Europäischer Gerichtshof
Die Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 EWG-Vertrag stehen einer staatlichen Regelung, durch die es Versicherungsvermittlern untersagt ist, die von den Versicherungsgesellschaften erhaltenen Provisionen ganz oder teilweise an ihre Kunden abzugeben, nicht entgegen, wenn jeder Zusammenhang mit einem von Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag erfassten Verhalten von Unternehmen fehlt.

EuGH, Urteil vom 17. 11. 1993 – C-2/91 (lexetius.com/1993,20)

[1] 1. Das Kammergericht, Berlin, hat mit Beschluß vom 26. November 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Januar 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 Absatz 1 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt, um beurteilen zu können, ob eine staatliche Regelung, die eine Einschränkung des Wettbewerbs zwischen den Wirtschaftsteilnehmern bewirkt, mit diesen Vorschriften vereinbar ist.
[2] 2. Diese Frage stellt sich in einem Verfahren über eine Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten (Bundesrepublik Deutschland), mit dem gegen ihn eine Geldbusse wegen Verstosses gegen die Regelung über die Versicherungsaufsicht verhängt wurde, nach der die Abführung von Provisionen an die Kunden untersagt ist.
[3] 3. Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, besteht die berufliche Tätigkeit des Betroffenen in der Beratung in finanziellen Fragen, namentlich in bezug auf Versicherungsverträge. Im Rahmen dieser Tätigkeit führte er zwischen März 1987 und Juli 1988 in sechs Fällen die beim Abschluß von Versicherungsverträgen von den Versicherungsgesellschaften erhaltene Provision an seine Kunden ab. Dabei handelte es sich um drei Krankenversicherungs- und drei Rechtsschutzversicherungsverträge.
[4] 4. Die Provisionsabgabe ist in der Bundesrepublik Deutschland für die Krankenversicherung durch die Anordnung des Reichsaufsichtsamts für Privatversicherung (nachstehend: Aufsichtsbehörde) über das Verbot der Gewährung von Sondervergütungen und des Abschlusses von Begünstigungsverträgen in der Krankenversicherung vom 5. Juni 1934 (nachstehend: Anordnung; veröffentlicht im Deutschen Reichsanzeiger und Preussischen Staatsanzeiger Nr. 129 vom 6. Juni 1934, S. 3) untersagt. Ziffer I der Anordnung lautet: "Den Versicherungsunternehmen und den Vermittlern von Versicherungsverträgen wird untersagt, dem Versicherungsnehmer in irgendeiner Form Sondervergütungen zu gewähren."
[5] 5. Das gleiche Verbot gilt im Bereich der Schadenversicherung und der Rechtsschutzversicherung aufgrund der Verordnung des Bundesaufsichtsamts für das Versicherungswesen (nachstehend ebenfalls: Aufsichtsbehörde) über das Verbot von Sondervergütungen und Begünstigungsverträgen in der Schadenversicherung vom 17. August 1982 (nachstehend: Verordnung; veröffentlicht im Bundesgesetzblatt I, S. 1243). In § 1 der Verordnung heisst es: "(1) Den unter Bundesaufsicht stehenden Versicherungsunternehmen und den Vermittlern der bei ihnen abgeschlossenen Versicherungsverträge über Risiken der Schaden- und Unfallversicherung, der Kredit- und Kautionsversicherung sowie der Rechtsschutzversicherung ist untersagt, den Versicherungsnehmern in irgendeiner Form Sondervergütungen zu gewähren. (2) Sondervergütung ist jede unmittelbare oder mittelbare Zuwendung neben den Leistungen auf Grund des Versicherungsvertrages, insbesondere jede Provisionsabgabe."
[6] 6. Die Anordnung und die Verordnung wurden von der Aufsichtsbehörde auf der Grundlage des Gesetzes über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen vom 12. Mai 1901 (Versicherungsaufsichtsgesetz, RGBl. S. 139) erlassen. Gemäß § 81 Absatz 2 Satz 3 des Versicherungsaufsichtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Oktober 1983 (BGBl. I S. 1261) kann die Aufsichtsbehörde "allgemein oder für einzelne Versicherungszweige den Versicherungsunternehmen und Vermittlern von Versicherungsverträgen untersagen, dem Versicherungsnehmer in irgendeiner Form Sondervergütungen zu gewähren".
[7] 7. Da der Betroffene nach Auffassung des Amtsgerichts Tiergarten durch die Abgabe seiner Provision an seine Kunden gegen die genannte Regelung verstossen hatte, setzte dieses Gericht gegen ihn eine Geldbusse von 1 850 DM fest. Der Betroffene legte hiergegen beim Kammergericht eine Rechtsbeschwerde ein, mit der er geltend macht, daß die Regelung gegen die Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verstosse.
[8] 8. Das Kammergericht ist der Ansicht, daß der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt, und hat dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
[9] Sind die Regelungen in Ziffer I der Anordnung des Deutschen Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung über das Verbot der Gewährung von Sondervergütungen und des Abschlusses von Begünstigungsverträgen in der Krankenversicherung vom 5. Juni 1934 (Nr. 129 des Deutschen Reichsanzeigers und Preussischen Staatsanzeigers vom 6. Juni 1934) und in § 1 der Verordnung des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen über das Verbot von Sondervergütungen und Begünstigungsverträgen in der Schadenversicherung vom 17. August 1982 (BGBl. I S. 1243 = VerBAV 1982, 456), durch die es – auch – selbständigen Versicherungsvermittlern untersagt ist, Sondervergütungen durch Provisionsabgabe zu gewähren, mit den Artikeln 3 Buchstabe f, 5 und 85 Absatz 1 EWG-Vertrag unvereinbar und deshalb unanwendbar?
[10] 9. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
[11] 10. Vorab ist festzustellen, daß der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 177 EWG-Vertrag nicht über die Vereinbarkeit von innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu entscheiden hat; er kann jedoch dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, über die Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit der gemeinschaftlichen Regelung zu befinden.
[12] 11. Die Frage des Kammergerichts ist somit dahin zu verstehen, ob die Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 EWG-Vertrag einer staatlichen Regelung entgegenstehen, durch die es Versicherungsvermittlern untersagt ist, die von den Versicherungsgesellschaften erhaltenen Provisionen ganz oder teilweise an ihre Kunden abzugeben.
Zum Vorliegen einer staatlichen Regelung
[13] 12. Die Aufsichtsbehörde ist eine Verwaltungsbehörde, die einem Ministerium (gegenwärtig dem Bundesministerium der Finanzen) nachgeordnet ist und kraft Gesetzes die Aufgabe hat, die Geschäftstätigkeit der Versicherungsunternehmen zu überwachen. Zu diesem Zweck kann die Aufsichtsbehörde unter anderem Rechtsvorschriften erlassen, mit denen Verhaltensweisen untersagt werden, die geeignet sind, die Interessen der Verbraucher zu beeinträchtigen. Auf dieser Grundlage erließ sie 1934 und 1982 die streitigen Maßnahmen.
[14] 13. Aus der Satzung und den Befugnissen der Aufsichtsbehörde ergibt sich, daß die fraglichen Maßnahmen den Charakter einer staatlichen Regelung haben. Daher ist zu prüfen, ob, wie der Betroffene meint, Artikel 85 in Verbindung mit den Artikeln 3 Buchstabe f und 5 Absatz 2 EWG-Vertrag einer derartigen Regelung entgegensteht.
Zur Auslegung der Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 EWG-Vertrag
[15] 14. Im Hinblick auf die Auslegung der Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 EWG-Vertrag ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 85 an sich nur das Verhalten von Unternehmen und nicht durch Gesetz oder Verordnung getroffene Maßnahmen der Mitgliedstaaten betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung dürfen die Mitgliedstaaten jedoch aufgrund von Artikel 85 in Verbindung mit Artikel 5 EWG-Vertrag keine Maßnahmen, und zwar auch nicht in Form von Gesetzen oder Verordnungen, treffen oder beibehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten. Nach der Rechtsprechung ist ein solcher Fall dann gegeben, wenn ein Mitgliedstaat gegen Artikel 85 verstossende Kartellabsprachen vorschreibt, erleichtert oder deren Auswirkungen verstärkt oder wenn er der eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, daß er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt (Urteil vom 21. September 1988 in der Rechtssache 267/86, Van Eycke, Slg. 1988, 4769, Randnr. 16).
[16] 15. Hierzu ist zunächst festzustellen, daß die deutsche Regelung über die Versicherungsaufsicht es weder vorschreibt noch erleichtert, daß die Vermittler eine verbotene Kartellabsprache treffen, da das in ihr ausgesprochene Verbot aus sich heraus wirksam ist.
[17] 16. Ferner ist zu prüfen, ob die Regelung eine Verstärkung einer wettbewerbsbeschränkenden Absprache bewirkt.
[18] 17. Insoweit ist unstreitig, daß dieser Regelung keine Absprache in den von ihr erfassten Bereichen – Krankenversicherung, Schadenversicherung und Rechtsschutzversicherung – vorausging.
[19] 18. Die Kommission hat jedoch geltend gemacht, daß einige Unternehmen ein Provisionsabgabeverbot für den Lebensversicherungsbereich vereinbart hätten und daß die Regelung die Tragweite dieser Absprache verstärkt habe, indem sie deren Geltung auf andere Bereiche ausgedehnt habe.
[20] 19. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Von einer für einen bestimmten Versicherungsbereich geltenden Regelung kann nur dann angenommen werden, daß sie die Auswirkungen zuvor bestehender Kartellabsprachen verstärkt, wenn sich diese Regelung darauf beschränkt, die Elemente einer zwischen den Wirtschaftsteilnehmern dieses Sektors geschlossenen Vereinbarung zu übernehmen.
[21] 20. Schließlich ist festzustellen, daß die Regelung selbst das Verbot von Sondervergütungen für Versicherungsnehmer aufstellt und die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen nicht privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt.
[22] 21. Nach alledem fällt eine Regelung der im Ausgangsverfahren streitigen Art nicht in die Kategorien staatlicher Regelungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die praktische Wirksamkeit der Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 EWG-Vertrag beeinträchtigen.
[23] 22. Die Frage des vorlegenden Gerichts ist daher so zu beantworten, daß die Artikel 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2 und 85 EWG-Vertrag einer staatlichen Regelung, durch die es Versicherungsvermittlern untersagt ist, die von den Versicherungsgesellschaften erhaltenen Provisionen ganz oder teilweise an ihre Kunden abzugeben, nicht entgegenstehen, wenn jeder Zusammenhang mit einem von Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag erfassten Verhalten von Unternehmen fehlt.
Kosten
[24] 23. Die Auslagen der belgischen, der dänischen, der deutschen, der griechischen, der spanischen, der französischen, der irischen, der italienischen, der niederländischen, der portugiesischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.