Bundesgerichtshof überdenkt Rechtsprechung zum Schutz selektiver Vertriebssysteme – Wettbewerbsrechtlicher Anspruch gegen Außenseiter in Frage gestellt -

BGH, Mitteilung vom 15. 7. 1999 – 60/99 (lexetius.com/1999,2272)

[1] Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einer Anfrage an einen anderen Senat des Bundesgerichtshof Änderungen der Rechtsprechung zum Schutz selektiver Vertriebssysteme vorgeschlagen. In einer zweiten Entscheidung hat der Senat seine Rechtsprechung schon in einem wichtigen Punkt ergänzt.
[2] 1. In dem der ersten Entscheidung zugrundeliegenden Rechtsstreit hatte die Vereinigung der VW- und Audi-Händler einen freien Autohändler aus der Nähe von Lüdenscheid in Anspruch genommen, der – ohne Vertragshändler zu sein – Fahrzeuge der Marken VW und Audi, die aus dem EG-Ausland reimportiert worden waren, als "EG-Neuwagen" angeboten hatte. Die Klägerin hatte sich auf den Standpunkt gestellt, die Fahrzeuge stammten von einem Vertragshändler, der sie trotz des vertraglichen Verbots, die Fahrzeuge an andere Händler zu verkaufen, weiterveräußert habe. Die Vorinstanzen hatten die Klage der Händlervereinigung abgewiesen, weil das Vertriebssystem von VW und Audi – wie ein Blick in den Anzeigenteil einer beliebigen Zeitung erweise – auch sonst offensichtliche Lücken aufweise.
[3] In der Vergangenheit hat der Bundesgerichtshof das Verhalten eines Außenseiters als unlauter angesehen, der – ohne zum Vertriebssystem des Herstellers zu gehören – Waren anbietet, die nur durch den Vertragsbruch eines dem System angehörenden Händlers auf den sogenannten grauen Markt gelangt sein können. Dieser Anspruch hatte jedoch zur Voraussetzung, daß es sich um ein gedanklich und praktisch lückenloses Vertriebssystem handelte, daß also alle Händler in derselben Weise gebunden (gedankliche Lückenlosigkeit) und gleichwohl entstehende Lücken unverzüglich durch geeignete Maßnahmen des Herstellers wieder geschlossen wurden (praktische Lückenlosigkeit). Das Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit hatte sich dabei in der Vergangenheit als eine nur schwer zu überwindende Hürde erwiesen. Vor dem Bundesgerichtshof hatte sich die Klägerin unter anderem darauf berufen, das Merkmal der praktischen Lückenlosigkeit verlange von dem Hersteller Unmögliches; es sei daher an der Zeit, dieses von der Rechtsprechung aufgestellte Erfordernis zu überdenken.
[4] Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in dem gestern verkündeten Beschluß die Ansicht vertreten, daß an dem Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit nicht mehr festgehalten werden solle. Er hat aber darüber hinaus den von der Rechtsprechung in der Vergangenheit grundsätzlich bejahten, aus § 1 UWG hergeleiteten Anspruch gegen den Außenseiter in Frage gestellt und gemeint, es solle generell nicht mehr als unlauter angesehen werden, wenn ein Außenseiter Waren anbietet, die er unter der bloßen Ausnutzung des Vertragsbruchs eines Vertragshändlers erworben hat. Nur in Fällen, in denen der Außenseiter den Vertragshändler getäuscht oder zum Vertragsbruch verleitet hat, solle der Außenseiter auf Unterlassung in Anspruch genommen werden können. Auch sonst gelte im Wettbewerbsrecht der Grundsatz, daß das bloße Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs nicht wettbewerbswidrig sei. Die bisherige Rechtsprechung habe zur Folge, daß aus den vertraglichen Verpflichtungen, die zwischen dem Hersteller und dem Händler bestehen, allgemein wirkende, auch Dritte bindende Pflichten entstünden.
[5] Die vom I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in dem gestern verkündeten Beschluß vertretene Auffassung würde allerdings nicht nur zu einer Änderung der Rechtsprechung dieses Senats führen. Ein Teil der Entscheidungen, von denen der I. Zivilsenat abweichen möchte, stammen vom Kartellsenat des Bundesgerichtshofs. Mit dem Beschluß fragt der I. Zivilsenat beim Kartellsenat an, ob er an der in den früheren Entscheidungen zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung festhalte. Die Anfrage hat den Zweck, eine sonst in Fällen der Divergenz nach dem Gesetz erforderliche Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen zu vermeiden.
[6] 2. Die zweite gestern verkündete Entscheidung betrifft ein selektives Vertriebssystem für Parfums der Marken Davidoff, JOOP!, Jil Sander, Bogner, Monteil und Chopard. Diese Produkte werden von der Klägerin dieses Verfahrens nur an ausgewählte Depositäre verkauft, die die Ware ebenfalls nicht an außerhalb des Systems stehende Händler weiterverkaufen dürfen. Zur Kontrolle ihres Systems hatte die Klägerin auf der Verpackung eine zehnstellige Nummer angebracht. Diese Nummer ermöglicht es ihr, den Vertriebsweg einer von einem Außenseiter angebotenen Parfumflasche zurückzuverfolgen. Gleichzeitig dient die Nummer der Feststellung, aus welcher Charge die konkrete Parfumflasche stammt. Nach der Kosmetikverordnung müssen Kosmetika mit einer solchen Nummer zur Identifizierung der Herstellung versehen sein. Die beklagte Händlerin gehört nicht zum Vertriebssystem der Klägerin. Sie hatte Parfums der Klägerin im Sortiment, bei denen die letzten vier oder fünf Stellen der erwähnten Nummer entfernt worden waren. Die Klägerin nahm sie deswegen in Anspruch, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß der Vertrieb der Kosmetika mit veränderter Herstellungsnummer gegen die Kosmetikverordnung verstoße, worin gleichzeitig ein Wettbewerbsverstoß unter dem Gesichtspunkt eines Rechtsbruchs liege. Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte der Klage wie schon das Landgericht stattgegeben. Anders als die Vorinstanz hatte das Oberlandesgericht aber auch die Widerklage der beklagten Händlerin für begründet gehalten, mit der diese verlangt hatte, daß die Klägerin die Herstellungsnummern in Zukunft nur noch für Zwecke der Kosmetikverordnung, nicht dagegen zur Kontrolle ihres Vertriebssystems verwendet.
[7] Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil insoweit bestätigt, als es um die Klage ging, die Widerklage hat er jedoch abgewiesen. Er hat in diesem Zusammenhang klargestellt, daß der Hersteller, der ein rechtlich wirksames und von der Rechtsordnung auch nicht mißbilligtes Vertriebssystem aufgebaut hat, Kontrollnummern einsetzen kann, um die Vertragstreue seiner Händler zu überwachen. Der Ansicht des Oberlandesgerichts, nur ein praktisch lückenloses Vertriebssystem sei von der Rechtsordnung gebilligt, hat der Bundesgerichtshofs widersprochen. Unabhängig davon, ob an dem Erfordernis der praktischen Lückenlosigkeit für den Anspruch gegen den Außenseiter festgehalten werden könne, sei ein System nicht bereits dann von der Rechtsordnung mißbilligt, wenn sich Lücken zeigten. Denn dem Schließen dieser Lücken solle ja gerade der Einsatz der Kontrollnummern dienen.
BGH, Beschluss vom 15. 7. 1999 – I ZR 130/96