Europäischer Gerichtshof
Assoziation EWG-Türkei – Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Aufenthaltsrechts – Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 des Zusatzprotokolls – Unmittelbare Wirkung – Umfang – Türkischer Staatsangehöriger, der sich im Aufnahmestaat nicht ordnungsgemäß aufhält
Artikel 13 des in Ankara am 12. September 1963 von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichneten und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei und Artikel 41 Absatz 2 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls sind keine in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Vorschriften des Gemeinschaftsrechts.
Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls hat unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten.
Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ist als solcher nicht geeignet, einem türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungsrecht und damit verbunden ein Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem er sich unter Verstoß gegen das nationale Einwanderungsrecht aufgehalten und als Selbständiger berufliche Tätigkeiten ausgeübt hat, zu verleihen.
Dagegen verbietet Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls die Einführung neuer nationaler Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Aufenthaltsrechts der türkischen Staatsangehörigen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls im Aufnahmemitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Recht auszulegen, um festzustellen, ob die auf den Kläger des Ausgangsverfahrens angewandte Regelung ungünstiger ist als diejenige, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galt.
EuGH, Urteil vom 11. 5. 2000 – C-37/98 (lexetius.com/2000,3436)
[1] In der Rechtssache C-37/98 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) vom High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Vereinigtes Königreich), in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit The Queen gegen Secretary of State for the Home Department, ex parte: Abdulnasir Savas vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 13 des in Ankara am 12. September 1963 von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichneten und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei sowie von Artikel 41 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls erläßt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, G. Hirsch, H. Ragnemalm und V. Skouris, Generalanwalt: A. La Pergola Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen -von Herrn Savas, vertreten durch Barrister J. Walsh, beauftragt durch Solicitors Ronald Fletcher Baker & Co., -der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ridley, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte im Beistand von Barrister E. Sharpston, -der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat E. Röder und Regierungsdirektor C. -D. Quassowski, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte, -der griechischen Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, stellvertretende Sonderrechtsberaterin in der Spezialabteilung des Außenministeriums für Rechtsfragen der Europäischen Gemeinschaften, und L. Pnevmatikou, besondere wissenschaftliche Mitarbeiterin in derselben Abteilung, als Bevollmächtigte, -der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, und A. de Bourgoing, Chargé de mission in derselben Direktion, als Bevollmächtigte, -der italienischen Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten im Beistand von Avvocato dello Stato F. Quadri, -der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater P. J. Kuijper, und N. Yerrell, zum Juristischen Dienst der Kommission abgeordnete nationale Beamtin, als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Savas, vertreten durch J. Walsh, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Magrill, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigten im Beistand von E. Sharpston, der italienischen Regierung, vertreten durch Avvocato dello Stato G. Aiello, und der Kommission, vertreten durch P. J. Kuijper und N. Yerrell, in der Sitzung vom 16. September 1999, nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 1999, folgendes Urteil (1):
[2] 1. Der High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division, hat mit Beschluß vom 24. April 1997, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen am 16. Februar 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) sechs Fragen nach der Auslegung von Artikel 13 des in Ankara am 12. September 1963 von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichneten und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im folgenden: Assoziierungsabkommen) sowie von Artikel 41 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls (im folgenden: Zusatzprotokoll) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[3] 2. Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Savas (im folgenden: Kläger), einem türkischen Staatsangehörigen, und dem Secretary of State for the Home Department (im folgenden: Secretary of State) über die Weigerung, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich zu erteilen, und über seine Ausweisung aus diesem Mitgliedstaat.
Die Assoziation EWG-Türkei
[4] 3. Nach Artikel 2 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern, und zwar im Bereich der Arbeitskräfte durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Artikel 12), die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Artikel 13) und des freien Dienstleistungsverkehrs (Artikel 14), um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später den Beitritt der Republik Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern (vierte Begründungserwägung und Artikel 28).
[5] 4. Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase, eine Übergangsphase und eine Endphase vor; die Vorbereitungsphase soll es der Republik Türkei ermöglichen, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Artikel 3), in der Übergangsphase ist die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen (Artikel 4), und die auf der Zollunion beruhende Endphase schließt eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken ein (Artikel 5).
[6] 5. Artikel 6 des Assoziierungsabkommens lautet: Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem Abkommen zugewiesen sind.
[7] 6. Die Artikel 12, 13 und 14 des Assoziierungsabkommens finden sich in dessen Titel II, Durchführung der Übergangsphase, Kapitel 3, Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art.
[8] 7. Artikel 12 lautet: Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.
[9] 8. Artikel 13 bestimmt: Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 52 bis 56 und 58 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben.
[10] 9. Artikel 14 schreibt vor: Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 55, 56 und 58 bis 65 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs aufzuheben.
[11] 10. In Artikel 22 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens heißt es: Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen Fällen ist der Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen …
[12] 11. Das Zusatzprotokoll, das seinem Artikel 62 zufolge Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist, legt in Artikel 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Artikel 4 des Assoziierungsabkommens genannten Übergangsphase fest.
[13] 12. Dieses Zusatzprotokoll enthält einen mit Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr überschriebenen Titel II, dessen Kapitel I den Arbeitskräften gewidmet ist und dessen Kapitel II die Bereiche Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr betrifft.
[14] 13. Artikel 36 des Zusatzprotokolls, der zum Kapitel I gehört, setzt die Fristen für die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Republik Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens fest und bestimmt in Absatz 2, daß der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.
[15] 14. Artikel 41 des Zusatzprotokolls, der sich in dessen Titel II Kapitel II findet, lautet: (1) Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. (2) Der Assoziationsrat setzt nach den Grundsätzen der Artikel 13 und 14 des Assoziierungsabkommens die Zeitfolge und die Einzelheiten fest, nach denen die Vertragsparteien die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs untereinander schrittweise beseitigen. Der Assoziationsrat berücksichtigt bei der Festsetzung der Zeitfolge und der Einzelheiten für die verschiedenen Arten von Tätigkeiten die entsprechendenBestimmungen, welche die Gemeinschaft auf diesen Gebieten bereits erlassen hat, sowie die besondere wirtschaftliche und soziale Lage der Türkei. Die Tätigkeiten, die in besonderem Maße zur Entwicklung der Erzeugung und des Handelsverkehrs beitragen, werden vorrangig behandelt.
[16] 15. Der Assoziationsrat hat bisher keine Maßnahme nach Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls getroffen.
Das Ausgangsverfahren
[17] 16. Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, wurde Herrn und Frau Savas, die beide türkische Staatsangehörige sind, am 22. Dezember 1984 die Erlaubnis erteilt, für einen Monat als Besucher in das Vereinigte Königreich einzureisen.
[18] 17. Die Einreiseerlaubnis erfolgte unter der ausdrücklichen Auflage, daß es ihnen verboten war, eine Beschäftigung anzunehmen, ein Gewerbe zu betreiben oder eine freie Berufstätigkeit aufzunehmen.
[19] 18. Obwohl ihre Erlaubnis am 21. Januar 1985 ablief, verließen Herr und Frau Savas das Vereinigte Königreich nicht, so daß sie seither gegen die Einwanderungsbestimmungen dieses Mitgliedstaat verstoßen.
[20] 19. Im November 1989 nahm Herr Savas den Betrieb einer Hemdenfabrik in Hackney (Vereinigtes Königreich) auf.
[21] 20. Weder Herr Savas noch seine Ehefrau beantragte eine Arbeitserlaubnis oder eine Erlaubnis, eine selbständige Tätigkeit aufzunehmen.
[22] 21. Mit Schreiben vom 31. Januar 1991 versuchten sie jedoch über ihre Anwälte, ihren Aufenthalt zu regeln, indem sie beim Immigration and Nationality Department (Abteilung für Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsangelegenheiten) des Innenministeriums aufgrund der einschlägigen nationalen Vorschriften die Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich beantragten.
[23] 22. Erst am 21. März 1994 wies der Secretary of State – nach einem Schriftwechsel zwischen den Anwälten von Herrn Savas und den britischen Behörden und wegen der falschen Ablage der Akte bis zum 21. Juni 1993 – diesen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis ab und teilte den Betroffenen mit, daß die zuständigen Behörden beabsichtigten, sie auszuweisen.
[24] 23. Im Rahmen des ihm insoweit zustehenden Ermessens hatte der Secretary of State den Antrag von Herrn und Frau Savas gemäß der Regelung über die long residence concession (Langzeitaufenthaltsgenehmigung) behandelt, wonach einer Person, die sich zehn Jahre oder länger ununterbrochen rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufgehalten hat oder die sich vierzehn Jahre lang ununterbrochen in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hat, unabhängig davon, ob rechtmäßig oder nicht, eineunbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann. Nach Auffassung des Secretary of State erfüllten Herr und Frau Savas diese Kriterien jedoch nicht; andere Umstände, die es erlaubt hätten, sein Ermessen zu ihren Gunsten auszuüben, waren seiner Ansicht nach ebenfalls nicht gegeben.
[25] 24. Inzwischen hatte Herr Savas im Dezember 1992 einen ersten Imbißbetrieb in Hythe (Vereinigtes Königreich) eröffnet; ein zweiter Imbiß nahm seinen Betrieb am 1. September 1994 in Folkestone (Vereinigtes Königreich) auf.
[26] 25. Am 29. März 1994 legten Herr und Frau Savas Widerspruch gegen die Ausweisungsverfügung ein.
[27] 26. Am 13. Dezember 1994 wies der Immigration Adjudicator den Widerspruch zurück.
[28] 27. Der von Herrn und Frau Savas beim Immigration Appeal Tribunal gestellte Antrag auf Zulassung der Klage gegen diese Zurückweisung wurde als verspätet abgelehnt.
[29] 28. Am 11. Juli 1995 ergingen gegen Herrn und Frau Savas Ausweisungsverfügungen, die ihnen am 31. August 1995 zugestellt wurden.
[30] 29. Unstreitig waren bis zum 30. Oktober 1995 alle von Herrn und Frau Savas gestellten Anträge ausschließlich auf nationales Recht gestützt.
[31] 30. Am 30. Oktober 1995 machten die Anwälte von Herrn Savas erstmals geltend, Artikel 41 des Zusatzprotokolls verwehre es dem Vereinigten Königreich, das Recht türkischer Staatsangehöriger, sich dort aufzuhalten, stärkeren Beschränkungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Beitritts dieses Mitgliedstaats zur Gemeinschaft gegolten hätten. Der Secretary of State hätte den Fall von Herrn und Frau Savas daher lediglich nach den zu diesem Zeitpunkt, d. h. am 1. Januar 1973, geltenden einwanderungsrechtlichen Vorschriften, dem HC 510, und zwar insbesondere dessen Paragraph 21, beurteilen müssen, in dem es heißt: Personen, denen die Einreise in das Vereinigte Königreich als Besucher gestattet wurde, können die Erlaubnis des Ministers für ihre Niederlassung für die Zwecke der Gründung eines Gewerbes entweder als Selbständige oder als Beteiligte an einem neuen oder bestehenden Unternehmen beantragen. Alle derartigen Anträge sind entsprechend dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu behandeln … Ist die Erlaubnis erteilt, kann der Aufenthalt des Antragstellers um bis zu zwölf Monate verlängert werden, mit der Auflage, daß seine Freiheit zur Aufnahme einer Beschäftigung beschränkt wird.
[32] 31. Am 1. Mai 1996 wies der Secretary of State dieses neue Vorbringen mit der Begründung zurück, Herr Savas sei zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Antrag gestellt habe, seinen Aufenthalt im Vereinigten Königreich nachträglich zu genehmigen, nicht mehr im Besitz einer Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat gewesen sei, so daß die Vorschriften des seinerzeit für Einwanderungsfragen geltenden HC 510 überhaupt nicht auf ihn hätten angewandt werden können.
[33] 32. Herr Savas (im folgenden: Kläger) stellte daraufhin beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung; dieser Antrag wurde am 11. Juli 1996 zugelassen.
[34] 33. Der Kläger machte vor dem vorlegenden Gericht geltend, Artikel 41 des Zusatzprotokolls habe unmittelbare Wirkung und verpflichte den Secretary of State, seinen Antrag vom 30. Oktober 1995 gemäß Paragraph 21 des HC 510 zu behandeln. Diese Vorschrift sei so auszulegen, daß von ihr alle Personen erfaßt würden, die eine Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich als Besucher erhalten hätten, unabhängig von ihrer einwanderungsrechtlichen Rechtsstellung zum Zeitpunkt der Antragstellung. Zumindest hätte der Secretary of State bei der Prüfung seines Antrags Artikel 13 des Assoziierungsabkommens, dessen erste und vierte Begründungserwägung sowie Artikel 41 des Zusatzprotokolls berücksichtigen müssen; dies hätte ihn zu dem Ergebnis führen müssen, daß die Ausweisung im vorliegenden Fall unverhältnismäßig sei.
[35] 34. Der Secretary of State machte demgegenüber geltend, Personen, die sich nicht rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhielten, könnten sich nicht auf das Assoziierungsabkommen berufen. Jedenfalls habe Artikel 41 des Zusatzprotokolls keine unmittelbare Wirkung und könne die Behörden des Vereinigten Königreichs nicht dazu verpflichten, im Bereich des Einwanderungsrechts die am 1. Januar 1973 geltenden Vorschriften anzuwenden. Im übrigen erfasse Paragraph 21 des HC 510 nur Personen, die sich zum Zeitpunkt der Antragstellung im Vereinigten Königreich rechtmäßig als Besucher aufhielten, und die Ausweisung stelle keine unverhältnismäßige Sanktion für einen Ausländer dar, der wie der Kläger so lange gegen das Einwanderungsrecht verstoßen habe.
[36] 35. Das nationale Gericht hat zwar nur geringe Zweifel an der unmittelbaren Wirkung von Artikel 41 des Zusatzprotokolls, doch hat es Zweifel, ob das Assoziierungsabkommen Ausländern, die sich wie der Kläger illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, Rechte verleiht.
Die Vorabentscheidungsfragen
[37] 36. Da zur Entscheidung über den Rechtsstreit somit nach Auffassung des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division, die Auslegung des Assoziierungsabkommens und des Zusatzprotokolls erforderlich ist, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden sechs Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
[38] 1. Ist das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, unterzeichnet in Ankara am 12. September 1963 (im folgenden: Abkommen), in Verbindung mit demZusatzprotokoll zu dem Abkommen, unterzeichnet in Brüssel am 23. November 1970 (im folgenden: Zusatzprotokoll), so auszulegen, daß es einem türkischen Staatsangehörigen Rechte gewährt, der unter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats a) eingereist ist bzw. b) sich dort aufhält?
[39] 2. Entfalten, falls beide Teile der ersten Frage bejaht werden, a) Artikel 13 des Abkommens und/oder b) Artikel 41 des Zusatzprotokolls in den nationalen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung?
[40] 3. Steht das Abkommen in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll der Anwendung einer nationalrechtlichen Bestimmung, die dem türkischen Staatsangehörigen die Erlaubnis zum Aufenthalt im Gebiet eines Mitgliedstaats allein aus dem Grund versagt, weil diese Erlaubnis zur Einreise in das oder zum Aufenthalt in dem Hoheitsgebiet abgelaufen ist, durch diesen Mitgliedstaat entgegen?
[41] 4. Ist die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, wenn sie bei der Ausübung ihres Ermessens den Antrag eines türkischen Staatsangehörigen auf Erlaubnis des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Abweichung von ihrem nationalen Recht behandelt, verpflichtet, die Existenz des Abkommens in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll zu berücksichtigen?
[42] 5. Falls die vierte Frage bejaht wird: Muß die zuständige Behörde des Mitgliedstaats bei der Ausübung ihres Ermessens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten?
[43] 6. Falls die fünfte Frage bejaht wird: Welche Faktoren muß die zuständige nationale Behörde bei der Entscheidung darüber, ob die Ausweisung verhältnismäßig ist, berücksichtigen?
Zu den ersten drei Fragen
[44] 37. Die ersten drei Fragen des vorlegenden Gerichts, die gemeinsam zu prüfen sind, gehen im wesentlichen dahin, ob Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 des Zusatzprotokolls einem türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungs- und damit auch ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat verleihen können, in dem er sich unter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht dieses Staates aufgehalten hat und einer selbständigen Berufstätigkeit nachgegangen ist.
[45] 38. Eine sinnvolle Beantwortung der in dieser Weise umformulierten Fragen erfordert zunächst die Prüfung, ob ein einzelner sich vor einem nationalen Gericht auf die Vorschriften, auf die sich diese Fragen beziehen, berufen kann; bejahendenfalls muß sodann festgestellt werden, welche Tragweite sie haben.
Zur unmittelbaren Wirkung der im Ausgangsverfahren streitigen Vorschriften
[46] 39. Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Assoziierungsabkommens als unmittelbar anwendbar anzusehen ist, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Gegenstand und die Natur des Assoziierungsabkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen (vgl. u. a. Urteil vom 4. Mai 1999 in der Rechtssache C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Randnr. 60).
[47] 40. Mithin ist zu prüfen, ob Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 des Zusatzprotokolls diese Kriterien erfüllen.
Zur unmittelbaren Wirkung von Artikel 13 des Assoziierungsabkommens
[48] 41. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß Artikel 12 des Assoziierungsabkommens im wesentlichen Programmcharakter hat und keine hinreichend genauen, nicht an Bedingungen geknüpften und damit in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften enthält (Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnrn. 23 und 25).
[49] 42. Jedoch ist festzustellen, daß Artikel 13 des Assoziierungsabkommens ebenso wie der besagte Artikel 12, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrifft, lediglich ganz allgemein und unter Bezugnahme auf die entsprechenden Bestimmungen des EG-Vertrags den Grundsatz aufstellt, daß die Vertragsparteien untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufheben, ohne daß er selbst genau Regeln für die Erreichung dieses Zieles aufstellt.
[50] 43. Aufgrund von Artikel 22 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens, der dem Assoziationsrat zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens die Befugnis erteilt, Beschlüsse zu fassen, verleiht Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls dem Assoziationsrat die Befugnis, nach den Grundsätzen des Artikels 13 des Assoziierungsabkommens die Zeitfolge und die Einzelheiten festzulegen, nach denen die Vertragsparteien die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit untereinander schrittweise beseitigen.
[51] 44. Der Assoziationsrat hat jedoch keine Maßnahmen nach Artikel 13 getroffen, um den allgemeinen Grundsatz, daß die Vertragsparteien die Beschränkungen des Niederlassungsrechts untereinander schrittweise aufheben, konkret umzusetzen.
[52] 45. Dies führt zu dem Ergebnis, daß Artikel 13 des Assoziierungsabkommens – ebensowenig übrigens wie Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls, der vom vorlegenden Gericht ebenfalls angeführt wird – die Rechtsstellung des einzelnen nicht unmittelbar regeln kann, so daß ihm keine unmittelbare Wirkung zuerkannt werden kann.
Zur unmittelbaren Wirkung von Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls
[53] 46. Wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, enthält diese eine klare, genaue und nicht an Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklausel, die es den Vertragsparteien untersagt, nach Inkrafttreten des Zusatzprotokolls neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit einzuführen.
[54] 47. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß Artikel 53 EG-Vertrag (aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam), wonach die Mitgliedstaaten keine neuen Niederlassungsbeschränkungen für Angehörige der anderen Mitgliedstaaten einführen, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht ist. Dem Gerichtshof zufolge ist ein so klar ausgesprochenes Verbot, das durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist und zu seiner Durchsetzung oder Wirksamkeit keiner weiteren Handlungen bedarf, vollständig, rechtlich vollkommen und infolgedessen geeignet, unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem einzelnen hervorzurufen (Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1251, 1274).
[55] 48. Da Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls nahezu den gleichen Wortlaut wie Artikel 53 EG-Vertrag hat, ist er aus denselben Gründen als unmittelbar anwendbar anzusehen.
[56] 49. Diese Auslegung wird im übrigen, was speziell die Assoziation EWG-Türkei angeht, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes bestätigt, nach der die in Artikel 7 des Beschlusses Nr. 2/76 des Assoziationsrates vom 20. Dezember 1976 über die Durchführung von Artikel 12 des Abkommens von Ankara (nicht veröffentlicht) und in Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (nicht veröffentlicht) enthaltenen Stillhalteklauseln zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfalten, was die Einführung neuer Beschränkungen des Zugangs zur Beschäftigung für Arbeitnehmer angeht, deren Aufenthalt und Beschäftigung im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten ordnungsgemäß sind (Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89, Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 18 und 26).
[57] 50. Angesichts dessen gibt es keinen Grund, um Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls, der im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit eine Vorschrift gleicher Art wie die in der vorangehenden Randnummer genannten Vorschriften ist, eine solche unmittelbare Wirkung abzusprechen.
[58] 51. Die Feststellung, daß das in Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Verbot der Einführung neuer Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit die Rechtsstellung des einzelnen unmittelbar regeln kann, wird auch nicht durch die Prüfung von Sinn und Zweck des Assoziierungsabkommens entkräftet, in dessen Rahmen diese Vorschrift auszulegen ist.
[59] 52. Dieses Abkommen bezweckt nämlich die Gründung einer Assoziation mit dem Ziel, die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien auch im Bereich der selbständigen Tätigkeiten durch die schrittweise Beseitigung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit zu fördern, um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu verbessern und den späteren Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern (vgl. vierte Begründungserwägung und Artikel 28 des Assoziierungsabkommens).
[60] 53. Der Umstand, daß mit dem Assoziierungsabkommen im wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei gefördert werden soll und deshalb ein Ungleichgewicht zwischen den jeweiligen Verpflichtungen der Gemeinschaft und des betreffenden Drittlands besteht, schließt nicht aus, daß die Gemeinschaft die unmittelbare Wirkung einiger seiner Bestimmungen anerkennt (vgl. Urteil Sürül, Randnr. 72, und entsprechend die Urteile vom 5. Februar 1976 in der Rechtssache 87/75, Bresciani, Slg. 1976, 129, Randnr. 23, vom 31. Januar 1991 in der Rechtssache C-18/90, Kziber, Slg. 1991, I-199, Randnr. 21, und vom 12. Dezember 1995 in der Rechtssache C-469/93, Chiquita Italia, Slg. 1995, I-4533, Randnr. 34).
[61] 54. Aus alledem ergibt sich, daß Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls einen genauen und nicht an Bedingungen geknüpften Grundsatz aufstellt, der hinreichend wirksam ist, um von einem nationalen Gericht angewandt zu werden, und der folglich die Rechtsstellung des einzelnen regeln kann. Die unmittelbare Wirkung, die dieser Bestimmung somit zuzusprechen ist, bedeutet, daß die Bürger, für die sie gilt, sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf sie berufen können.
[62] 55. Somit muß die Tragweite dieser Vorschrift geklärt werden.
Zur Tragweite von Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls
[63] 56. Der Kläger macht in seinen beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen im wesentlichen geltend, diese Vorschrift des Zusatzprotokolls sei geeignet, ihm ein Niederlassungsrecht sowie ein damit verbundenes Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in den er habe einreisen dürfen, zu verleihen, ungeachtet dessen, daß er sich dort unter Verstoß gegen das nationale Einwanderungsrecht aufgehalten habe und einer selbständigen beruflichen Tätigkeit nachgegangen sei.
[64] 57. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger insoweit klargestellt, er mache nicht mehr geltend, daß er unmittelbar aus Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ein Recht auf Niederlassung und Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ableiten könne; die unmittelbare Wirkung dieser Vorschrift bedeute jedoch, daß der betroffene türkische Staatsangehörige ein nationales Gericht anrufen könne mit der Bitte um Prüfung, ob die innerstaatliche Regelung, aufgrund deren die Ausweisung des Betreffenden beschlossen worden sei, im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit und das Aufenthaltsrecht strenger sei als diejenige, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat gegolten habe, und somit unter Verstoß gegen die in dieser Vorschrift enthaltene Stillhalteklausel erlassen worden sei.
[65] 58. Was zunächst die vom Kläger in seinen schriftlichen Erklärungen vertretene Auffassung angeht, ist auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, nach der die Vorschriften über die Assoziation EWG-Türkei beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lassen, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen, und lediglich die Stellung türkischer Arbeitnehmer regeln, die bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten eingegliedert sind (vgl. u. a. Urteil vom 23. Januar 1997 in der Rechtssache C-171/95, Tetik, Slg. 1997, I-329, Randnr. 21).
[66] 59. Sodann hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, daß türkische Arbeitnehmer im Gegensatz zu den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft genießen, sondern nur bestimmte Rechte in dem Aufnahmemitgliedstaat besitzen, in dessen Hoheitsgebiet sie rechtmäßig eingereist sind und in dem sie eine bestimmte Zeit lang eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt haben (vgl. u. a. Urteil Tetik, Randnr. 29).
[67] 60. Schließlich implizieren diese den türkischen Arbeitnehmern auf dem Gebiet der Beschäftigung eingeräumten Rechte zwangsläufig, daß den Betroffenen ein Aufenthaltsrecht zusteht, weil sonst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Ausübung einer Beschäftigung völlig wirkungslos wäre (vgl. Urteil Sevince, Randnr. 29, und die Urteile vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-237/91, Kus, Slg. 1992, I-6781, Randnr. 29, vom 6. Juni 1995 in der Rechtssache C-434/93, Bozkurt, Slg. 1995, I-1475, Randnr. 28, und vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C-340/97, Nazli, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 28) und daß diese somit Anspruch auf Verlängerung ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat haben, um dort weiterhin eine ordnungsgemäße unselbständige Tätigkeit ausüben zu können (vgl. u. a. das Urteil Kus, Randnr. 36, sowie die Urteile vom 30. September 1997 in der Rechtssache C-36/96, Günaydin, Slg. 1997, I-5143, Randnr. 55, und in der Rechtssache C-98/96, Ertanir, Slg. 1997, I-5179, Randnr. 62, und vom 26. November 1998 in der Rechtssache C-1/97, Birden, Slg. 1998, I-7747, Randnr. 69). Nach dieser Rechtsprechung setzt die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung eines türkischen Staatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat jedoch eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt dieses Staates voraus und erfordert hierzu das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts (Urteile Sevince, Randnr. 30, Kus, Randnrn. 12 und 22, sowie Bozkurt, Randnr. 26).
[68] 61. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt, daß Beschäftigungszeiten, die ein türkischer Staatsangehöriger aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt hat, die er allein durch eine Täuschung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, erwirkt hat, nicht auf einer gesicherten Position beruhen, sondern als in einer nur vorläufigen Position zurückgelegt zu betrachten sind, da ihm während dieser Zeiten von Rechts wegen kein Aufenthaltsrecht zustand (Urteil vom 5. Juni 1997 in der Rechtssache C-285/95, Kol, Slg. 1997, I-3069, Randnr. 27).
[69] 62. In Randnummer 28 des Urteils Kol hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, daß ausgeschlossen ist, daß die Ausübung einer Beschäftigung durch einen türkischen Arbeitnehmer im Rahmen einer Aufenthaltserlaubnis, die aufgrund einer solchen Täuschung erteilt wurde, Rechte für ihn entstehen lassen.
[70] 63. Diese Grundsätze, die im Rahmen der Auslegung der Vorschriften der Assoziation EWG-Türkei, die auf eine schrittweise Herbeiführung der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer in der Gemeinschaft abzielen, aufgestellt wurden, müssen analog auch im Rahmen der Vorschriften dieser Assoziation betreffend die Niederlassungsfreiheit gelten.
[71] 64. Daraus folgt, daß die Stillhalteklausel des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, nicht aus sich selbst heraus einem türkischen Staatsangehörigen das Niederlassungsrecht und das damit einhergehende Aufenthaltsrecht verleihen kann.
[72] 65. Die erstmalige Zulassung der Einreise eines türkischen Staatsangehörigen in einen Mitgliedstaat unterliegt daher ausschließlich dem Recht dieses Staates, und der Betroffene kann sich auf bestimmte Rechte auf dem Gebiet der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit und damit verbunden auf dem Gebiet des Aufenthalts von Gemeinschaftsrechts wegen nur berufen, wenn er sich in dem betreffenden Mitgliedstaat in einer ordnungsgemäßen Situation befindet.
[73] 66. Im Ausgangsverfahren ergibt sich jedoch aus dem Vorlagebeschluß, daß der Kläger nach Ablauf seines auf einen Monat befristeten Besuchervisums keine Erlaubnis zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich mehr erhalten hatte und sich dort somit unter Verstoß gegen nationales Recht aufhielt. Im übrigen untersagte ihm sein Visum ausdrücklich, in diesem Mitgliedstaat irgendeine berufliche Tätigkeit auszuüben.
[74] 67. Aufgrund dessen kann der Umstand, daß der Kläger das Vereinigte Königreich nicht nach Ablauf seines Visums verlassen hat und in Wirklichkeit in diesem Mitgliedstaat eine selbständige berufliche Tätigkeit ausgeübt hat, ohne hierfür eine Erlaubnis erhalten zu haben, in seiner Person weder ein Niederlassungsrecht noch ein Aufenthaltsrecht begründen, die sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergäben.
[75] 68. Was zweitens das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angeht, ist zum einen darauf hinzuweisen, daß die unmittelbare Wirkung, die Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls zuzusprechen ist, bedeutet, daß dieser dem einzelnen individuelle Rechte verleiht, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.
[76] 69. Zum anderen ist festzustellen, daß die in dieser Vorschrift des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel es einem Mitgliedstaat verwehrt, neue Maßnahmen zu erlassen, die den Zweck oder die Folge haben, daß die Niederlassung und damit verbunden der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen in diesem Mitgliedstaatstrengeren Bedingungen als denjenigen unterworfen werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Zusatzprotokolls gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat galten.
[77] 70. Somit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, festzustellen, ob die von den zuständigen Behörden auf den Kläger angewandte innerstaatliche Regelung seine Situation im Verhältnis zu den Vorschriften, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls gegenüber dem Vereinigten Königreich in diesem Mitgliedstaat galten, erschwert.
[78] 71. Aufgrund all dessen ist auf die ersten drei Fragen wie folgt zu antworten: -Artikel 13 des Assoziierungsabkommens und Artikel 41 Absatz 2 des Zusatzprotokolls sind keine in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. -Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls hat unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten. -Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ist als solcher nicht geeignet, einem türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungsrecht und damit verbunden ein Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem er sich unter Verstoß gegen das nationale Einwanderungsrecht aufgehalten und als Selbständiger berufliche Tätigkeiten ausgeübt hat, zu verleihen. -Dagegen verbietet Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls die Einführung neuer nationaler Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Aufenthaltsrechts der türkischen Staatsangehörigen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls im Aufnahmemitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Recht auszulegen, um festzustellen, ob die auf den Kläger des Ausgangsverfahrens angewandte Regelung ungünstiger ist als diejenige, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galt.
Zur vierten, fünften und sechsten Frage
[79] 72. Angesichts der auf die ersten drei Fragen gegebenen Antwort brauchen die anderen Fragen nicht beantwortet zu werden.
Kosten
[80] 73. Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen, der griechischen, der französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beidem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
1: Verfahrenssprache: Englisch.