Rechtliche Beurteilung des Tornado-Überflugs über Demonstranten-Camp vor G8-Gipfel in Heiligendamm bedarf weiterer Aufklärung

BVerwG, Mitteilung vom 26. 10. 2017 – 72/17 (lexetius.com/2017,2992)

[1] Ob der Überflug des so genannten Camp Reddelich am 5. Juni 2007 durch ein Kampfflugzeug der Bundeswehr des Typs Tornado rechtswidrig war und Personen, die sich – wie die Kläger – zum Zeitpunkt des Überfluges in dem Camp aufhielten, in ihren Rechten verletzt hat, bedarf der weiteren Aufklärung. Deshalb hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern, mit denen es die Feststellungsklagen der Kläger abgewiesen hatte, aufgehoben und die Sachen an die Vorinstanz zurückverwiesen.
[2] Im Vorfeld des Gipfeltreffens der acht großen Industriestaaten (G8), das vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm stattfand, beantragte das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern beim Bundesministerium der Verteidigung, im Wege der Amtshilfe Überflüge der Region um den Austragungsort durchzuführen und dabei Luftbildaufnahmen anzufertigen. Hierdurch sollten mögliche Erddepots erkannt sowie Manipulationen an wichtigen Straßenzügen erfasst werden. Ab Ende Mai 2007 errichteten Gegner des Gipfeltreffens in der Gemeinde Reddelich ein Camp für die Unterkunft von bis zu 5 000 Personen, die an Protestaktionen teilnehmen wollten. Am 5. Juni 2007 überflog ein Kampfflugzeug der Bundeswehr vom Typ Tornado gegen 10. 30 Uhr das Camp in einer Höhe von ca. 114 m. Auf einem Teil der hierbei gefertigten und von der Bundeswehr zur Auswertung an die Polizeidirektion Rostock übermittelten Luftbilder sind das Camp sowie Personengruppen abgebildet, die sich dort befanden.
[3] Der Überflug und die Anfertigung der Aufnahmen erfolgten als Teilakte einer einheitlichen Gefahrerforschungsmaßnahme in Amtshilfe für die zuständige Landespolizeibehörde und sind dieser daher insgesamt zuzurechnen. Der Überflug stellt zwar keinen zielgerichteten, aber einen faktischen Eingriff in das Grundrecht der Kläger auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) dar. Dieses ist nicht auf den Zeitraum der Durchführung der Versammlung begrenzt, sondern entfaltet seine Wirkung bereits im Vorfeld.
[4] Ein faktischer Eingriff ist jedenfalls dann gegeben, wenn das staatliche Handeln einschüchternd oder abschreckend wirkt bzw. geeignet ist, die freie Willensbildung und die Entschließungsfreiheit derjenigen Personen zu beeinflussen, die an Versammlungen teilnehmen wollen. Dies kann nur aufgrund einer Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgestellt werden, bei der nicht die subjektive Bewertung einzelner konkret betroffener Personen maßgeblich, sondern ein objektiver Beurteilungsmaßstab anzulegen ist. Betrifft die staatliche Maßnahme nicht eine laufende Versammlung, sondern lediglich den geschützten Vorfeldbereich, ist bei der Gesamtwürdigung ein umso strengerer Maßstab anzulegen, je größer die räumliche oder zeitliche Entfernung zu der geschützten Versammlung ist und je weniger für die späteren Versammlungsteilnehmer daher ein Bezug der Maßnahme zu der späteren Versammlung erkennbar ist. Nach diesem Maßstab hatte der Überflug des Kampfflugzeuges über das Camp in einer Höhe von nur 114 m aus der Sicht eines durchschnittlichen Betroffenen im Hinblick auf die extreme Lärmentfaltung, den angsteinflößenden Anblick und die Überraschungswirkung im Kontext der Vorbereitung der Demonstrationen gegen den G8-Gipfel einschüchternde Wirkung.
[5] Der Überflug stellte keinen vom Grundgesetz verbotenen Einsatz der Streitkräfte im Inneren dar und war nicht aus diesem Grund rechtswidrig. Da der Überflug lediglich der anderweitig nicht möglichen Aufklärung der Sachlage durch Luftbilder im Vorfeld der Feststellung einer konkreten Gefahr diente, ist er als technische Unterstützungsleistung der Bundeswehr im Wege der Amtshilfe für die Sicherheitsbehörden anzusehen.
[6] Ob der Überflug als Maßnahme der Gefahrerforschung auf der Grundlage des Landespolizeirechts gerechtfertigt war, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprach, konnte das Bundesverwaltungsgericht auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht abschließend entscheiden.
BVerwG, Urteil vom 25. 10. 2017 – 6 C 45.16; OVG Greifswald