Vorstand der Volkswagen AG zur Erstellung eines Abhängigkeitsberichts verpflichtet

BGH, Mitteilung vom 7. 5. 1997 – 30/97 (lexetius.com/1997,489)

[1] Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, daß der Vorstand der Volkswagen AG im Hinblick auf die Beziehungen des Unternehmens zu dem Land Niedersachsen als seinem Großaktionär zur Erstellung eines Abhängigkeitsberichts für das Jahr 1993 verpflichtet ist.
[2] Ist ein Unternehmen in der Lage, auf ein anderes Unternehmen als dessen Großaktionär maßgeblichen Einfluß auszuüben, so besteht für das abhängige Unternehmen stets die Gefahr, daß sein herrschender Aktionär seinen Einfluß auf die Organe der Gesellschaft dazu benutzt, seine eigenen außerhalb der Gesellschaft verfolgten unternehmerischen Interessen zum Nachteil der abhängigen Gesellschaft, ihrer anderen Aktionäre und Gläubiger zu fördern. Um dieser Gefahr zu begegnen, verpflichtet das geltende deutsche Konzernrecht bei Nichtbestehen eines Beherrschungsvertrages den Vorstand der abhängigen Gesellschaft, die Beziehungen zu dem sie beherrschenden Unternehmen in einem Abhängigkeitsbericht (§ 312 AktG) offenzulegen, und das herrschende Unternehmen, etwaige Benachteiligungen der abhängigen Gesellschaft auszugleichen (§ 311 AktG). Nach Ansicht einer Aktionärsgemeinschaft traft den Vorstand der Volkswagen AG im Hinblick auf die Beziehungen dieses Unternehmens zu dem Land Niedersachsen als seinem Großaktionär die Pflicht zur Erstellung eines Abhängigkeitsberichts für das Jahr 1993. Der VW-Vorstand stellte eines solche Verpflichtung nachdrücklich in Abrede.
[3] Der Bundesgerichtshof, dem die Streitfrage zur Entscheidung vorgelegt worden war, hat der Aktionärsvereinigung Recht gegeben. Er hat im Anschluß an eine frühere Entscheidung aus dem Jahre 1977 (sog. VEBA-Gelsenberg-Entscheidung betr. die Beziehungen dieser Gesellschaft zu dem Bund als ihrem damaligen Großaktionär) erneut bekräftigt, daß nicht nur private natürliche oder juristische Personen, sondern auch Gebietskörperschaften Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne sein können. Über die damalige Entscheidung hinausgehend, die dies noch offenließ, hat der Senat jedoch befunden, daß dem Staat Unternehmenseigenschaft nicht nur dann zukommt, wenn er wirtschaftliche Interessen durch Halten noch weiterer wesentlicher Beteiligungen an anderen Unternehmen verfolgt. Denn anders als bei einer Privatperson als Großaktionär, von dem eine Gefahr der Benachteiligung der wirtschaftlichen Eigeninteressen der Gesellschaft nur dann ausgeht, wenn er unternehmerische Interessen auch noch außerhalb der Gesellschaft verfolgt, droht der Gesellschaft von der maßgeblichen Beteiligung einer Gebietskörperschaft diese Gefahr auch dann, wenn diese keine weiteren unternehmerischen Beteiligungen hält. Bei Beteiligung der öffentlichen Hand ist nämlich stets zu besorgen, daß sie nicht nur typische Aktionärsinteressen verfolgt, sondern ihren Einfluß als Großaktionär dazu benutzt, zum Nachteil der Gesellschaft und ihrer übrigen Aktionäre öffentliche Interessen allgemein politischer, wirtschaftslenkender oder arbeitsmarktpolitischer Art zu fördern. Die Wahrnehmung solcher Interessen zu Lasten der Gesellschaft und der übrigen Aktionäre ist ihr zwar nicht untersagt. Die der Gesellschaft dadurch zugefügten Nachteile seien jedoch in einem Abhängigkeitsbericht offenzulegen und in der vom Gesetz geforderten Weise auszugleichen. Zwar hält das Land Niedersachsen über seine Beteiligungsgesellschaft nur ein Aktienpaket von ca. 20 % des Grundkapitals der VW AG. Da die Präsenz in der Hauptversammlung von VW aber in den vorausgegangenen vier Jahren die Grenze von 40 % niemals überschritten hatte und das Land Niedersachsen überdies aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung zusätzlich das Recht hat, bei VW zwei Aufsichtsratssitze nach eigenem Ermessen zu besetzen, hat der Bundesgerichtshof jedenfalls für das Jahr 1993 auch einen maßgeblichen Einfluß des Landes auf die Volkswagen AG bejaht. Darüber hinaus hat er ausgesprochen, daß die Unterlassung der damals gebotenen Vorlage des Abhängigkeitsberichts den Vorstand nicht von dessen nachträglicher Erstattung entbindet.
BGH, Beschluss vom 7. 5. 1997 – II ZB 3/96