Bundesverwaltungsgericht
Urkundenfälschung eines Lehrgangszeugnisses durch den Soldaten; Freispruch wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung); akute Belastungssituation der nicht bestandenen Prüfung während der Tatzeit als Auslöser eines Verdrängungsmechanismusses; "Vaterkomplex" – Reaktivierung der hohen Leistungsanforderungen des Vaters mit körperlicher und psychischer Strafandrohung durch spezielle Belastungssituationen in der Bundeswehr.
SG §§ 7, 13 Abs. 1, § 17 Abs. 2 Satz 1; StGB § 20
Freispruch eines Soldaten vom Vorwurf der Urkundenfälschung seines Lehrgangszeugnisses wegen Schuldunfähigkeit.

BVerwG, Urteil vom 25. 6. 2002 – 2 WD 44.01; Truppendienstgericht Nord (lexetius.com/2002,3368)

[1] Der Soldat, im Dienstrang eines Stabsunteroffiziers, wurde von der Truppendienstkammer für schuldig befunden, ein Dienstvergehen durch Fälschung seiner Lehrgangsunterlagen begangen zu haben, und zur Entfernung aus dem Dienstverhältnis unter Bewilligung eines Unterhaltsbeitrages von 75 v. H. der erdienten Übergangsgebührnisse auf die Dauer von sechs Monaten verurteilt.
[2] Auf die dagegen vom Soldaten eingelegte Berufung hob der Senat das Kammerurteil auf und sprach den Soldaten frei.
[3] Gründe: a) Der Soldat, der erst im vierten Anlauf den Unteroffizierlehrgang 1 an der Nachschubschule des Heeres bestanden hatte, absolvierte einige Monate später den Unteroffizierlehrgang 2. Das Lehrgangszeugnis vom 22. April lautete "nicht bestanden". In der Anlage zum Lehrgangszeugnis (Beurteilungsvermerk) vom 20. April wurde u. a. ausgeführt:
[4] "Der Unteroffizier S. erzielte in den schriftlichen Leistungsbewertungen durchschnittliche Ergebnisse. Die an ihn gestellten Aufträge hat er nach anfänglichen Problemen ausreichend vorbereitet und durchgeführt. Die praktische Prüfung konnte er nicht bestehen. An der Abschlussprüfung hat er nicht teilgenommen, er ist zurzeit körperlich nicht voll belastbar. Eine Wiederholung des Lehrgangs wird erst nach Schließen der erheblichen Ausbildungslücken empfohlen."
[5] Der Soldat unterschrieb diesen Vermerk am 21. April und erhielt am Ende des Lehrgangs die Lehrgangsunterlagen und die Zusatzakten zur Weitergabe an seine Stammeinheit. In der seinem Bataillon vorliegenden Zusatzakte fanden sich später ein mit Dienstsiegel versehenes Lehrgangszeugnis, das den Unteroffizierlehrgang 2 als "bestanden" bescheinigte, und ein Beurteilungsvermerk, jeweils mit der angeblichen Unterschrift des Majors W. Der Beurteilungsvermerk als Anlage zum Zeugnis lautet:
[6] "… Während des gesamten Lehrgangs erzielte er vollbefriedigende Ergebnisse. Die an ihn gestellten Aufträge führte er selbstständig und korrekt aus. Ausbildungen bereitet er sorgfältig vor und führt sie sicher durch. Sein Auftreten als Vorgesetzter und Führer ist schon sehr gut ausgeprägt. Bei der Durchführung einer aktuellen Information im Rahmen der politischen Bildung zeigte er in Vorbereitung und Durchführung weit überdurchschnittliche Leistungen. Unteroffizier S. ist voll belastbar".
[7] Bei diesem Sachverhalt kommt kein anderer als der Soldat als Täter für die ihm zur Last gelegten Fälschungen in Betracht, da nur er – außer der Nachschubschule des Heeres und seiner Einheit bzw. seinem Bataillon – Zugang zur Personalakte und zu den Lehrgangsunterlagen sowie ein Interesse an der Abänderung des Zeugnisses und des Beurteilungsvermerks hatte. Daher steht für den Senat außer Zweifel, dass der Soldat die o. a. Unterlagen selbst gefälscht und gegen die Originale in der Personalakte ausgetauscht hat.
[8] Da die Fälschungen nicht sofort auffielen, wurde der Soldat nach Bekundung des Zeugen nicht nur zum Stabsunteroffizier ernannt und weiter verpflichtet, sondern auch zum Feldwebellehrgang kommandiert und für eine Versetzung auf einen Feldwebeldienstposten vorgesehen.
[9] b) Durch sein Verhalten hat der Soldat zwar objektiv gegen die Dienstpflichten zum treuen Dienen (§ 7 SG), zur Wahrheit in dienstlichen Angelegenheiten (§ 13 Abs. 1 SG) sowie zur innerdienstlichen Achtungs- und Vertrauenswahrung (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) verstoßen. Er hat aber nicht schuldhaft gehandelt, weil er gemäß § 20 StGB schuldunfähig war. Denn er vermochte wegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit das Unrecht seiner Tat nicht einzusehen.
[10] Der Senat folgt damit den überzeugenden Feststellungen, die die Sachverständige in den schriftlichen Ausführungen ihres psychiatrischen Gutachtens vom 3. Mai 2002 sowie in ihrer mündlichen Erläuterung in der Berufungshauptverhandlung dargelegt hat:
[11] Für den Soldaten seien die Diagnosen einer ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung und einer dissoziativen Amnesie bei akuter Belastungssituation zu stellen. Die Genese dieser schweren Persönlichkeitsstörung liege in den Kindheitserfahrungen des Soldaten, die einerseits von hohem Erwartungsdruck des Vaters und andererseits durch dessen Dominanz sowie die immer wieder vermittelte, als belastend empfundene Emotionslosigkeit, Ungerechtigkeit, körperliche und psychische Bestrafung, Erniedrigung und Kränkung des Soldaten geprägt gewesen seien. Diese häusliche Erfahrung einer hohen Leistungsanforderung des Vaters mit körperlicher und psychischer Strafandrohung sei für den Soldaten durch spezielle Belastungssituationen in der Bundeswehr in der Weise wieder reaktiviert worden, dass kindliche Versagensängste, angstbedingte Denkhemmung mit Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Erstarrung, einem Gefühl wie Leere im Kopf aufgetreten und außerdem vegetative Störungen wie Erbrechen hinzu gekommen seien. Die zusätzliche Belastung sei für den Soldaten aus der erklärten Erwartung seiner Vorgesetzten und Kameraden, er könne und solle den mehrfach wiederholten Lehrgang endlich bestehen, erwachsen. Die daraus resultierende Versagensangst sowie die Angst, sein Ansehen in der Bundeswehr vor dem Hintergrund des immer währenden Kampfes um die Akzeptanz durch den Vater zu verlieren, hätten ihn in eine "akute Belastungssituation extremster Angst" versetzt, "die zu der Tat führte". Angesichts der zugrundeliegenden ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die sich als "schwere andere seelische Abartigkeit" des Soldaten im Sinne von § 20 StGB darstelle, nach Stellungnahme des Oberfeldarztes P. schon bei seiner Einstellung in die Bundeswehr bestanden habe und unter den bundeswehreigentümlichen Zuständen zur Reaktivierung des schon vorher bestehenden Vaterkomplexes sowie zu einer dissoziativen Amnesie geführt habe, sei nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, dass durch die akute Belastungssituation der nicht bestandenen Prüfung während der Tatzeit ein Verdrängungsmechanismus ausgelöst worden sei, der wegen der Schwere der ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung zeitweilig die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben und damit die Schuldfähigkeit des Soldaten ausgeschlossen haben könne. Letztlich sei hier auf diese dissoziative Störung des Soldaten abzustellen. Denn da er sich nicht nur im Explorationsgespräch mit der Sachverständigen, sondern auch in der Berufungshauptverhandlung erneut auf Erinnerungslücken berufen habe, die mit seinen früheren Angaben eines fehlenden Bewusstseins nicht übereinstimmten, sei davon auszugehen, dass er sich weder zur Tatzeit der von ihm begangenen Urkundenfälschung im Zustand extremster Versagensangst und einer dissoziativen Amnesie bewusst gewesen sei noch rückblickend einzuordnen vermocht habe, dass er eine strafbare Handlung zu Lasten des Dienstherrn begangen habe. Weil sich das Erinnerungsbild des Soldaten aufgrund seiner Einlassung in der Berufungshauptverhandlung gegenüber seinem früheren Gedächtnis nochmals verändert habe, sei daraus zu ersehen, dass er sich an den Tatvorgang der Urkundenfälschung zu Lasten des Dienstherrn ebenso wenig zu erinnern vermocht habe, wie an das – früher bestätigte – Kindheitserlebnis, dass der Vater durch den "Akt des Schlagens" seine Dominanz und Erziehungsgewalt missbraucht habe.
[12] Angesichts dieser schlüssigen, nicht widerlegbaren und damit überzeugenden Darlegung der Sachverständigen hatte der Senat davon auszugehen, dass der Soldat bei Begehung seiner Urkundenfälschung wegen einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" gemäß § 20 StGB unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
[13] Der Soldat war daher insgesamt von dem Vorwurf eines Dienstvergehens freizusprechen.