Europäischer Gerichtshof
Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr erlaubt es einem Fahrer nicht, von den Bestimmungen der Artikel 6, 7 oder 8 der Verordnung aus vor Antritt der Fahrt bekannten Gründen abzuweichen.

EuGH, Urteil vom 9. 11. 1995 – C-235/94 (lexetius.com/1995,442)

[1] 1. Der Crown Court Bolton hat mit Beschluß vom 10. Juni 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 19. August 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 12 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr (ABl. L 370, S. 1; im folgenden: Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[2] 2. Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Alan Bird, der angeklagt ist, in zwei Fällen gegen die Verordnung verstossen zu haben.
[3] 3. Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung lautet: "Die nachstehend 'Tageslenkzeit' genannte Gesamtlenkzeit zwischen zwei täglichen Ruhezeiten oder einer täglichen und einer wöchentlichen Ruhezeit darf 9 Stunden nicht überschreiten. Sie darf zweimal pro Woche auf 10 Stunden verlängert werden."
[4] 4. Artikel 7 Absatz 1 lautet wie folgt: "Nach einer Lenkzeit von 4 1/2 Stunden ist eine Unterbrechung von mindestens 45 Minuten einzulegen, sofern der Fahrer keine Ruhezeit nimmt."
[5] 5. Eine Abweichung von diesen Bestimmungen sieht Artikel 12 vor: "Wenn es mit der Sicherheit im Strassenverkehr vereinbar ist, kann der Fahrer, um einen geeigneten Halteplatz zu erreichen, von dieser Verordnung abweichen, soweit dies erforderlich ist, um die Sicherheit der Fahrgäste, des Fahrzeugs oder seiner Ladung zu gewährleisten. Der Fahrer hat Art und Grund der Abweichung von den Bestimmungen auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts oder in seinem Arbeitszeitplan zu vermerken."
[6] 6. Am 21. April 1994 verurteilte der Rochdale Magistrates' Court Alan Bird wegen Verstosses gegen die Artikel 6 und 7 der Verordnung. Am 13. Oktober 1992 hatte Alan Bird, der bei einem Transportunternehmen beschäftigt ist, ein Fahrzeug mehr als zehn Stunden lang zwischen zwei täglichen Ruhezeiten, und am 6. November 1992 mehr als viereinhalb Stunden ohne Unterbrechung geführt. In beiden Fällen hatten Alan Bird und sein Arbeitgeber bereits vor Antritt der Fahrt vorausgesehen, daß es nicht möglich sein würde, Artikel 6 und 7 der Verordnung nachzukommen. Es ist auch nachgewiesen, daß die Ladungen wertvoll waren und daß die Sicherheit im Strassenverkehr nicht gefährdet war.
[7] 7. Alan Bird legte gegen diese beiden Verurteilungen Rechtsmittel beim Crown Court Bolton ein. In diesem Rechtszug macht er insbesondere geltend, daß Artikel 12 der Verordnung zur Planung von Abweichungen von den anderen Bestimmungen der Verordnung ermächtige, um die Sicherheit der Ladung zu gewährleisten.
[8] 8. Der Crown Court hat wegen Zweifeln an der Auslegung dieser Bestimmung das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
[9] Ist Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr so auszulegen, daß sich der Fahrer, wenn er in einem Strafverfahren wegen Abweichung von den Bestimmungen über die Lenkzeit in den Artikeln 6, 7 und 8 der genannten Verordnung alle Voraussetzungen nach Artikel 12 für diese Abweichung erfüllt hat und das Gericht davon überzeugt ist, daß die Verkehrssicherheit hierdurch nicht gefährdet wird, und unter Berücksichtigung der Verpflichtung eines Transportunternehmens aus Artikel 15, zur Rechtfertigung dieser Abweichung auf Artikel 12 berufen kann, wenn vor Antritt der Fahrt bekannt war, daß eine Abweichung von den Bestimmungen der Artikel 6, 7 oder 8 nötig sein würde?
[10] 9. Mit seiner Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob Artikel 12 der Verordnung einem Fahrer erlaubt, von den Bestimmungen der Artikel 6, 7 oder 8 der Verordnung aus vor Antritt der Fahrt bekannten Gründen abzuweichen.
[11] 10. Artikel 12 der Verordnung steht im Abschnitt VII "Abweichungen", der auf eine sehr detaillierte Regelung folgt, die die Lenk- und Ruhezeiten genau festlegt. Daher können, wie der Gerichtshof bereits im Zusammenhang mit Sozialvorschriften auf dem Gebiet des Strassenverkehrs entschieden hat, Abweichungen nicht in einer Weise ausgelegt werden, die ihre Wirkung über das zum Schutz der von ihr gewährleisteten Interessen Erforderliche hinaus ausdehnt (Urteile vom 22. März 1984 in der Rechtssache 90/83, Paterson u. a., Slg. 1984, 1567, Randnr. 16, und vom 25. Juni 1992 in der Rechtssache C-116/91, British Gas, Slg. 1992, I-4071, Randnr. 12). Im vorliegenden Fall soll die in Artikel 12 vorgesehene Abweichung die Sicherheit der Fahrgäste sowie des Fahrzeugs und seiner Ladung gewährleisten.
[12] 11. Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut von Artikel 12, daß die Möglichkeit, von der Verordnung abzuweichen, nur dem Fahrer eingeräumt wird. Für dessen Arbeitgeber besteht sie somit nicht. Dem widerspräche es aber, wenn der Fahrer und sein Arbeitgeber vor Antritt der Fahrt vereinbaren könnten, der Verordnung nicht nachzukommen.
[13] 12. Ferner muß nach Artikel 12 der Fahrer die Notwendigkeit für eine Abweichung von der Verordnung beurteilen, einen geeigneten Halteplatz auswählen und Art und Grund der Abweichung auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts oder in seinem Arbeitsplan vermerken. Aus diesen Einzelheiten ergibt sich, daß nur an die Fälle gedacht ist, in denen sich erst während der Fahrt unerwartet herausstellt, daß die Verordnung nicht eingehalten werden kann.
[14] 13. Im übrigen erlaubt Artikel 12 Abweichungen nur unter der Voraussetzung, daß die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt wird. Vor Antritt der Fahrt können Fahrer und Arbeitgeber jedoch nicht beurteilen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist. Denn der Fahrer muß die Verpflichtung, die Verkehrssicherheit zu beachten, zu dem Zeitpunkt berücksichtigen, zu dem das unvorhergesehene Ereignis eintritt, das Anlaß zu einer Abweichung von der Verordnung geben kann.
[15] 14. Was den Kontext des Artikels 12 angeht, so müssen nach Artikel 15 Absatz 1 der Verordnung die Unternehmen die Arbeit der Fahrer so planen, daß diese die Verordnung einhalten können. Diese Bestimmung steht daher der Planung einer Abweichung durch das Unternehmen vor der Abfahrt des Fahrers entgegen.
[16] 15. Schließlich bezweckt die Verordnung die Verbesserung der Sicherheit im Strassenverkehr. Wie sich aus der vierzehnten Begründungserwägung ergibt, beschränkt die Verordnung zur Verwirklichung dieses Zieles die Lenkzeiten strikt. Diese Zielsetzung würde jedoch nicht beachtet, wenn der Fahrer schon vor Antritt der Fahrt von der Verordnung abweichen dürfte.
[17] 16. Zwar soll, wie der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens geltend macht, die Verordnung Nr. 3820/85 die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 543/69 des Rates vom 25. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Strassenverkehr (ABl. L 77, S. 49) flexibler gestalten, jedoch geht aus der ersten Begründungserwägung der Verordnung hervor, daß der Gesetzgeber die Ziele der Verordnung Nr. 543/69 nicht beeinträchtigen wollte.
[18] 17. Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß es Artikel 12 der Verordnung einem Fahrer nicht erlaubt, von den Bestimmungen der Artikel 6, 7 oder 8 der Verordnung aus vor Antritt der Fahrt bekannten Gründen abzuweichen.
Kosten
[19] 18. Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.