Bundessozialgericht
Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Nebenkostennachforderung für frühere Wohnung – durchgehender Leistungsbezug vom Zeitpunkt der Entstehung der Nachforderung bis zu deren Fälligkeit
BSG, Urteil vom 30. 3. 2017 – B 14 AS 13/16 R (lexetius.com/2017,2391)
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 24. Februar 2016 wird zurückgewiesen.
Der Tenor des Urteils des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 15. Mai 2012 wird wie folgt gefasst: Der Bescheid des Beklagten vom 24. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. November 2011 wird aufgehoben, und der Beklagte wird verurteilt, beiden Klägerinnen jeweils für September 2011 weitere Leistungen für die Unterkunft und Heizung in Höhe von 188,56 Euro zu zahlen.
Der Beklagte hat den Klägerinnen auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
[1] Tatbestand: Umstritten ist die Übernahme einer im September 2011 fälligen Nachforderung von Nebenkosten des Jahres 2010 für eine nicht mehr bewohnte Wohnung.
[2] Die 1970 geborene, erwerbsfähige Klägerin zu 1 ist die Mutter der 2002 geborenen Klägerin zu 2. Beide lebten im Jahre 2010 in einem Haushalt mit dem damaligen Lebenspartner M der Mutter in der R.-Straße 56. Alle drei bezogen von dem beklagten Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in voller Höhe. Nachdem die Klägerin zu 1 sich von M getrennt hatte, erteilte der Beklagte mit Bescheid vom 4. 4. 2011 die Zusicherung zum Umzug in eine Mietwohnung in der R.-Straße 67, die die Klägerinnen am 1. 5. 2011 bezogen. Sie erhielten weiterhin Alg II bzw Sozialgeld, auch für den Zeitraum ab 1. 5. 2011 bis 31. 10. 2011 (zuletzt durch Bescheid vom 20. 6. 2011).
[3] Im August 2011 legte die Klägerin zu 1 dem Beklagten eine an M adressierte, im September 2011 fällige Nebenkostennachforderung über 565,69 Euro für die frühere Wohnung und das Jahr 2010 vor. Den darin gesehenen Antrag auf Kostenübernahme lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 24. 8. 2011; Widerspruchsbescheid vom 16. 11. 2011).
[4] Auf die hiergegen erhobenen Klagen hat das SG den Beklagten verurteilt, zwei Drittel der Nachforderung zu übernehmen (Urteil vom 15. 5. 2012). Das LSG hat die Berufung zugelassen und diese sodann mit Urteil vom 24. 2. 2016 zurückgewiesen sowie den Tenor des SG-Urteils dahingehend neu gefasst, dass der Beklagte verpflichtet wird, "jeder Klägerin für den Monat September 2011 weitere KdU in Höhe von 188,56 Euro" zu bewilligen und auszuzahlen. Durch den Leistungsbezug der Klägerinnen sowohl im Zeitpunkt der Entstehung der Kosten als auch zum Zeitpunkt ihrer Fälligkeit bestehe eine existenzsicherungsrechtlich relevante Verknüpfung der Nachforderung mit dem unterkunftsbezogenen Bedarf der Klägerinnen.
[5] Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Revision und rügt eine Verletzung von § 22 SGB II, weil nur die Aufwendungen für die gegenwärtig bewohnte Wohnung zu übernehmen seien und eine Ausnahme davon nur bei einem Wohnungswechsel aufgrund einer Kostensenkungsaufforderung anzuerkennen sei.
[6] Der Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 24. Februar 2016 und des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 15. Mai 2012 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
[7] Die Klägerinnen beantragen, die Revision zurückzuweisen.
[8] Entscheidungsgründe: Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Klägerinnen haben Anspruch auf die kopfteilige Übernahme der im September 2011 fälligen Nebenkostennachforderung für ihre frühere, in 2010 bewohnte Wohnung. Klarstellend war daher auszusprechen, dass der Bescheid des Beklagten vom 24. 8. 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. 11. 2011 aufgehoben und der Beklagte verurteilt wird, beiden Klägerinnen für September 2011 weitere Leistungen für die Unterkunft und Heizung in Höhe von je 188,56 Euro zu zahlen.
[9] 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Urteile der Vorinstanzen sowie der Bescheid vom 24. 8. 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. 11. 2011, mit dem die Übernahme der Nebenkostennachforderung abgelehnt worden ist. Die Klägerinnen begehren die Aufhebung dieses Bescheids und die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung weiterer Leistungen für die Unterkunft und Heizung für September 2011 an sie. Die Klägerinnen haben ihr Begehren durch ihren Antrag auf Übernahme der Nebenkostennachforderung wirksam auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung beschränkt (vgl BSG vom 4. 6. 2014 – B 14 AS 42/13 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 78). Die Nebenkosten, bestehend aus den Betriebskosten gemäß § 556 BGB und den Heizkosten, sind von den Bedarfen für Unterkunft und Heizung erfasst (vgl zB BSG vom 20. 12. 2011 – B 4 AS 9/11 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 50). Der Höhe nach ist die Überprüfung im Revisionsverfahren auf 188,56 Euro für jede Klägerin begrenzt, weil nur der Beklagte gegen das Urteil des LSG Revision eingelegt hat. Die Klägerinnen verfolgen ihre Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG).
[10] 2. Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Insbesondere war der frühere Lebensgefährte M der Klägerin zu 1 nicht notwendig beizuladen, weil durch die Entscheidung nicht unmittelbar in dessen Rechtssphäre eingegriffen wird und diese somit nicht einheitlich gegenüber M zu ergehen hat (§ 75 Abs 2 Alt 1 SGG). Auch die Neufassung des Tenors durch das LSG begründet keinen Verfahrensmangel im Sinne einer Verböserung für den Beklagten (vgl Keller in Meyer-Ladewig ua, SGG, 12. Aufl 2017, § 123 RdNr 5a, § 157 RdNr 1a).
[11] 3. Rechtsgrundlage für den von den Klägerinnen geltend gemachten Anspruch sind § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X und §§ 19 ff SGB II iVm §§ 7 ff SGB II in der Fassung des SGB II, die es zuletzt vor dem hier streitbefangenen Zeitraum durch das Gesetz zur Neufassung des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch vom 13. 5. 2011 (BGBl I 850) erhalten hatte. Die Klägerin zu 1 war eine erwerbsfähige leistungsberechtigte Person und bildete mit der Klägerin zu 2 eine Bedarfsgemeinschaft. Der Beklagte hatte zuletzt mit Bescheid vom 20. 6. 2011 den Klägerinnen Alg II bzw Sozialgeld einschließlich Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II vom 1. 5. 2011 bis 31. 10. 2011 bewilligt. Die von der Klägerin zu 1 vorgelegte Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2010 war am 13. 9. 2011 fällig und fiel somit in den von dem genannten Bescheid umfassten Monat September 2011.
[12] 4. Nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, hier der Bescheid vom 20. 6. 2011, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt ist nach § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 3 Satz 1 SGB III iVm § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt. So liegt es hier, weil die Klägerinnen Anspruch auf Übernahme der Nebenkostennachforderung haben, obwohl es sich um eine Nebenkostennachforderung für ihre frühere, in 2010 bewohnte Wohnung handelt, und sich eine rechtserhebliche Änderung zu ihren Gunsten für den Monat September 2011 ergeben hat.
[13] a) Die Klägerinnen haben Anspruch auf Übernahme der Bedarfe für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen, soweit diese angemessen sind. Hiervon erfasst werden nicht nur Leistungen für laufende, sondern auch für einmalige Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Durch diese existenzsichernden Leistungen soll der persönliche Lebensbereich "Wohnung" geschützt werden, sodass sich der Leistungsanspruch nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auf die Sicherung des Grundbedürfnisses des Wohnens bezieht und deshalb grundsätzlich nur die Übernahme der Aufwendungen für die tatsächlich genutzte konkrete Wohnung umfasst, die den aktuell bestehenden Unterkunftsbedarf deckt (stRspr, vgl zuletzt BSG vom 25. 6. 2015 – B 14 AS 40/14 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 83 RdNr 15 mwN). Besteht das Mietverhältnis noch, gehören danach auch Nebenkostennachforderungen, die vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit tatsächlich entstanden sind, aber erst nach deren Eintritt fällig werden, zu den übernahmefähigen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (so BSG vom 24. 11. 2011 – B 14 AS 121/10 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 58 RdNr 15; BSG vom 25. 6. 2015 – B 14 AS 40/14 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 83 RdNr 16). Soweit eine Nachforderung von Unterkunfts- und/oder Heizkosten in einer Summe fällig wird, gehört sie im Fälligkeitsmonat zum tatsächlichen, aktuellen Bedarf (vgl BSG vom 20. 12. 2011 – B 4 AS 9/11 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 50 RdNr 14).
[14] b) Der vorliegende Fall ist durch die Besonderheit geprägt, dass das einstige Mietverhältnis bei Fälligkeit der Nebenkostennachforderung gerade nicht mehr bestand. Für einen solchen Fall ist von den vorgenannten Grundsätzen eine Ausnahme anerkannt worden, wenn der Leistungsberechtigte sowohl im Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Kosten als auch im Zeitpunkt der Fälligkeit der Nachforderung im Leistungsbezug nach dem SGB II stand und die Aufgabe der bisherigen Wohnung in Erfüllung einer Kostensenkungsobliegenheit gegenüber dem Leistungsträger erfolgt und keine andere Bedarfsdeckung eingetreten ist. In einem solchen Fall sind auch die Aufwendungen für eine Betriebs- und Heizkostennachforderung aus einem nicht mehr bestehenden Mietverhältnis durch Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II zu übernehmen (BSG vom 20. 12. 2011 – B 4 AS 9/11 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 50 RdNr 17; vgl auch BSG vom 25. 6. 2015 – B 14 AS 40/14 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 83 RdNr 22).
[15] c) Dies gilt über diese besondere Konstellation hinaus jedenfalls dann, wenn die Mieter durchgehend seit dem Zeitraum, für den die Nebenkostenforderung erhoben wird, bis zu deren Geltendmachung und Fälligkeit im Leistungsbezug nach dem SGB II standen und eine Zusicherung hinsichtlich des Umzugs vorlag. Es besteht dann eine existenzsicherungsrechtlich relevante Verknüpfung der Nebenkostennachforderung für die in der Vergangenheit bewohnte Wohnung mit dem aktuellen unterkunftsbezogenen Bedarf, weil sowohl die Entstehung der Nachforderung als auch ihre Fälligkeit einen Zeitraum der ununterbrochenen Hilfebedürftigkeit betrifft, in dem der SGB II-Träger für die unterkunftsbezogenen Bedarfe der Leistungsbezieher einschließlich der Nebenkosten aufzukommen hat. Zu berücksichtigen ist auch, dass es eine faktische Umzugssperre bewirken könnte, würden Nachforderungen für eine frühere Wohnung bei durchgehender Hilfebedürftigkeit nicht übernommen, weil Leistungsbezieher sich dann dem Risiko ausgesetzt sähen, nur wegen nicht auskömmlich festgesetzter Nebenkostenvorauszahlungen mit Schulden belastet zu werden, zumal sie die Höhe der Abschläge regelmäßig nicht beeinflussen können. Im Übrigen mindert eine Nebenkostenerstattung unabhängig von der Frage eines vorangegangenen Umzugs nach § 22 Abs 3 SGB II die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Zudem könnten Folgeprobleme für die aktuelle Wohnsituation drohen, sei es, dass die neue Wohnung beim Vermieter der früheren Wohnung gemietet ist, oder sei es, dass für die Heizenergieversorgung derselbe Energielieferant zuständig ist, und deshalb Zahlungsschwierigkeiten aus dem früheren Miet- oder Versorgungsverhältnis auf die gegenwärtigen Rechtsbeziehungen durchschlagen, was wiederum Beratungspflichten auf Seiten der Jobcenter auslösen würde (vgl nur BSG vom 24. 11. 2011 – B 14 AS 15/11 R – SozR 4—4200 § 22 Nr 53 RdNr 16 ff mwN).
[16] 5. Einer Übernahme der anteiligen Nebenkostennachforderung steht auch nicht entgegen, dass diese Nachforderung an M – den früheren Lebensgefährten der Klägerin zu 1 – adressiert war, da sowohl für laufende Aufwendungen als auch für Nachforderungen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich vom Kopfteilprinzip auszugehen ist und ein Auszug nicht zur Aufhebung dieses Prinzips führt. Bei der Anwendung des Kopfteilprinzips kommt es gerade nicht darauf an, wer zivilrechtlich Hauptmieter einer Wohnung ist.