrag gibt. Eine solche Einschränkung erklärt sich daraus, dass diese Bestimmung, wie in Randnr. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, jeden Mitgliedstaat verpflichtet, dafür zu sorgen, dass vorbehaltlich der Abweichungen nach Art. 4 dieser Richtlinie jeder Eigentümer oder Halter eines Fahrzeugs mit gewöhnlichem Standort im Inland mit einer Versicherungsgesellschaft einen Vertrag abschließt, damit innerhalb der durch das Unionsrecht definierten Grenzen seine Haftpflicht für dieses Fahrzeug garantiert wird. Unter diesem Gesichtspunkt stellt der einfache Umstand, dass ein Schaden durch ein nicht versichertes Fahrzeug verursacht wurde, ein Versagen des vom Mitgliedstaat einzurichtenden Systems dar, was die Einschaltung einer nationalen Entschädigungsstelle rechtfertigt.
[32] 32 Daraus ergibt sich, dass entgegen der von den Klägern des Ausgangsverfahrens vertretenen Ansicht die Einschaltung einer solchen nationalen Stelle, wie es durch die Erste und die Zweite Richtlinie vorgesehen ist, nicht als Einrichtung eines Systems zur Gewährleistung der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung angesehen werden kann, sondern sie nur unter besonderen, klar definierten Umständen Wirkungen entfalten soll.
[33] 33 Der Fall der Zahlungsunfähigkeit des Versicherers fällt nicht unter diese Umstände. In einem solchen Fall wurde die Versicherungspflicht nämlich erfüllt.
[34] 34 Wie aus Art. 1 Abs. 7 der Zweiten Richtlinie hervorgeht, haben die Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit, in Bezug auf die Voraussetzungen der Einschaltung der nationalen Entschädigungsstelle Maßnahmen zu ergreifen, die für die Geschädigten günstiger sind als die in den Richtlinien im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung vorgesehenen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass nach den von der ungarischen Regierung vorgelegten Informationen während des Verfahrens vor dem Gerichtshof in den zuständigen ungarischen Instanzen Maßnahmen vorbereitet worden sind, um der durch die Zahlungsunfähigkeit der MAV entstandenen Situation abzuhelfen.
[35] 35 Nach alledem ist auf den ersten Teil der ersten Frage und auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie in Verbindung mit Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass zu den Pflichten, die den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung auferlegt werden, nicht die Pflicht gehört, eine Stelle einzurichten, die eine Entschädigung der Opfer von Verkehrsunfällen in Fällen sicherstellt, in denen die für die Schäden verantwortlichen Personen eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung abgeschlossen hatten, der Versicherer aber zahlungsunfähig geworden ist.
Zum zweiten Teil der ersten Frage und zu den Fragen zwei bis fünf
[36] 36 Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 3 der Ersten Richtlinie unmittelbare Wirkung zukommt, und zum anderen, unter welchen Bedingungen Privatpersonen die Haftung Ungarns wegen des Schadens, der ihnen durch die fehlerhafte Umsetzung der Ersten Richtlinie entstanden sein soll, geltend machen können.
[37] 37 In Anbetracht der in Beantwortung des ersten Teils der ersten Frage und der sechsten Frage vorgenommenen Auslegung der Ersten Richtlinie ist nicht ersichtlich, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen das Unionsrecht verstoßen hat.
[38] 38 Unter diesen Umständen sind weder der zweite Teil der ersten Frage noch die Fragen zwei bis fünf zu beantworten.
Kosten
[39] 39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
* Verfahrenssprache: Ungarisch.