Bundesfinanzhof
1. Eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung, der ein mangels Bekanntgabe nicht wirksam gewordener Steuerbescheid und damit kein wirksamer Vollstreckungstitel und kein Leistungsgebot zugrunde liegt, ist (entgegen der früheren Rechtsprechung des Senats) nicht nichtig, sondern (anfechtbar) rechtswidrig.
2. Die in § 249 Abs. 1 und § 254 Abs. 1 AO 1977 genannten Vollstreckungsvoraussetzungen sind besondere, unabdingbare Statthaftigkeitsvoraussetzungen einer rechtmäßigen Vollstreckung, deren Fehlen bei Beginn der Vollstreckungshandlungen zu einem – auch durch Nachholung der Voraussetzungen während des Vollstreckungsverfahrens – nicht heilbaren Rechtsfehler und bei Anfechtung zur ersatzlosen Aufhebung der dennoch ausgebrachten Vollstreckungsmaßnahme führt.
BFH, Urteil vom 22. 10. 2002 – VII R 56/00; FG Baden-Württemberg (lexetius.com/2002,2351)
[1] Gründe: I. Mit Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 25. April 1994 hat der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA -) sämtliche Konten und Ansprüche der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) bei einem Bankinstitut gepfändet. Mit der Pfändungsverfügung sind u. a. die nunmehr allein streitigen Umsatzsteuerbeträge für 1986 zuzüglich darauf angefallener Säumniszuschläge gepfändet und zwangsweise beigetrieben worden. Auf den Einwand der Klägerin, sie habe weder den Umsatzsteuerbescheid 1986 vom 6. Juni 1989, noch den geänderten Umsatzsteuerbescheid vom 23. November 1990 erhalten, so dass ihr gegenüber vor Beginn der Vollstreckungsmaßnahme weder ein wirksamer Umsatzsteuerbescheid 1986, noch ein Leistungsgebot ergangen sei, übersandte das FA am 7. Juni 1994 eine Kopie des geänderten Umsatzsteuerbescheides für 1986 vom 23. November 1990 an den Bevollmächtigten der Klägerin. Die gegen die Pfändungsverfügung erhobene Beschwerde wurde mit Beschwerdeentscheidung vom 20. Juli 1994 bezüglich der Umsatzsteuer 1986 nebst Säumniszuschlägen als unbegründet zurückgewiesen. Während des finanzgerichtlichen Verfahrens hat das FA die Nichtigkeit des geänderten Umsatzsteuerbescheids vom 23. November 1990 gemäß § 125 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO 1977) festgestellt.
[2] Die Klage gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügung wegen der Umsatzsteuer 1986 zuzüglich darauf angefallener Säumniszuschläge hat das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2000, 981 veröffentlichten Urteil abgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt, der Umsatzsteuerbescheid für 1986 vom 6. Juni 1989 und der Änderungsbescheid vom 23. November 1990 seien gegenüber der Klägerin jeweils im Zeitpunkt ihres Ergehens nicht wirksam bekannt gegeben worden, denn die Klägerin habe den Zugang bestritten und das FA habe den ihm obliegenden Nachweis des Zugangs nicht führen können. Mit der Übersendung einer Kopie des geänderten Umsatzsteuerbescheids 1986 vom 23. November 1990 an den Bevollmächtigten der Klägerin am 7. Juni 1994 sei der Bekanntgabemangel jedoch geheilt worden.
[3] Mit der Revision begehrt die Klägerin, das Urteil des FG sowie die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des FA vom 25. April 1994 und die hierzu ergangene Beschwerdeentscheidung vom 20. Juli 1994 aufzuheben, den Pfändungsbetrag auf … DM herabzusetzen und das FA zu verpflichten, den diesen Betrag übersteigenden, bereits eingezogenen Betrag in Höhe von … DM an die Klägerin zu erstatten.
[4] Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, das FG habe die Schutzfunktion der Regelungen in § 254 AO 1977 verkannt. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für den Beginn der Vollstreckung gehörten nach dieser Vorschrift der vollstreckbare Leistungsbescheid i. S. des § 251 AO 1977, die Fälligkeit der behaupteten Steuerforderung und ein Leistungsgebot.
[5] Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
[6] II. Die Revision ist begründet. Sie führt unter Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanz sowie der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 25. April 1994 in Gestalt der hierzu ergangenen Beschwerdeentscheidung vom 20. Juli 1994 hinsichtlich der Umsatzsteuer 1986 zur Herabsetzung des Pfändungsbetrages auf … DM mit der Folge, dass das FA der Klägerin den überschießenden Betrag in Höhe von … DM zu erstatten hat.
[7] 1. Nach § 249 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Verwaltungsakte, mit denen eine Geldleistung gefordert wird, im Verwaltungsweg vollstrecken. Hierzu bestimmt § 254 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, dass die Vollstreckung, soweit nichts anderes bestimmt ist, erst beginnen darf, wenn die Leistung fällig, der Vollstreckungsschuldner zur Leistung aufgefordert worden (= Leistungsgebot) und seit der Aufforderung mindestens eine Woche verstrichen ist. Das Leistungsgebot kann mit dem zu vollstreckenden Verwaltungsakt verbunden werden (§ 254 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Wegen der Säumniszuschläge bedarf es keines gesonderten Leistungsgebotes, wenn diese zusammen mit der Steuer beigetrieben werden (§ 254 Abs. 2 Satz 1 AO 1977). Nach diesen Bestimmungen müssen zwei wesentliche Voraussetzungen erfüllt sein, ehe mit der Vollstreckung begonnen werden darf: Es muss ein vollstreckbarer Verwaltungsakt als Grundlage der Vollstreckung vorliegen (§ 249 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) und die Leistung muss fällig und angefordert worden sein; d. h. es muss ein Leistungsgebot i. S. des § 254 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ergangen sein.
[8] a) Nach der Bestimmung des § 249 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann nur ein Verwaltungsakt vollstreckt werden, mit dem eine bestimmte Leistung festgesetzt und gefordert wird. Daraus ergibt sich, dass dieser Verwaltungsakt, um als Grundlage einer Vollstreckung geeignet zu sein, wirksam geworden sein muss (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977); denn nur mit einem wirksamen Verwaltungsakt kann eine Leistung gefordert werden. Ein unwirksamer Verwaltungsakt entfaltet keine Rechtswirkungen, insbesondere nicht die, dass eine Leistung geschuldet wird, die vollstreckt werden könnte (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 249 AO 1977 Rz. 15).
[9] b) Im Streitfall lag zu Vollstreckungsbeginn – d. h. bei Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung, mit der das FA die Konten der Klägerin bei der … Bank beschlagnahmt hat – ein wirksamer vollstreckbarer Verwaltungsakt nicht vor. Denn gegenüber der Klägerin war vor Einleitung der Vollstreckung weder ein vollstreckbarer Abgabenbescheid hinsichtlich der Umsatzsteuer 1986, noch ein darauf beruhendes Leistungsgebot wirksam ergangen. Mangels Bekanntgabe hat nämlich weder der erstmalige Umsatzsteuerbescheid 1986 vom 6. Juni 1989, noch der geänderte Umsatzsteuerbescheid vom 23. November 1990 gegenüber der Klägerin die notwendige Wirksamkeit erlangt. Gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Das FG hat dazu ohne Rechtsverstoß festgestellt, dass das FA, das nach Bestreiten des Zugangs der Bescheide durch die Klägerin sogar von der Nichtigkeit des von ihm als Vollstreckungsgrundlage bezeichneten Änderungsbescheides vom 23. November 1990 ausgegangen sei, den ihm nach § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO 1977 obliegenden Nachweis des zeitnahen Zugangs dieses Bescheides nicht erbracht habe, mit der Folge, dass der geänderte Umsatzsteuerbescheid vom 23. November 1990 erst durch die am 7. Juni 1994 erfolgte Übersendung der Kopie an den Bevollmächtigten der Klägerin wirksam bekannt gegeben worden ist. Der Senat ist an die Feststellungen des FG, die von der Revision, soweit das FG die Bekanntgabe des Änderungsbescheides zur Umsatzsteuer 1986 vor dem 10. Juni 1994 verneint hat, nicht angegriffen werden, gebunden (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO -). Das bedeutet, dass der nach der Pfändungs- und Einziehungsverfügung zu vollstreckende Umsatzsteuerbescheid 1986 vom 23. November 1990 bei Beginn der Vollstreckung – hier dem Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 25. April 1994 – gegenüber der Klägerin mangels Bekanntgabe noch nicht wirksam gewesen ist. Fehlte es somit an dem Erfordernis eines vollstreckbaren Verwaltungsaktes, mit dem eine Geldleistung festgesetzt und deren Erfüllung durch Bekanntgabe des Verwaltungsaktes an den Steuerschuldner auch gefordert worden ist, ist zu entscheiden, welche rechtlichen Folgen eine Vollstreckung zeitigt, die, ohne dass ein vollstreckbarer Verwaltungsakt vorliegt, beginnt.
[10] 2. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 25. April 1994 nicht i. S. des § 125 Abs. 1 AO 1977 nichtig und deshalb unwirksam gewesen ist. Der Senat teilt nicht die Auffassung der Klägerin, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügung unheilbar nichtig sei, weil das FA die Vollstreckung begonnen hat, ohne dass ein wirksamer und damit vollstreckbarer Umsatzsteuerbescheid 1986 vorgelegen hat und weil sie dementsprechend vor Vollstreckungsbeginn auch nicht zur Zahlung durch ein Leistungsgebot i. S. des § 254 AO 1977 aufgefordert worden war. Die Nichtbeachtung dieser Voraussetzungen macht die Pfändungsverfügung hinsichtlich der Einziehung der Umsatzsteuer 1986 sowie der dazu angefallenen Säumniszuschläge jedoch rechtsfehlerhaft, so dass diese, nachdem die Klägerin sie rechtzeitig angefochten hat, insoweit aufzuheben ist.
[11] a) Zwar geht die ältere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) davon aus, dass Pfändungsmaßnahmen nichtig seien, wenn es bei ihrem Erlass an einem wirksamen Leistungsbescheid oder einer Steueranmeldung als Grundlage der Vollstreckung oder einem Leistungsgebot fehlt (BFH-Beschluss vom 30. September 1953 II 167/52 S, BFHE 58, 54, BStBl III 1953, 312, bei Vollstreckung vor Bekanntgabe eines Haftungsbescheides; BFH-Urteil vom 29. März 1962 IV 222/60 U, BFHE 75, 147, BStBl III 1962, 321, betreffend die Vollstreckung gegenüber einer Ehefrau aus einem nur auf den Ehemann lautenden Zusammenveranlagungsbescheid; ebenso BFH-Urteile vom 30. März 1962 III 280/60 und III 208/60, Steuerrechtsprechung in Karteiform – StRK –, Abgabenordnung, § 326, Rechtsspruch 7 und Rechtsspruch 9; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Juli 1975 VII C 33.73, StRK, Abgabenordnung, § 326, Rechtsspruch 14, betreffend Vollstreckungsmaßnahmen gegen die Gesellschafter einer in Liquidation befindlichen offenen Handelsgesellschaft aus einem gegen die OHG gerichteten Gewerbesteuerbescheid ohne vorherigen Erlass eines gegen die Gesellschafter gerichteten Haftungsbescheides; BFH-Urteil vom 27. März 1979 VII R 41/78, BFHE 128, 4, BStBl II 1979, 589, jeweils noch zu § 326 der Reichsabgabenordnung – RAO – ergangen; so auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 249 AO 1977 Rz. 2).
[12] Diese Auffassung gründet im Wesentlichen auf der überwiegend in der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur vertretenen Meinung, wonach Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach der Zivilprozessordnung (ZPO) bei Fehlen eines wirksamen Vollstreckungstitels als nichtig angesehen werden, weil eine wesentliche Voraussetzung für die Vollstreckung gefehlt habe (s. dazu Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung mit Nebengesetzen, 24. Aufl., Vor § 704 Rz. 58; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 60. Aufl., Grundzüge § 704 Rz. 57; Stein/Jonas/Münzberg, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Vor § 704 Rz. 129; a. A. Zöller/Stöber, Zivilprozessordnung, 22. Aufl., Vor § 704 Rz. 34, nach dessen Auffassung die Vollstreckungshandlung der zuständigen Vollstreckungsorgane als staatlicher Hoheitsakt auch dann wirksam ist, wenn sie bei richtiger Sachbehandlung hätte unterbleiben müssen, weil z. B. die Klausel oder die Zustellung des Vollstreckungstitels gefehlt habe. Die Fehlerhaftigkeit führe lediglich dazu, dass die Vollstreckungsmaßnahme auf Rechtsbehelf hin aufzuheben sei.). Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) hält die Vollstreckungsmaßnahme bei fehlendem Vollstreckungstitel überwiegend für nichtig (vgl. BGH-Urteile vom 7. Mai 1991 IX ZR 30/90, Neue Juristische Wochenschrift – NJW – 1991, 2147, 2151, und vom 17. Dezember 1992 IX ZR 226/91, NJW 1993, 735, 736).
[13] b) Die Annahme, dass eine Vollstreckungsmaßnahme bei Fehlen der in § 249 Abs. 1 und § 254 Abs. 1 AO 1977 festgelegten Voraussetzungen stets nichtig ist, hält der Senat unter Beachtung der Regelungen in § 125 Abs. 1 AO 1977 nicht (mehr) für gerechtfertigt.
[14] Nach § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt, der an einem besonders schwerwiegendem Mangel leidet, nur dann nichtig, wenn dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Die Nichtbeachtung der nach § 249 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 und § 254 Abs. 1 AO 1977 für den Beginn einer Vollstreckung zwingenden Voraussetzungen, dass ein vollstreckbarer Verwaltungsakt und ein Leistungsgebot vorliegen müssen, stellt zwar einen schwerwiegenden, aber in der Regel keinen offenkundigen, zur Nichtigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügung führenden Mangel dar (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 249 AO 1977 Rz. 27; Neumann in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 249 AO 1977 Rz. 7, und Szymczak in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 249 Rz. 4/1).
[15] Der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 25. April 1994 lag im Streitfall ein mangels Bekanntgabe nicht wirksam gewordener Verwaltungsakt (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977), entgegen der Auffassung des FA jedoch nicht ein nichtiger Verwaltungsakt zugrunde, weil nur ein wirksam bekannt gegebener Verwaltungsakt i. S. des § 125 Abs. 5 AO 1977 nichtig sein kann (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 125 AO 1977 Rz. 15). Damit ist die Pfändungs- und Einziehungsverfügung ergangen, ohne dass ein vollstreckbarer Verwaltungsakt vorgelegen hat. Eine Vollstreckungsmaßnahme, der die wesentliche Voraussetzung eines vollstreckbaren Verwaltungsakts als Grundlage fehlt, leidet mit Sicherheit an einem besonders schwerwiegendem Mangel (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 249 AO 1977 Rz. 27, und Tipke/Kruse, a. a. O., § 249 AO 1977 Rz. 2).
[16] Gleichwohl macht dieser Mangel die Pfändungsverfügung nicht nichtig, weil der Fehler in der Regel nicht offenkundig i. S. des § 125 Abs. 1 AO 1977 ist. Ein schwerwiegender Mangel ist nur dann offenkundig, wenn jeder verständige Dritte bei Unterstellung der Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände in der Lage ist, den Fehler der Verwaltungsmaßnahme in seiner besonderen Schwere zu erkennen (ständige Rechtsprechung und übereinstimmende Auffassung in der Literatur, vgl. Senatsurteil vom 13. Februar 1996 VII R 43/95, BFH/NV 1996, 530, und BFH-Entscheidung vom 18. Oktober 1988 VII R 123/85, BFHE 154, 446, BStBl II 1989, 76, sowie BGH-Urteil in NJW 1993, 735, 736, jeweils m. w. N.; von Wedelstädt in Beermann, a. a. O., § 125 AO 1977 Rz. 18; Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 125 Rz. 2; Tipke/Kruse, a. a. O., § 125 AO 1977 Rz. 6). Davon kann im Streitfall nicht ausgegangen werden. Auch wenn das FG schließlich festgestellt hat, dass der geänderte Umsatzsteuerbescheid 1986 vom 23. November 1990 mangels seinerzeit ordnungsgemäßer Bekanntgabe nicht vor dem 10. Juni 1994 bekannt gegeben und damit nicht vor Erlass der ersten Vollstreckungsmaßnahme wirksam geworden ist, so war dieser lediglich dem als Vollstreckungsgrundlage benannten Umsatzsteuerbescheid 1986 anhaftende Mangel doch nicht offensichtlich erkennbar. Die Erkenntnis der fehlenden Bekanntgabe war vielmehr erst das Ergebnis behördlicher und richterlicher Ermittlungen, nachdem die Klägerin die im Normalfall geltende Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 1. Halbsatz AO 1977 durch Bestreiten des Zugangs außer Kraft gesetzt hat und das FG erst nach Würdigung aller Umstände zu der Auffassung gelangt ist, dem FA sei der ihm nach § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO 1977 obliegende Nachweis des Zugangs des Bescheides vom 23. November 1990 nicht gelungen. Bei dieser Sachlage war es für einen Dritten schon gar nicht augenfällig und daher nicht offenkundig, dass der auf diesem Bescheid beruhenden Pfändungs- und Einziehungsverfügung im Zeitpunkt ihres Erlasses, auf den es nach dem Wortlaut des § 249 Abs. 1 und § 254 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 für das Vorliegen der Vollstreckungsvoraussetzungen allein ankommt, ein wirksamer vollstreckbarer Verwaltungsakt nicht zugrunde gelegen hat. Dass ein Verwaltungsakt, der vollstreckt werden soll, wegen eines Bekanntgabemangels keine Wirksamkeit erlangt hat, ist der darauf gestützten Vollstreckungsmaßnahme regelmäßig schon deshalb nicht anzusehen, weil dieser Mangel den der Vollstreckung zugrunde liegenden Verwaltungsakt betrifft und es nicht auf die Offenkundigkeit dieses Mangels, sondern auf die Offenkundigkeit des Mangels der Vollstreckungsmaßnahme ankommt, um annehmen zu können, sie sei wegen eines offenkundigen schweren Mangels nichtig (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 249 AO 1977 Rz. 27).
[17] Kann die Offenkundigkeit des schwerwiegenden Mangels der Vollstreckungsmaßnahme nicht festgestellt werden, kommt nur die Rechtsfehlerhaftigkeit in Betracht, wie es der Senat in dem Beschluss vom 17. Mai 1988 VII B 27/88 (BFH/NV 1989, 114) bereits angedeutet hat. Das hat zur Folge, dass die Vollstreckungsmaßnahme ihre Wirkungen entfaltet, so lange sie nicht im Rechtsbehelfsverfahren angefochten und aufgehoben wird.
[18] 3. Fehlt es bei Beginn der Vollstreckung – wie im Streitfall – an einem vollstreckbaren Verwaltungsakt, so ist die Vollstreckungsmaßnahme rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Die nicht heilbare Unzulässigkeit der Verfügung über die Vollstreckung – hier der Pfändungs- und Einziehungsverfügung –, deren Voraussetzungen bei ihrem Erlass nicht vorgelegen haben, folgt aus § 249 Abs. 1 Satz 1 und § 254 Abs. 1 AO 1977.
[19] a) Die AO 1977 regelt in § 249 Abs. 1 und § 254 Abs. 1 bereits dem Wortlaut nach zwingende Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, ehe eine Vollstreckung beginnen darf. Diese Vorschriften, die als bereichsspezifische Sonderregelungen gegenüber den allgemeinen zivilrechtlichen Vollstreckungsregeln der §§ 704 ff. ZPO anzusehen sind, regeln die Vollstreckung auf hoheitlichen Verwaltungsakten beruhender öffentlich-rechtlicher Ansprüche in einem Verwaltungszwangsverfahren (vgl. §§ 249 ff. und §§ 309 ff. AO 1977, sowie BFH-Urteil vom 23. Juli 1996 VII R 88/94, BFHE 181, 202, BStBl II 1996, 511). Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass die Verwaltungsbehörde den Vollstreckungstitel, nämlich den vollstreckbaren Verwaltungsakt selbst erlässt und auch die Vollstreckungshandlungen, z. B. bei Vollstreckung in Geldforderungen und andere Vermögensrechte den Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung, selbst vornimmt, während im zivilrechtlichen Verfahren der Bürger seinen materiellen Anspruch nicht im Wege der Selbsthilfe, sondern erst durch die Inanspruchnahme staatlicher Vollstreckungsorgane durchsetzen kann. Deshalb hat die AO 1977 in den Vorschriften über die Vollstreckung (§§ 249 ff. AO 1977) bestimmte Schutzrechte für den Vollstreckungsschuldner geregelt. Dieser soll den Vollstreckungsmaßnahmen nicht unvermittelt und überraschend gegenüberstehen, sondern wie es § 249 Abs. 1 AO 1977 verlangt, einen vollstreckbaren Verwaltungsakt, mit dem von ihm erkennbar eine bestimmte Leistung gefordert wird, in Händen haben und gemäß § 254 Abs. 1 AO 1977 nach Fälligkeit des Anspruchs des Steuergläubigers durch ein Leistungsgebot unter Fristsetzung auf die bevorstehende Vollstreckung hingewiesen werden. Zu Recht verweist die Klägerin darauf, dass es sich hier um "Muss" -Bestimmungen handelt, die die Behörde einzuhalten hat, ehe sie mit der Vollstreckung beginnen darf und deren Fehlen nicht mit der Folge, dass die rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahme den ihr anhaftenden Mangel verliert, durch Nachholung der Versäumnisse, wie die Bekanntgabe des vollstreckbaren Verwaltungsakts und des Leistungsgebots erst während des Vollstreckungsverfahrens, geheilt werden kann.
[20] b) Die auf der Würdigung des Vollstreckungsbeginns als Ermessensentscheidung beruhende Überlegung, dass es für deren Rechtmäßigkeit genüge, wenn die Vollstreckungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorliegen, geht fehl.
[21] Der Senat lässt offen, ob die Vorschrift des § 249 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, nach der die dort genannten Verwaltungsakte im Verwaltungsweg vollstreckt werden "können", überhaupt eine Ermessensentscheidung über das Ob einer Vollstreckung zulässt. Gewichtige Stimmen in der Literatur sind nämlich der Auffassung, dass die Finanzbehörden aufgrund der Verpflichtungsnorm des § 85 AO 1977, wonach die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben sind, verpflichtet seien, die Ansprüche des Steuergläubigers, die freiwillig nicht erfüllt werden, im Verwaltungswege zu vollstrecken, so dass eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen nur noch im Hinblick auf die Auswahl der Vollstreckungsmaßnahmen in Betracht komme (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 249 AO 1977 Rz. 11 ff.; Szymczak in Koch/Scholtz, a. a. O., § 249 Rz. 8; a. A. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 249 AO 1977 Rz. 46 und 48, und wohl auch Klein/Brockmeyer, a. a. O., Vor § 249 Rz. 6).
[22] c) Unabhängig davon, ob die Entscheidung, eine Vollstreckung zu beginnen, im Ermessen der Finanzbehörde liegt, enthalten die Regelungen in den §§ 249 und 254 AO 1977 Tatbestandsmerkmale, die bei Beginn der Vollstreckung erfüllt sein müssen und die als besondere Statthaftigkeitsvoraussetzungen nicht nach den für Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu beurteilen sind. Solche unabdingbaren Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Vollstreckungsbeginn ist das Vorliegen eines Verwaltungsaktes, mit dem eine Geldleistung gefordert wird, als Vollstreckungsgrundlage und die Regelung, dass die Vollstreckung erst beginnen darf, wenn die Leistung fällig und der Vollstreckungsschuldner zur Leistung aufgefordert worden ist (so schon BFH-Beschluss in BFHE 58, 54, BStBl III 1953, 312, und Urteil in BFHE 75, 147, BStBl III 1962, 321). Liegen diese notwendig einzuhaltenden Tatbestandsvoraussetzungen für die Vollstreckung nicht vor, so ist die dennoch durchgeführte Vollstreckungsmaßnahme von Anfang an rechtswidrig, denn bereits nach dem Wortlaut des § 254 Abs. 1 AO 1977 darf die Vollstreckung in einem solchen Fall nicht beginnen. Einen späteren Zeitpunkt für das Vorliegen der Vollstreckungsvoraussetzungen als den Vollstreckungsbeginn, wie etwa den der letzten Verwaltungsentscheidung, schließt das Gesetz damit eindeutig aus.
[23] d) Fehlt eine der Statthaftigkeitsvoraussetzungen bei der ersten Vornahme der Vollstreckungshandlungen, so wird die darauf beruhende Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahme auch nicht dadurch beseitigt oder "geheilt", dass die Voraussetzungen nachträglich erfüllt werden. Insoweit haben die Entscheidungen des BFH in BFHE 58, 54, BStBl III 1953, 312 und in BFHE 75, 147, BStBl III 1962, 321, nach denen eine vor Bekanntgabe eines vollstreckbaren Verwaltungsakts, bzw. eines Leistungsgebotes vorgenommene Vollstreckungsmaßnahme auch dann aufzuheben ist, wenn die Bekanntgabe des vollstreckbaren Verwaltungsaktes und des Leistungsgebotes an den in Anspruch genommenen Vollstreckungsschuldner nachgeholt wird, auch heute noch Gültigkeit. Das folgt daraus, dass die Vornahme der Vollstreckungsmaßnahme ohne Vorliegen der zwingenden Statthaftigkeitsvoraussetzungen von Anfang an unzulässig war. Dieser Mangel lässt sich durch die spätere Erfüllung der Voraussetzungen nicht beseitigen. Die in den Vorschriften der §§ 249 Abs. 1 Satz 1 und 254 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 geregelten gesetzlichen Statthaftigkeitsvoraussetzungen einer Vollstreckung dienen insbesondere dem Schutz des Vollstreckungsschuldners im öffentlich-rechtlichen Verwaltungsverfahren und sind daher einer späteren Heilung nicht zugänglich.
[24] Der der Vollstreckung anhaftende Mangel, dass die Statthaftigkeitsvoraussetzungen bei Beginn der Vollstreckungsmaßnahmen nicht vorgelegen haben, hätte nach Vorliegen der Voraussetzungen nur durch den Erlass einer neuen Pfändungs- und Einziehungsverfügung mit Wirkung ab deren Bekanntgabe behoben werden können. Die hier angegriffene Pfändungsmaßnahme war dagegen wegen eines nicht heilbaren Rechtsfehlers aufzuheben, ohne dass es auf den weiteren Revisionsvortrag der Klägerin und auf die Verfahrensrügen noch ankommt. Mit der Aufhebung der Pfändungsmaßnahmen ist auch der Rechtsgrund für die Einziehung des mit der Verfügung vom 25. April 1994 beschlagnahmten Betrages in Höhe von … DM entfallen, so dass dieser Betrag zu erstatten ist (§ 37 Abs. 2 AO 1977), ohne dass es eines diesbezüglichen Ausspruchs im Tenor bedürfte.