Europäischer Gerichtshof
"Markenrecht – Verwechslungsgefahr – Ähnlichkeit von Waren oder Dienstleistungen"
1. Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken ist dahin auszulegen, daß die Kennzeichnungskraft der prioritätsälteren Marke, insbesondere ihre Bekanntheit, bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Ähnlichkeit zwischen den durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen ausreicht, um eine Verwechslungsgefahr herbeizuführen.
2. Eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 89/104 kann auch dann bestehen, wenn für das Publikum die betreffenden Waren oder Dienstleistungen an unterschiedlichen Orten hergestellt oder erbracht werden. Dagegen ist das Bestehen einer solchen Gefahr ausgeschlossen, wenn sich nicht ergibt, daß das Publikum glauben könnte, daß die betreffenden Waren oder Erzeugnisse aus demselben Unternehmen oder gegebenenfalls aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen.

EuGH, Urteil vom 29. 9. 1998 – C-39/97 (lexetius.com/1998,925)

[1] In der Rechtssache C-39/97 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Bundesgerichtshof (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit Canon Kabushiki Kaisha gegen Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vormals Pathe Communications Corporation vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1) erläßt DER GERICHTSHOF unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter), H. Ragnemalm, M. Wathelet und R. Schintgen sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, G. Hirsch, P. Jann und L. Sevón, Generalanwalt: F. G. Jacobs Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen -der Firma Canon Kabushiki Kaisha, vertreten durch Rechtsanwalt Götz Jordan, Karlsruhe, -Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vormals Pathe Communications Corporation, vertreten durch Rechtsanwalt Wolf-W. Wodrich, Essen, -der französischen Regierung, vertreten durch Kareen Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Philippe Martinet, Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in dieser Direktion, als Bevollmächtigte, -der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, im Beistand von Avvocato dello Stato Oscar Fiumara, -der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Lindsey Nicoll, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, und Barrister Daniel Alexander, -der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Jürgen Grunwald und Berend Jan Drijber, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Firma Canon Kabushiki Kaisha, vertreten durch Rechtsanwalt Axel Rinkler, Karlsruhe, der Pathe Communications Corporation, jetzt Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vertreten durch Rechtsanwalt Wolf-W. Wodrich und Patentanwalt Joachim K. Zenz, Essen, der französischen Regierung, vertreten durch Anne de Bourgoing, Chargé de mission in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, der italienischen Regierung, vertreten durch Oscar Fiumara, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Daniel Alexander, und der Kommission, vertreten durch Jürgen Grunwald, in der Sitzung vom 20. Januar 1998, nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. April 1998, folgendes Urteil (1):
[2] 1. Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 12. Dezember 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[3] 2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der japanischen Firma Canon Kabushiki Kaisha (im folgenden: CKK) und der amerikanischen Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vormals Pathe Communications Corporation (im folgenden: MGM), im Anschluß an die von Pathe 1986 in Deutschland eingereichte Anmeldung des Wortzeichens "CANNON" für folgende Waren und Dienstleistungen: "auf Videokassetten aufgezeichnete Filme (Videofilmkassetten); Produktion, Verleih und Vorführung von Filmen für Lichtspieltheater und Fernsehanstalten".
[4] 3. Unter Berufung auf § 5 Absatz 4 Nummer 1 Warenzeichengesetz (ehemaliges Gesetz über Marken, im folgenden: WZG) hat CKK diesem Antrag beim Deutschen Patentamt mit der Begründung widersprochen, daß es mit ihrem prioritätsälteren Wortzeichen "Canon" kollidiere, das in Deutschland u. a. für folgende Waren eingetragen ist: "Steh- und Laufbildkameras und -projektoren; Fernsehaufnahme- und Fernsehaufzeichnungsgeräte, Fernsehübertragungsgeräte, Fernsehempfangs- und -wiedergabegeräte, einschließlich Band- und Plattengeräte für Fernsehaufnahme und -wiedergabe".
[5] 4. Der Erstprüfer des Deutschen Patentamts hat die zeichenrechtliche Übereinstimmung angenommen und die Eintragung daher mit der Begründung versagt, daß die beiderseitigen Waren und Dienstleistungen im Sinne von § 5 Absatz 4 Nummer 1 WZG gleichartig seien. Der Erinnerungsprüfer hat diesen Beschluß aufgehoben und den Widerspruch wegen fehlender Gleichartigkeit zurückgewiesen.
[6] 5. Die Beschwerde von CKK gegen die letztgenannte Entscheidung hat das Bundespatentgericht zurückgewiesen; dabei hat es die Gleichartigkeit der betroffenen Waren und Dienstleistungen im Sinne von § 5 Absatz 4 Nummer 1 WZG verneint. Eine Gleichartigkeit könne nur angenommen werden, wenn die Waren oder Dienstleistungen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und Verwendungsweise nach, insbesondere hinsichtlich ihrer regelmäßigen Fabrikations- und Verkaufsstätten, so enge Berührungspunkte aufwiesen, daß beim Durchschnittskäufer die Meinung aufkommen könne, sie stammten aus dem gleichen Geschäftsbetrieb, sofern übereinstimmende oder vermeintlich übereinstimmende Kennzeichnungen verwendet würden. Diese Voraussetzung liege hier nicht vor.
[7] 6. CKK hat gegen den Beschluß des Bundespatentgerichts Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt.
[8] 7. In seinem Vorlagebeschluß stellt der Bundesgerichtshof vorab fest, daß über die bei ihm anhängige Sache auf der Grundlage des Markengesetzes (am 1. Januar 1995 in Kraft getretenes neues deutsches Gesetz über Marken) zu entscheiden sei, durch das die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt worden sei und dessen § 9 Absatz 1 Nummer 2 Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie entspreche.
[9] 8. Die letztgenannte Vorschrift sieht folgendes vor: "(1) Eine Marke ist von der Eintragung ausgeschlossen oder unterliegt im Falle der Eintragung der Ungültigerklärung, … b) wenn wegen ihrer Identität oder Ähnlichkeit mit der älteren Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen besteht, die die Gefahr einschließt, daß die Marke mit der älteren Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird."
[10] 9. Um den Zusammenhang und die Bedeutung der Vorlagefrage deutlich werden zu lassen, trifft der Bundesgerichtshof dann folgende Feststellungen: -Im vorliegenden Fall seien die beiden Zeichen "CANNON" und "Canon" klanglich identisch und das Zeichen "Canon" sei eine bekannte Marke; des weiteren stammten – wie das Bundespatentgericht festgestellt habe – nach der Verkehrsauffassung "auf Videobandkassetten aufgezeichnete Filme (Videofilmkassetten)" und "Aufnahme- und Wiedergabegeräte für Videobänder (Videorecorder)" nicht aus demselben Herstellerbetrieb; -das Bundespatentgericht habe für seine Entscheidung, den Grundsätzen des WZG folgend, weder der Identität der Zeichen noch der Bekanntheit des Widerspruchszeichens Bedeutung beigemessen; -da nunmehr das Markengesetz anzuwenden sei, sei zu bestimmen, welche Kriterien zur Auslegung des Begriffes der "Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen" im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie Geltung hätten; -lasse man im Streitfall bei der Beurteilung der Verwechslungsgefahr die Bekanntheit der prioritätsälteren Marke mangels Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen außer Betracht, so könne die Rechtsbeschwerde der Widersprechenden auf der Grundlage der vom Bundespatentgericht getroffenen Feststellungen keinen Erfolg haben; -denkbar sei jedoch ein Verständnis von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie, wonach die Bekanntheit der prioritätsälteren Marke nicht nur geeignet sei, die der Marke als solche innewohnende Kennzeichnungskraft zu stärken, sondern auch dazu führen könne, bei der Beurteilung der Ähnlichkeit der von den Zeichen erfaßten Waren oder Dienstleistungen die Vorstellung des angesprochenen Verkehrs über deren Herkunftsstätte unberücksichtigt zu lassen; -nach dem Schrifttum könne es veranlaßt sein, bei der Prüfung der Verwechslungsgefahr im Sinne des Markengesetzes die Warenähnlichkeit dergestalt in eine Wechselbeziehung zum Ähnlichkeitsgrad der beteiligten Zeichen und der Kennzeichnungskraft der zu schützenden Marke zu stellen, daß die Warenähnlichkeit um so geringer sein könne, je näher sich die Zeichen stünden und je stärker die Kennzeichnungskraft der schutzsuchenden Marke sich darstelle.
[11] 10. Schließlich stellt der Bundesgerichtshof fest, die praktische Bedeutung, die die Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie habe, werde dadurch erhöht, daß das relative Eintragungshindernis des § 9 Absatz 1 Nummer 3 Markengesetz – durch den Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe a der Richtlinie umgesetzt werde, wonach die Mitgliedstaaten bei bekannten Marken in der Weise einen weitergehenden Schutz vorsehen könnten, daß sie von dem Erfordernis der Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen absähen – nicht im nationalen Widerspruchsverfahren, sondern nur mit einer Löschungsklage oder einer Markenverletzungsklage vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden könne.
[12] 11. Aufgrund dieser Erwägungen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt, um dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
[13] Kann bei der Beurteilung der Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen die Kennzeichnungskraft, insbesondere die Bekanntheit der prioritätsälteren Marke (zum Zeitpunkt des für den Zeitrang der jüngeren Marke maßgeblichen Tages), zu berücksichtigen sein, insbesondere dergestalt, daß die Verwechslungsgefahr im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b Markenrechtsrichtlinie auch dann zu bejahen ist, wenn der Verkehr die Waren und/oder Dienstleistungen unterschiedlichen Herkunftsstätten zuordnet?
[14] 12. In ihrem ersten Teil geht die Frage des Bundesgerichtshofs im wesentlichen dahin, ob Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie so auszulegen ist, daß die Kennzeichnungskraft der prioritätsälteren Marke, insbesondere ihre Bekanntheit, bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen ausreicht, um eine Verwechslungsgefahr herbeizuführen.
[15] 13. CKK, die französische und die italienische Regierung sowie die Kommission stimmen im wesentlichen darin überein, daß diese Frage zu bejahen ist.
[16] 14. MGM und die Regierung des Vereinigten Königreichs sind dagegen der Ansicht, daß die Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen objektiv und autonom zu beurteilen ist und daher die Kennzeichnungskraft und die Bekanntheit der prioritätsälteren Marke außer Betracht zu lassen sind.
[17] 15. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß in der zehnten Begründungserwägung der Richtlinie folgendes festgestellt wird: "Zweck des durch die eingetragene Marke gewährten Schutzes ist es, insbesondere die Herkunftsfunktion der Marke zu gewährleisten; dieser Schutz ist absolut im Falle der Identität zwischen der Marke und dem Zeichen und zwischen den Waren oder Dienstleistungen. Der Schutz erstreckt sich ebenfalls auf Fälle der Ähnlichkeit von Zeichen und Marke und der jeweiligen Waren oder Dienstleistungen. Es ist unbedingt erforderlich, den Begriff der Ähnlichkeit im Hinblick auf die Verwechslungsgefahr auszulegen. Die Verwechslungsgefahr stellt die spezifische Voraussetzung für den Schutz dar; ob sie vorliegt, hängt von einer Vielzahl von Umständen ab, insbesondere dem Bekanntheitsgrad der Marke im Markt, der gedanklichen Verbindung, die das benutzte oder eingetragene Zeichen zu ihr hervorrufen kann, sowie dem Grad der Ähnlichkeit zwischen der Marke und dem Zeichen und zwischen den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen."
[18] 16. Zweitens ist festzustellen, daß eine Verwechslungsgefahr für das Publikum, wie sie Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie ist, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls umfassend zu beurteilen ist (Urteil vom 11. November 1997 in der Rechtssache C-251/95, SABEL, Slg. 1997, I-6191, Randnr. 22).
[19] 17. Die umfassende Beurteilung der Verwechslungsgefahr impliziert eine gewisse Wechselbeziehung zwischen den in Betracht kommenden Faktoren, insbesondere der Ähnlichkeit der Marken und der Ähnlichkeit der damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen. So kann ein geringer Grad der Ähnlichkeit der gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen durch einen höheren Grad der Ähnlichkeit der Marken ausgeglichen werden und umgekehrt. Die Wechselbeziehung zwischen diesen Faktoren kommt nämlich in der zehnten Begründungserwägung der Richtlinie zum Ausdruck, wonach es unbedingt erforderlich ist, den Begriff der Ähnlichkeit im Hinblick auf die Verwechslungsgefahr auszulegen, deren Beurteilung ihrerseits insbesondere vom Bekanntheitsgrad der Marke auf dem Markt und dem Grad der Ähnlichkeit zwischen der Marke und dem Zeichen und zwischen den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen abhängt.
[20] 18. Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes hervor, daß die Verwechslungsgefahr um so größer ist, je größer sich die Kennzeichnungskraft der älteren Marke darstellt (Urteil SABEL, Randnr. 24). Da der Schutz einer eingetragenen Marke nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie vom Vorliegen einer Verwechslungsgefahr abhängt, genießen somit Marken, die, von Haus aus oder wegen ihrer Bekanntheit auf dem Markt, eine hohe Kennzeichnungskraft besitzen, einen umfassenderen Schutz als die Marken, deren Kennzeichnungskraft geringer ist.
[21] 19. Daraus folgt, daß die Eintragung einer Marke trotz eines eher geringen Grades der Ähnlichkeit zwischen den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie ausgeschlossen sein kann, wenn die Ähnlichkeit zwischen den Marken groß und die Kennzeichnungskraft der älteren Marke, insbesondere ihr Bekanntheitgrad, hoch ist.
[22] 20. Dieser Auslegung haben MGM und die Regierung des Vereinigten Königreichs entgegengehalten, daß die Berücksichtigung der mehr oder weniger großen Kennzeichnungskraft der älteren Marke bei der Prüfung der Ähnlichkeit zwischen den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen die Gefahr mit sich bringe, daß sich das Eintragungsverfahren in die Länge ziehe. Dagegen hat die französische Regierung vorgetragen, ihrer Erfahrung nach führe die Berücksichtigung dieses Faktors bei der Prüfung der Ähnlichkeit zwischen den gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen nicht dazu, daß das Eintragungsverfahren über Gebühr in die Länge gezogen oder kompliziert werde.
[23] 21. Hierzu ist festzustellen, daß dies – auch wenn man annimmt, daß die befürwortete Auslegung zu einer erheblichen Verlängerung des Eintragungsverfahrens führt – für die Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie nicht ausschlaggebend sein kann. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung ist auf jeden Fall sicherzustellen, daß Marken, deren Benutzung vor Gericht mit Erfolg entgegengetreten werden könnte, nicht eingetragen werden.
[24] 22. Für die Anwendung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b ist jedoch – selbst wenn eine Identität mit einer Marke besteht, deren Kennzeichnungskraft besonders ausgeprägt ist – weiterhin der Beweis zu erbringen, daß eine Ähnlichkeit zwischen den gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen besteht. Im Gegensatz zu dem, was z. B. in Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe a vorgesehen ist, der sich ausdrücklich auf die Fälle bezieht, in denen die Waren oder Dienstleistungen nicht ähnlich sind, sieht Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b nämlich vor, daß eine Verwechslungsgefahr eine Identität oder eine Ähnlichkeit der gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen voraussetzt.
[25] 23. Bei der Beurteilung der Ähnlichkeit der betroffenen Waren oder Dienstleistungen sind – darauf haben die französische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission hingewiesen – alle erheblichen Faktoren zu berücksichtigen, die das Verhältnis zwischen den Waren oder Dienstleistungen kennzeichnen. Zu diesen Faktoren gehören insbesondere deren Art, Verwendungszweck und Nutzung sowie ihre Eigenart als miteinander konkurrierende oder einander ergänzende Waren oder Dienstleistungen.
[26] 24. Nach alledem ist auf den ersten Teil der Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß die Kennzeichnungskraft der prioritätsälteren Marke, insbesondere ihre Bekanntheit, bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Ähnlichkeit zwischen den durch die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen ausreicht, um eine Verwechslungsgefahr herbeizuführen.
[27] 25. Der zweite Teil der Frage des Bundesgerichtshofs geht im wesentlichen dahin, ob eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie auch dann bestehen kann, wenn der Verkehr die betreffenden Waren oder Dienstleistungen unterschiedlichen Herkunftsstätten zuordnet.
[28] 26. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie besteht, wenn das Publikum sich in bezug auf die Herkunft der betreffenden Waren oder Dienstleistungen täuschen kann.
[29] 27. Zum einen geht nämlich aus Artikel 2 der Richtlinie hervor, daß eine Marke geeignet sein muß, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden; zum anderen wird in der zehnten Begründungserwägung der Richtlinie angegeben, daß es Zweck des durch die Marke gewährten Schutzes ist, insbesondere die Herkunftsfunktion der Marke zu gewährleisten.
[30] 28. Außerdem besteht nach ständiger Rechtsprechung die Hauptfunktion der Marke darin, dem Verbraucher oder Endabnehmer die Ursprungsidentität der gekennzeichneten Ware oder Dienstleistung zu garantieren, indem sie ihm ermöglicht, diese Ware oder Dienstleistung ohne Verwechslungsgefahr von Waren oder Dienstleistungen anderer Herkunft zu unterscheiden; damit die Marke ihre Aufgabe als wesentlicher Bestandteil des Systems eines unverfälschten Wettbewerbs, das der Vertrag errichten will, erfüllen kann, muß sie die Gewähr bieten, daß alle Waren oder Dienstleistungen, die mit ihr versehen sind, unter der Kontrolle eines einzigen Unternehmens hergestellt oder erbracht worden sind, das für ihre Qualität verantwortlich gemacht werden kann (siehe u. a. Urteil vom 17. Oktober 1990 in der Rechtssache C-10/89, HAG II, Slg. 1990, I-3711, Randnrn. 14 und 13).
[31] 29. Daher liegt eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie dann vor, wenn das Publikum glauben könnte, daß die betreffenden Waren oder Dienstleistungen aus demselben Unternehmen oder gegebenenfalls aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen (siehe in diesem Sinn das Urteil SABEL, Randnrn. 16 bis 18). Wie der Generalanwalt in Nummer 30 seiner Schlußanträge festgestellt hat, genügt es für die Verneinung dieser Verwechslungsgefahr folglich nicht, lediglich nachzuweisen, daß für das Publikum keine Verwechslungsgefahr in bezug auf den Ort besteht, an dem die betreffenden Waren oder Dienstleistungen hergestellt oder erbracht werden.
[32] 30. Auf den zweiten Teil der Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie auch dann bestehen kann, wenn für das Publikum die betreffenden Waren oder Dienstleistungen an unterschiedlichen Orten hergestellt oder erbracht werden. Dagegen ist das Bestehen einer solchen Gefahr ausgeschlossen, wenn sich nicht ergibt, daß das Publikum glauben könnte, daß die betreffenden Waren oder Dienstleistungen aus demselben Unternehmen oder gegebenenfalls aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen.
Kosten
[33] 31. Die Auslagen der französischen Regierung, der italienischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
1: Verfahrenssprache: Deutsch