Europäischer Gerichtshof
Die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß sie der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einem Tonträgerhersteller in diesem Mitgliedstaat gestatten, sich auf die ihm zustehenden ausschließlichen Rechte zur Vervielfältigung und Verbreitung bestimmter Musikwerke zu berufen, um den Vertrieb von Tonträgern der gleichen Musikwerke im Gebiet dieses Mitgliedstaats verbieten zu lassen, wenn diese Tonträger aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt werden, in dem sie ohne die Zustimmung des Inhabers der Rechte oder seines Lizenznehmers rechtmässig in den Verkehr gebracht worden sind und in dem eine Schutzfrist für die Hersteller dieser Tonträger zwar bestanden hat, aber inzwischen abgelaufen ist.
EuGH, Urteil vom 24. 1. 1989 – C-341/87 (lexetius.com/1989,45)
[1] 1. Das Landgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 2. Oktober 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 3. November 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Urheberrechts an Musikwerken mit diesen Bestimmungen vereinbar ist.
[2] 2. Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der EMI Electrola GmbH, einem deutschen Unternehmen, an das die britische Gesellschaft EMI Records Ltd die Vervielfältigungs – und Verbreitungsrechte an den von einem bekannten britischen Sänger interpretierten Musikwerken abgetreten hatte, und zwei anderen deutschen Unternehmen, den Firmen Patricia Im – und Export und Lüne-ton, die in der Bundesrepublik Deutschland aus Dänemark stammende Tonträger mit Aufnahmen einiger dieser Musikwerke vertrieben haben.
[3] 3. EMI Electrola, die sich auf eine Verletzung ihrer ausschließlichen Rechte zur Verbreitung der Tonträger mit Aufnahmen der streitigen Musikwerke im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland berief, erhob gegen die Firmen Patricia und Lüne-ton beim Landgericht Hamburg Klage auf Unterlassung des Vertriebs der aus Dänemark eingeführten Tonträger und auf Schadensersatz. Die beiden Beklagten machten jedoch geltend, daß die streitigen Tonträger in Dänemark rechtmässig in den Verkehr gebracht worden seien, da die nach den dänischen urheberrechtlichen Bestimmungen vorgesehene Schutzfrist für die ausschließlichen Rechte bereits abgelaufen sei.
[4] 4. Aus den Akten ergibt sich, daß die streitigen Tonträger im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von der Firma Patricia im Auftrag eines dänischen Unternehmens hergestellt, anschließend an dieses Unternehmen nach Dänemark geliefert und dann wieder in die Bundesrepublik Deutschland ausgeführt wurden. An dieses dänische Unternehmen hatte EMI Records Ltd die Verbreitungs – und Vervielfältigungsrechte an den streitigen Musikwerken für das dänische Hoheitsgebiet nicht abgetreten.
[5] 5. Das nationale Gericht hält die Klage von EMI Electrola nach deutschem Recht für begründet, meint aber, daß man sich fragen könne, ob nicht die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag der Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften entgegenstünden. Zur Lösung dieses Problems hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfrage vorgelegt:
[6] "Ist es mit den Vorschriften über den freien Warenverkehr (Artikel 30 ff. EWG-Vertrag) vereinbar, wenn der Tonträgerhersteller im Mitgliedsland A die ihm hier zustehenden ausschließlichen Rechte zur Vervielfältigung und zum Vertrieb bestimmter Musikwerke dadurch ausübt, daß er den Vertrieb von im Mitgliedsland B hergestellten und vertriebenen Tonträgern der gleichen Musikwerke für den Bereich des Mitgliedslandes A verbieten lässt, wenn im Mitgliedsland B eine Schutzfrist der Tonträgerhersteller für diese Musikwerke zwar bestanden hat, aber bereits abgelaufen ist?"
[7] 6. Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts der Rechtssache sowie des Verfahrens und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
[8] 7. Nach Artikel 36 EWG-Vertrag stehen die Bestimmungen des Artikels 30, die alle Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmässige Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten verbieten, Einfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die zum Schutze des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Dieser Schutz umfasst den des Eigentums an literarischen und künstlerischen Werken, darunter das Urheberrecht, vor allem soweit dieses kommerziell genutzt wird. Er schließt daher auch den Schutz der ausschließlichen Vervielfältigungs – und Verbreitungsrechte an Tonträgern ein, der nach den geltenden nationalen Rechtsvorschriften dem Schutz des Urheberrrechts gleichgestellt ist.
[9] 8. Die Artikel 30 und 36 bezwecken also, die Erfordernisse des freien Warenverkehrs und die Wahrung der berechtigten Ausübung der ausschließlichen Eigentumsrechte an literarischen und künstlerischen Werken miteinander in Einklang zu bringen. Dies bedeutet insbesondere, daß jeder mißbräuchlichen Ausübung dieser Rechte, die geeignet ist, künstliche Abschottungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes beizubehalten oder zu schaffen, der Schutz versagt wird.
[10] 9. Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, daß sich der Inhaber eines Urheberrechts nicht auf das ihm durch dieses Recht verliehene ausschließliche Verwertungsrecht berufen kann, um die Einfuhr von Tonträgern zu verhindern oder zu beschränken, die auf dem Markt eines anderen Mitgliedstaats von dem Rechtsinhaber selbst oder mit seiner Zustimmung rechtmässig in den Verkehr gebracht worden sind (Urteil vom 20. Januar 1981 in den verbundenen Rechtssachen 55 und 57/80, Musik-Vertrieb Membran, Slg. 1981, 147).
[11] 10. Diese Situation unterscheidet sich jedoch von der von dem vorlegenden Gericht erwähnten. Wie sich nämlich aus der Vorlagefrage ergibt, beruht die Tatsache, daß die Tonträger auf dem Markt eines anderen Mitgliedstaats rechtmässig in den Verkehr gebracht worden sind, nicht auf einer Handlung oder der Zustimmung des Inhabers des Urheberrechts oder seines Lizenznehmers, sondern auf dem Ablauf der nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Schutzfrist. Das aufgeworfene Problem ergibt sich also aus der Verschiedenheit der nationalen Rechtsvorschriften hinsichtlich der Frist des durch das Urheberrecht und die verwandten Rechte gewährleisteten Schutzes, eine Verschiedenheit, die sowohl die Dauer des Schutzes selbst als auch deren Modalitäten, wie den Zeitpunkt, zu dem die Schutzfrist beginnt, betrifft.
[12] 11. Dazu ist festzustellen, daß es beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts, der durch eine fehlende Harmonisierung oder Angleichung der Rechtsvorschriften über den Schutz des Eigentums an literarischen und künstlerischen Werken gekennzeichnet ist, Sache der nationalen Gesetzgeber ist, die Voraussetzungen und die Modalitäten dieses Schutzes festzulegen.
[13] 12. Soweit die Verschiedenheit der nationalen Rechtsvorschriften zu Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels mit Tonträgern führen kann, sind diese Beschränkungen nach Artikel 36 EWG-Vertrag gerechtfertigt, wenn sie auf dem Unterschied zwischen den Regelungen über die Schutzfrist beruhen und diese untrennbar mit dem Bestehen der ausschließlichen Rechte verknüpft ist.
[14] 13. Ein solcher Rechtfertigungsgrund wäre nicht gegeben, wenn die Handelsbeschränkungen, die die von dem Inhaber der ausschließlichen Rechte oder seinem Lizenznehmer angeführten nationalen Rechtsvorschriften auferlegen oder zulassen, ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Maßnahme zur Beschränkung des Handels darstellen könnten. Die Akten enthalten jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sich eine solche Situation in einem Fall wie dem vorliegenden ergeben könnte.
[15] 14. Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß die Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß sie der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einem Tonträgerhersteller in diesem Mitgliedstaat gestatten, sich auf die ihm zustehenden ausschließlichen Rechte zur Vervielfältigung und Verbreitung bestimmter Musikwerke zu berufen, um den Vertrieb von Tonträgern der gleichen Musikwerke im Gebiet dieses Mitgliedstaats verbieten zu lassen, wenn diese Tonträger aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt werden, in dem sie ohne die Zustimmung des Inhabers der Rechte oder seines Lizenznehmers rechtmässig in den Verkehr gebracht worden sind und in dem eine Schutzfrist für die Hersteller dieser Tonträger zwar bestanden hat, aber inzwischen abgelaufen ist.
Kosten
[16] 15. Die Auslagen der Regierung des Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs, der Regierung des Königreichs Spanien und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.