Bundesgerichtshof
VVG § 39
Der Verzug eines Versicherungsnehmers mit Zinsen für ein sogenanntes Policendarlehen löst nicht die Rechtsfolgen des § 39 VVG aus.

BGH, Urteil vom 27. 1. 1999 – IV ZR 72/98; OLG München (lexetius.com/1999,709)

[1] Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter Dr. Schmitz, die Richter Römer, Dr. Schlichting, Seiffert und die Richterin Ambrosius auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 1999 für Recht erkannt:
[2] Die Revision gegen das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München mit dem Sitz in Augsburg vom 30. Januar 1998 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
[3] Tatbestand: Der Kläger beansprucht von der Beklagten ab November 1995 Rentenleistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Diese hatte er im Oktober 1988 zu einer Kapital-Lebensversicherung abgeschlossen. Im März 1995 gewährte die Beklagte dem Kläger unter Beleihung der Lebensversicherung ein sogenanntes Policendarlehen in Höhe von 9.600 DM. Mit Schreiben vom 27. März 1995 stellte die Beklagte Zinsen in Höhe von 284,70 DM in Rechnung.
[4] Am 18. April 1995 erlitt der Kläger in seinem Büro einen Unfall, bei dem er sich einen Bruch des 12. Brustwirbels zuzog. Er ist deswegen sechs Monate ununterbrochen vollständig außerstande gewesen, seinen Beruf als Handelsvertreter oder eine andere zumutbare Tätigkeit auszuüben.
[5] Der Kläger geriet mit den Prämien für Juni bis einschließlich August 1995 in Verzug. Die Beklagte verlangte mit Schreiben vom 11. August 1995 die Zahlung eines rückständigen Betrages von 1.643,20 DM (Prämienrückstände von 1.348,50 DM, Zinsen für das Policendarlehen von 284,70 DM und Mahnkosten von 10 DM) innerhalb von zwei Wochen ab Zugang ihres Schreibens und kündigte das Versicherungsverhältnis für den Fall der nicht rechtzeitigen Zahlung. Auf die sich aus § 39 Abs. 2 und 3 VVG ergebenden Rechtsfolgen wies die Beklagte hin. Der Kläger beglich daraufhin innerhalb eines Monats nach Ablauf der Zweiwochenfrist die Prämien, blieb hingegen die Zinsen für das Policendarlehen weiter schuldig. Mit Schreiben vom 11. November 1995 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß sich infolge der Einstellung der Beitragszahlung der Versicherungsschutz reduziert habe und gemäß § 39 VVG eine Beitragsfreistellung zum 31. August 1995 vorgenommen werde.
[6] In der Folgezeit bat der Kläger die Beklagte um Wiederherstellung des gekündigten Versicherungsverhältnisses. Mit Schreiben vom 10. Dezember 1995 gab die Beklagte die rückständigen Beträge mit insgesamt 2.367,40 DM auf, die der Kläger beglich. Am 29. April 1996 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß sie aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung keine Leistungen gewähre, weil der Versicherungsfall am 18. Oktober 1995 und damit vor Zahlung der rückständigen Prämien eingetreten sei. Die zum 19. Dezember 1995 durchgeführte Wiederinkraftsetzung müsse sie hinsichtlich der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung rückgängig machen.
[7] Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte berufe sich zu Unrecht auf Leistungsfreiheit. Die Wirkung der Kündigung sei durch die nachträglichen Prämienzahlungen entfallen. Die Darlehenszinsen seien nicht richtig berechnet worden. Zudem seien diese nicht wie Prämien zu behandeln. Jedenfalls hätten die Parteien aber den Versicherungsvertrag im Dezember 1995 nachträglich wieder in Kraft gesetzt.
[8] Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.
[9] Entscheidungsgründe: Die Revision hat im Ergebnis keinen Erfolg.
[10] 1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung damit begründet, die Parteien hätten im Dezember 1995 die unveränderte Fortsetzung des früheren Vertragsverhältnisses vereinbart. Deshalb könne der Kläger, obwohl die Kündigung der Beklagten zunächst wirksam geworden sei, aus dem Versicherungsvertrag über die Berufsunfähigkeit Ansprüche herleiten. Ob die Annahme einer unveränderten Fortsetzung des früheren Versicherungsverhältnisses den Angriffen der Revision standhält, bedarf keiner Entscheidung. Das Urteil des Berufungsgerichts erweist sich im Ergebnis aus anderen Gründen als zutreffend.
[11] Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Wirkung der von der Beklagten ausgesprochenen Kündigung gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 VVG dadurch entfallen, daß der Kläger die fälligen Prämien innerhalb eines Monats nach Ablauf der Zahlungsfrist bezahlt hat. Das Berufungsgericht hat seine abweichende Ansicht damit begründet, die Wirkung der Kündigung habe nicht entfallen können, weil der Kläger es versäumt habe, innerhalb dieses Zeitraums auch die rückständigen Zinsen für das Policendarlehen nachzuentrichten. Diese habe der Kläger erst am 15. Dezember 1995 geleistet. Da zu diesem Zeitpunkt der Versicherungsfall bereits eingetreten gewesen sei, habe sich die Beklagte außerdem auf ihre Leistungsfreiheit nach § 39 Abs. 2 VVG berufen können.
[12] 2. a) Die Auffassung des Berufungsgerichts, Zinsen für ein Policendarlehen seien wie Prämien zu behandeln und bei Verzug der Zinszahlungen träten die Rechtsfolgen des § 39 Abs. 2 und 3 VVG ein, entspricht allgemeiner Meinung (Winter in Bruck/Möller, VVG 8. Aufl. 1988 5. Bd. 2. Halbbd. Anm. D 36; Goll/Gilbert/Steinhaus, Handbuch der Lebensversicherung 11. Aufl. 1992 S. 178 f; Goldberg/Müller, VAG 1980 § 10 Rdn. 69; Benkel/Hirschberg, Berufsunfähigkeits- und Lebensversicherung, 1990 ALB § 5 Rdn. 16; wohl auch Knappmann in Prölss/Martin, VVG 26. Aufl. § 35 Rdn. 2; vgl. auch Kollhosser in Prölss/Martin, aaO § 5 ALB 86 Rdn. 3 zu § 3 Nr. 2 ALB 86). Indessen ist – mit dem Landgericht – dieser Auffassung nicht zuzustimmen.
[13] Die Gleichstellung der Vergütung für das Policendarlehen mit der Versicherungsprämie wird damit begründet, daß es sich bei dem Policendarlehen nicht um ein Darlehen im Sinne der §§ 607 ff. BGB handele, sondern um eine Vorauszahlung auf die künftige Versicherungsleistung. Der Empfänger der Vorauszahlung brauche diese nicht wie bei einem Darlehen zurückzuzahlen. Der Anspruch des Versicherungsnehmers auf die Versicherungsleistung werde von vornherein um den Vorauszahlungsbetrag gekürzt. Bei den Zinsen für die Vorauszahlung handele es sich in Wahrheit um einen Prämienzuschlag. Dieser müsse dem Versicherungsnehmer deshalb in Rechnung gestellt werden, weil dem Versicherer in Höhe der Vorauszahlung der Zinsträger verloren gehe (vgl. insbes. Goll/Gilbert/Steinhaus, aaO). Diese Argumentation geht zurück auf eine Entscheidung des Reichsgerichts vom 9. Januar 1917 (RGZ 89, 305). In dem entschiedenen Fall ging es um die Frage, ob für Vorauszahlungen des Versicherers Abgaben an den preußischen Fiskus nach dem Reichsstempelgesetz zu leisten waren. Das Reichsgericht hat diese Frage bejaht. Es war nicht über die Rechtsfolgen zu entscheiden, die eintreten, wenn der Versicherungsnehmer mit der Zahlung der Zinsen für das Policendarlehen in Verzug gerät.
[14] b) Für die hier zu treffende Entscheidung kann offen bleiben, ob das sogenannte Policendarlehen in Wahrheit kein Darlehen ist und wie die Gegenleistung des Versicherungsnehmers bezeichnet werden soll. Denn auch wenn man davon ausgeht, daß der Versicherer eine Vorauszahlung auf die Versicherungsleistung gewährt und die Zinsen hierfür als "Zuschlag" zur Prämie anzusehen sind, folgt daraus noch nicht die Anwendung der Rechtsfolgen aus § 39 VVG. Zu den in § 39 Abs. 2 VVG genannten Zinsen und Kosten gehören nicht die Zinsen für eine Vorauszahlung. Gemeint sind Zinsen und Kosten, die im Zusammenhang mit dem Verzug der Prämie entstanden sind. Das sieht auch die Beklagte nicht anders. Die Gegenleistung für eine Vorauszahlung ist auch keine Prämie im Sinne des § 39 VVG. Prämie ist die vom Versicherungsnehmer geschuldete Gegenleistung für den vom Versicherer übernommenen Versicherungsschutz (vgl. Knappmann, aaO). Damit ist § 39 VVG schon nach seinem Wortlaut nicht unmittelbar anwendbar auf den Verzug des Versicherungsnehmers mit Gegenleistungen für eine Vorauszahlung.
[15] c) Auch eine sinngemäße oder entsprechende Anwendung des § 39 VVG kommt nicht in Betracht. Weder ist der Fall eines Prämienverzugs mit dem vergleichbar, in dem der Versicherungsnehmer mit der Gegenleistung für eine Vorauszahlung in Verzug ist, noch liegt eine Regelungslücke im Gesetz vor. Beide Fälle unterscheiden sich im Gegenseitigkeitsverhältnis. Während die Prämie die Gegenleistung für das vom Versicherer übernommene Risiko und in der Kapitallebensversicherung für die nach Ablauf der Vertragszeit zu leistende Summe ist, bedeutet der "Zins" für das "Policendarlehen" die Gegenleistung dafür, daß der Versicherer dem Versicherungsnehmer vorzeitig einen bestimmten Betrag zur Verfügung stellt. Wirtschaftlich tritt der Versicherer mit der Vorauszahlung wie ein Kreditgeber und nicht wie der Übernehmer eines Risikos auf. § 39 VVG bezweckt nicht den Schutz desjenigen, der dem Versicherungsnehmer freiwillig und vorzeitig eine Geldsumme zur Verfügung stellt. Die Vorschrift will vielmehr verhindern, daß der Versicherer auch dann noch das vertraglich übernommene Risiko zu tragen hat, wenn der Versicherungsnehmer mit seiner dafür vorgesehenen Leistung, der Prämie, in Verzug ist. Für diesen Fall wird der Versicherer gemäß § 39 Abs. 2 VVG von seiner Verpflichtung zur Leistung frei, solange die Prämie nicht gezahlt ist. Außerdem kann sich der Versicherer nach § 39 Abs. 3 VVG durch Kündigung vom Vertrag lösen. In den Motiven zum VVG (vgl. Abs. 1 zu §§ 38, 39 VVG) ist dazu ausgeführt, der Versicherer bedürfe der Gesamtheit der Prämien, um jeweils an diejenigen Versicherungsnehmer leisten zu können, denen aus dem Eintritt des Versicherungsfalls Ansprüche erwachsen. Schutzgegenstand der Regelung des § 39 VVG ist danach die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge. Mit diesem Schutzzweck steht die Vergütung für eine freiwillige Vorauszahlung des Versicherers in keinem Zusammenhang. Bei einer Vorauszahlung steht der Versicherungsnehmer jedem Dritten gleich, bei dem der Versicherer sein Kapital zur Erwirtschaftung von Zinsen anlegt. Da dem Versicherer auch diesen Dritten gegenüber keine dem § 39 VVG vergleichbare Privilegierung zur Verfügung steht, ist nicht ersichtlich, warum der Versicherungsnehmer durch den Verlust des Versicherungsschutzes schlechter gestellt sein soll als ein anderer, dem der Versicherer sein Kapital anvertraut hat.
[16] Die für den Versicherungsnehmer schwerwiegenden Rechtsfolgen des § 39 VVG bei einem Verzug mit der Gegenleistung für den Versicherungsschutz sind deshalb nicht übertragbar auf einen Verzug mit der Gegenleistung für eine Kreditgewährung.
[17] 3. Auch aus den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten ergibt sich nicht, daß sie während des Verzuges des Klägers mit Zinszahlungen für die Vorausleistung das vertraglich übernommene Risiko der Berufsunfähigkeit des Klägers nicht zu tragen brauchte.
[18] In dem Schreiben der Beklagten vom 20. März 1995 über die Vereinbarung der Vorauszahlung, einem Formblatt, heißt es: "Für Zahlungen der Zinsen sind die Bestimmungen der 'Allgemeinen Versicherungsbedingungen' für die Zahlung laufender Beiträge, insbesondere die Bestimmungen über den Zahlungsverzug und seine Folgen, sinngemäß anzuwenden." Nach § 9 Nr. 1 Satz 2 der Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung erlischt diese Versicherung, wenn der Versicherungsschutz aus der Hauptversicherung endet oder nur noch in Höhe der beitragsfreien Versicherungssumme besteht. Die Lebensversicherung ist aber nicht nach § 39 Abs. 3 VVG durch wirksame Kündigung erloschen, wie oben ausgeführt wurde.
[19] Auch soweit die Verzugsregelungen in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen sinngemäß angewandt werden sollen, ergibt sich daraus keine Leistungsfreiheit der Beklagten. Zur Regelung des Verzuges heißt es in § 3 Nr. 2 der Allgemeinen Bedingungen für die kapitalbildende Lebensversicherung (ALB):
[20] "Wenn Sie einen Folgebeitrag oder einen sonstigen Betrag, den Sie aus dem Versicherungsverhältnis schulden, nicht rechtzeitig zahlen, so erhalten Sie von uns eine schriftliche Mahnung. Begleichen Sie den Rückstand nicht innerhalb der in der Mahnung gesetzten Frist, so entfällt oder vermindert sich damit der Versicherungsschutz. Auf diese Rechtsfolgen werden wir Sie in der Mahnung ausdrücklich hinweisen."
[21] Es kann dahinstehen, ob diese für die Lebensversicherung geltende Regelung durch den Hinweis im Formblatt vom 20. März 1995 auf eine sinngemäße Anwendung überhaupt Inhalt des Vertrages in dem Sinne geworden ist, daß die in § 3 Nr. 2 ALB genannten Rechtsfolgen auch bei einem Verzug mit Zinszahlungen für eine Vorausleistung eintreten. Die Frage, ob die verweisende Bestimmung eine überraschende Klausel im Sinne des § 3 AGBG ist, kann ebenso dahinstehen wie die, ob sie dem Transparenzgebot genügt. Denn jedenfalls benachteiligt sie den Versicherungsnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen und ist damit nach § 9 Abs. 1 AGBG unwirksam. Sie weicht von dem wesentlichen Grundgedanken des § 39 Abs. 2 VVG erheblich ab. Wie oben ausgeführt, ist der Versicherer nach der gesetzlichen Regelung nur dann von der Leistung befreit, wenn sich der Versicherungsnehmer mit seiner Gegenleistung, nämlich der Versicherungsprämie oder den mit ihr zusammenhängenden Kosten und Zinsen in Verzug befindet. Die Ausweitung dieser Regelung in Allgemeinen Versicherungsbedingungen auch auf die Gegenleistung für Vorauszahlungen des Versicherers belastet den Versicherungsnehmer so erheblich, daß sie unangemessen ist. Das Interesse des Versicherers an einer möglichst pünktlichen Zahlung der Zinsen rechtfertigt noch nicht die Freistellung von der Pflicht zur Versicherungsleistung. Der Versicherer ist nicht rechtlos gestellt. Er wird häufig gegen seine eigene Leistung aufrechnen können. Notfalls steht ihm wie jedem anderen Kreditgeber der Klageweg zur Verfügung.
[22] 4. Da der Kläger die Prämien bis zum 4. Oktober 1995 rechtzeitig, d. h. innerhalb der Monatsfrist des § 39 Abs. 3 Satz 3 VVG und vor Eintritt des Versicherungsfalls, unstreitig am 18. Oktober 1995, gezahlt hatte, ist die Beklagte zur Leistung verpflichtet. Weder hat sie den Versicherungsvertrag nach § 39 Abs. 3 VVG wirksam gekündigt, noch ist sie nach § 39 Abs. 2 VVG oder § 3 Nr. 2 ALB leistungsfrei geworden. Damit kommt es auf die weiteren Fragen, die das Berufungsgericht erörtert hat, nicht mehr an.