Europäischer Gerichtshof
Vorabentscheidungsfragen – Vorlagepflicht – Begriff des Gerichts, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können – Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 – Gemeinschaftliches System der Zollbefreiungen
1. Ein nationales Gericht, gegen dessen Entscheidungen unter Voraussetzungen, wie sie für die Entscheidungen des vorlegenden Gerichts gelten, Rechtsmittel beim obersten Gericht eingelegt werden können, unterliegt nicht der Verpflichtung des Artikels 234 Absatz 3 EG.
2. Die Prüfung der Frage, ob eine Wareneinfuhr im Sinne von Artikel 45 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen in der durch die Verordnung (EG) Nr. 355/94 des Rates vom 14. Februar 1994 geänderten Fassung nichtkommerziellen Charakter hat, ist in jedem Einzelfall auf der Grundlage einer Gesamtbeurteilung der Umstände unter Berücksichtigung der Menge und der Art der Einfuhr sowie der Häufigkeit von Einfuhren der gleichen Waren durch den betreffenden Reisenden, abergegebenenfalls auch seiner Lebensweise und seiner Gewohnheiten oder seines familiären Umfelds vorzunehmen.
3. Artikel 45 der Verordnung Nr. 918/83 in der durch die Verordnung Nr. 355/94 geänderten Fassung steht nationalen Verwaltungsvorschriften oder -praktiken entgegen, mit denen verbindlich mengenmäßige Grenzen für die Zollbefreiung festgesetzt werden oder die zur Folge haben können, dass aufgrund der Menge der eingeführten Waren eine unwiderlegbare Vermutung für den kommerziellen Charakter der Einfuhr begründet wird.

EuGH, Urteil vom 4. 6. 2002 – C-99/00 (lexetius.com/2002,726)

[1] In der Rechtssache C-99/00 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Hovrätt för Västra Sverige (Schweden) in dem bei diesem anhängigen Strafverfahren gegen Kenny Roland Lyckeskog vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 234 Absatz 3 EG und des Artikels 45 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 105, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 355/94 des Rates vom 14. Februar 1994 (ABl. L 46, S. 5) erlässt DER GERICHTSHOF unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, des Kammerpräsidenten P. Jann, der Kammerpräsidentinnen F. Macken und N. Colneric und des Kammerpräsidenten S. von Bahr sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), M. Wathelet, V. Skouris, J. N. Cunha Rodrigues und A. Rosas, Generalanwalt: A. Tizzano Kanzler: R. Grass unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen – der schwedischen Regierung, vertreten durch L. Nordling als Bevollmächtigte, – der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten, – der finnischen Regierung, vertreten durch E. Bygglin als Bevollmächtigte, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand von M. Hoskins, Barrister, – der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch L. Ström als Bevollmächtigte, aufgrund des Berichts des Berichterstatters, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Februar 2002, folgendes Urteil (1):
[2] 1. Das Hovrätt för Västra Sverige hat mit Beschluss vom 10. März 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 16. März 2000, gemäß Artikel 234 EG vier Fragen nach der Auslegung des Artikels 234 Absatz 3 EG und des Artikels 45 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 105, S. 1) in der durch dieVerordnung (EG) Nr. 355/94 des Rates vom 14. Februar 1994 (ABl. L 46, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 918/83) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[3] 2. Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Verfahrens wegen versuchten Warenschmuggels gegen Herrn Lyckeskog, der versucht hatte, 500 kg Reis aus Norwegen nach Schweden einzuführen, ohne diese Einfuhr anzumelden.
Gemeinschaftsvorschriften
[4] 3. Zu den Pflichten des vorlegenden Gerichts bestimmt Artikel 234 Absatz 3 EG: Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet.
[5] 4. Die auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Gemeinschaftsvorschriften sind folgende Artikel 45 bis 47 der Verordnung Nr. 918/83:
[6] Artikel 45. (1) Von den Eingangsabgaben befreit sind vorbehaltlich der Artikel 46 bis 49 die aus einem Drittland eingeführten Waren im persönlichen Gepäck von Reisenden, sofern es sich um Einfuhren ohne kommerziellen Charakter handelt. (2) Im Sinne von Absatz 1 gelten als … b) 'Einfuhren ohne kommerziellen Charakter': Einfuhren, die – gelegentlich erfolgen und – sich ausschließlich aus Waren zusammensetzen, die zum persönlichen Ge- oder Verbrauch von Reisenden oder den Angehörigen ihres Haushalts oder als Geschenk bestimmt sind; dabei dürfen diese Waren weder ihrer Art noch ihrer Menge nach zu der Besorgnis Anlass geben, dass die Einfuhr aus geschäftlichen Gründen erfolgt. …
[7] Artikel 47. Für andere als die in Artikel 46 genannten Waren wird die Befreiung nach Artikel 45 je Reisenden bis zu einem Gesamtwert von 175 ECU gewährt. Für Reisende unter fünfzehn Jahren können die Mitgliedstaaten diesen Freibetrag jedoch bis auf 90 ECU verringern.
Nationales Recht
[8] 5. Die Hovrätter erlassen Urteile, gegen die Rechtsmittel beim Högsta domstol (Schweden) eingelegt werden kann. Dieses Rechtsmittel wird immer geprüft, wenn es vom Riksåklagare (Generalstaatsanwalt) in Rechtssachen eingelegt wird, in denen öffentliche Klage erhoben worden ist. In den anderen Fällen wird das Rechtsmittel nur dann in der Sache geprüft, wenn das Högsta domstol eine Zulassungserklärung abgegeben hat.
[9] 6. Nach Kapitel 54 § 10 des Rättegångsbalk (Verfahrensordnung) kann das Högsta domstol die Zulassungserklärung nur abgeben, wenn 1. es für die einheitliche Rechtsanwendung wichtig ist, dass das Rechtsmittel vom Högsta domstol geprüft wird, oder 2. besondere Gründe für die Prüfung des Rechtsmittels vorliegen, wie etwa Revisionsgründe, ein Formfehler oder wenn die Entscheidung des Hovrätt offensichtlich auf einer schwerwiegenden Unterlassung oder einem groben Irrtum beruht.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[10] 7. Herr Lyckeskog wurde vom Tingsrätt Strömstad (Schweden) wegen versuchten Warenschmuggels verurteilt, da er 1998 versucht hatte, 500 kg Reis aus Norwegen nach Schweden einzuführen. Da das Tingsrätt von einer Überschreitung der Menge von 20 kg, die durch eine Entscheidung der Zollbehörde für die zollfreie Einfuhr von Reis zugelassen war, ausging, vertrat es die Ansicht, dass die von Herrn Lyckeskog getätigte Einfuhr kommerziellen Charakter im Sinne der Verordnung Nr. 918/83 habe.
[11] 8. Dieser legte gegen das Urteil Berufung beim Hovrätt för Västra Sverige ein, das sich, obwohl es meint, in der Sache entscheiden zu können, da die Auslegung der anwendbaren Gemeinschaftsvorschriften keine Schwierigkeit bereite, die Frage stellt, ob es nicht als letztinstanzliches Gericht zu betrachten und daher gemäß Artikel 234 Absatz 3 EG gehalten sei, dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 918/83 vorzulegen, da die im Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache 283/81 (Cilfit u. a., Slg. 1982, 3415) aufgestellten Voraussetzungen offenbar nicht gegeben seien.
[12] 9. Das Hövrätt för Västra Sverige hat dem Gerichtshof deshalb folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
[13] 1. Ist ein nationales Gericht, das praktisch letztinstanzlich entscheidet, da das Rechtsmittel zum obersten Gericht des Landes einer Zulassung bedarf, ein Gericht im Sinne von Artikel 234 Absatz 3 EG?
[14] 2. Kann ein Gericht im Sinne von Artikel 234 Absatz 3 EG davon absehen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, wenn ihm klar ist, wie die in dem Rechtsstreit aufgeworfenen gemeinschaftsrechtlichen Fragen zu beantworten sind, auch wenn sie nicht unter die Lehre vom acte claire oder acte éclairé fallen?
[15] Für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage verneint oder die erste Frage bejaht, die zweite Frage jedoch verneint – aber nicht in den anderen Fällen –, ersucht das Hovrätt um Beantwortung folgender Fragen: 3. Nach Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen sind vorbehaltlich der Artikel 46 bis 49 der Verordnung die aus einem Drittland eingeführten Waren im persönlichen Gepäck von Reisenden von den Eingangsabgaben befreit, sofern es sich um Einfuhren ohne kommerziellen Charakter handelt. Bedeutet dies, dass Art und Menge der Waren objektiv keine Veranlassung zu Zweifeln an der Natur der Einfuhr geben dürfen? Oder sind die Lebensweise und die Gewohnheiten des Einzelnen zu berücksichtigen?
[16] 4. Welche rechtliche Bedeutung haben nationale Verwaltungsvorschriften, in denen angegeben wird, wie groß die zollfreie Menge einer bestimmten Ware – auf die die Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen anwendbar ist – normalerweise sein darf?
Zur ersten Frage
[17] 10. Mit seiner ersten Frage möchte das Hövrätt för Västra Sverige wissen, ob ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen vom obersten Gericht, bei dem sie angefochten werden, nur geprüft werden, wenn dieses das Rechtsmittel zulässt, als Gericht im Sinne von Artikel 234 Absatz 3 EG, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, anzusehen ist.
[18] 11. Die dänische Regierung vertritt die Auffassung, dass jedes Gericht, dessen Entscheidungen nur nach einer Zulassungserklärung angefochten werden können, als Gericht im Sinne von Artikel 234 Absatz 3 EG anzusehen sei. Sie stützt sich dabei zum einen auf das Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64 (Costa, Slg. 1964, 1253), in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen habe, dass nach dieser Vorschrift staatliche Gerichte, deren Entscheidungen wie im vorliegenden Ausgangsverfahren nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könnten, den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts ersuchen müssten, und zum anderen auf das Urteil vom 24. Mai 1977 in der Rechtssache 107/76 (Hoffmann-La Roche, Slg. 1977, 957), in dem der Gerichtshof ausgeführt habe, dass die Regelung des Artikels 234 EG darauf abziele, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in sämtlichen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, und Absatz 3 dieses Artikels insbesondere verhindern solle, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbilde, die mit den Normen des Gemeinschaftsrechts nicht in Einklang stehe. Das Erfordernis einer Zulassungserklärung für die Einlegung eines Rechtsmittels würde ein Hindernis für die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts darstellen, wenn die Verpflichtung aus Artikel 234 Absatz 3 EG nur das oberste Gericht betreffen würde.
[19] 12. Auch die schwedische und die finnische Regierung berufen sich in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen auf das Urteil Costa, allerdings um die entgegengesetzte Auffassung zu vertreten. So sei allein aufgrund der Tatsache, dass die Entscheidungen der Hovrätter mit einem Rechtsmittel angefochten werden könnten, davon auszugehen, dass diese Gerichte nicht unter Artikel 234 Absatz 3 EG fielen. Das Zulassungssystem schränke lediglich die Möglichkeit für den Rechtsmittelführer ein, die Prüfung seines Rechtsmittels zu erreichen. Es schließe, wie auch die Regierung des Vereinigten Königreichs betont, nicht die Möglichkeit aus, ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen der Hovrätter einzulegen. Das Vereinigte Königreich trägt ferner vor, dass ein oberstes Gericht von der Phase der Prüfung der Rechtsmittelzulassung an die Möglichkeit habe, eine Frage nach der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift zur Vorabentscheidung vorzulegen, was das vorlegende Gericht, vom Gerichtshof insoweit befragt, in Bezug auf den Högsta domstol nicht bestreitet. Die schwedische Regierung weist im Übrigen darauf hin, dass die Hovrätter in den Ausnahmefällen, in denen es kein ordentliches Rechtsmittel gegen ihre Urteile gebe und sie daher formell in letzter Instanz entschieden, unter Artikel 234 Absatz 3 EG fielen.
[20] 13. Die Kommission vertritt dieselbe Auffassung unter Hinweis darauf, dass ein über die Zulassungserklärung letztinstanzlich befindendes Gericht, wenn es meine, dass eine Frage des Gemeinschaftsrechts nicht richtig behandelt worden sei, entweder dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Artikel 234 Absatz 3 EG unterbreiten, sich auf eine der im Urteil Cilfit u. a. genannten Beschränkungen der Vorlagepflicht berufen oder die Rechtssache an ein unteres Gericht verweisen müsse. Auf jeden Fall sei ein Vorabentscheidungsersuchen weiterhin möglich, so dass die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht gefährdet sei.
[21] 14. Die Verpflichtung der nationalen Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, fügt sich in den Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten als den mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts betrauten Gerichten und dem Gerichtshof ein, durch die die ordnungsgemäße Anwendung und einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten gewährleistet werden soll. Diese Verpflichtung soll insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechungherausbildet, die nicht mit den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in Einklang steht (u. a. Urteil Hoffmann-La Roche, Randnr. 5, und Urteil vom 4. November 1997 in der Rechtssache C-337/95, Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Randnr. 25).
[22] 15. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die obersten Gerichte (Urteil Parfums Christian Dior) und alle Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden können (Urteil vom 27. März 1963 in den Rechtssachen 28/62, 29/62 und 30/62, Da Costa & Schaake u. a., Slg. 1963, 60) – mit den vom Gerichtshof zugelassenen Einschränkungen (Urteil Cilfit u. a.) – der Vorlagepflicht unterliegen.
[23] 16. Die Entscheidungen eines nationalen Rechtsmittelgerichts, die von den Parteien bei einem obersten Gericht angefochten werden können, stammen nicht von einem einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, wie es in Artikel 234 EG heißt. Der Umstand, dass eine solche Anfechtung nur nach vorheriger Zulassungserklärung durch das oberste Gericht in der Sache geprüft werden kann, führt nicht dazu, dass den Parteien das Rechtsmittel entzogen wird.
[24] 17. So verhält es sich beim schwedischen System. Die Parteien behalten auf jeden Fall das Recht, beim Högsta domstol ein Rechtsmittel gegen das Urteil eines Hovrätt einzulegen, das somit nicht als Gericht zu betrachten ist, gegen dessen Entscheidungen kein Rechtsmittel eingelegt werden kann. Das Högsta domstol kann nach Kapitel 54 § 10 des Rättegångsbalk eine Zulassungserklärung abgeben, wenn es für die einheitliche Rechtsanwendung wichtig ist, dass dieses Gericht das Rechtsmittel prüft. Zweifel hinsichtlich der Auslegung des anwendbaren Rechts einschließlich des Gemeinschaftsrechts können daher zu einer – letztinstanzlichen – Überprüfung durch das oberste Gericht führen.
[25] 18. Stellt sich eine Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift, so ist das oberste Gericht nach Artikel 234 Absatz 3 EG verpflichtet, dem Gerichtshof entweder im Stadium der Zulassungsprüfung oder in einem späteren Stadium eine Vorabentscheidungsfrage vorzulegen.
[26] 19. Somit ist die erste Frage dahin zu beantworten, dass ein nationales Gericht, gegen dessen Entscheidungen unter Voraussetzungen, wie sie für die Entscheidungen des vorlegenden Gerichts gelten, Rechtsmittel beim obersten Gericht eingelegt werden können, nicht der Verpflichtung des Artikels 234 Absatz 3 EG unterliegt.
Zur zweiten Frage
[27] 20. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass ein Hovrätt als Gericht im Sinne von Artikel 234 Absatz 3 EG anzusehen ist, im Wesentlichen wissen, ob es den Gerichtshof auch dann anrufen muss, wenn die Auslegung der im Ausgangsverfahren anwendbaren Gemeinschaftsvorschrift keine Schwierigkeit aufwirft, die im Urteil Cilfit u. a. für die Anwendung der Lehre vom acte clair aufgestellten Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen.
[28] 21. Angesichts der Antwort auf die erste Frage und der Tatsache, dass nach schwedischem Recht das oberste Gericht im Rahmen eines bei ihm gegen eine Entscheidung eines Hovrätt eingelegten Rechtsmittels dem Gerichtshof eine Vorabentscheidungsfrage vorlegen kann, braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.
Zur dritten Frage
[29] 22. Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, nach welchen Kriterien festgestellt werden kann, ob die Einfuhr von im persönlichen Gepäck eines Reisenden mitgeführten Waren aus einem Drittland keinen kommerziellen Charakter im Sinne von Artikel 45 Absatz 1 der Verordnung Nr. 918/83 hat, und insbesondere, ob die Lebensweise und die Gewohnheiten des Einzelnen zu berücksichtigen sind.
[30] 23. Die finnische Regierung vertritt die Ansicht, dass, wenn die im persönlichen Gepäck eines Reisenden mitgeführten Waren aufgrund ihrer Art oder ihrer erheblichen Menge offenbar zu kommerziellen Zwecken eingeführt würden, dessen Lebensweise und Gewohnheiten zu prüfen seien. Sollte diese Prüfung nicht ergeben, dass die Waren allein zu seinem persönlichen Ge- oder Verbrauch oder dem der Angehörigen seines Haushalts bestimmt seien, könne die Zollbehörde davon ausgehen, dass die Einfuhr kommerziellen Charakter habe, und somit die Zollbefreiung verweigern. Die Kommission teilt diese Auffassung, nach der in jedem Einzelfall die Zweckmäßigkeit einer Zollbefreiung zu zu prüfen ist.
[31] 24. Die schwedische Regierung meint ebenfalls, dass für die Feststellung, ob die Einfuhr der im persönlichen Gepäck eines Reisenden mitgeführten Ware kommerziellen Charakter hat, die Art und die Menge der Waren, aber auch die wirtschaftlichen und persönlichen Umstände des Reisenden, dessen Ehefrau im vorliegenden Fall aus Asien stamme, berücksichtigt werden müssten. Sie stützt sich dabei auf die Ausführungen des Gerichtshofes im Urteil vom 6. Dezember 1990 in der Rechtssache C-208/88 (Kommission/Dänemark, Slg. 1990, I-4445), wonach Artikel 45 der Verordnung Nr. 918/83 die Mitgliedstaaten nicht berechtige, den kommerziellen Charakter einer Einfuhr dann unwiderlegbar zu vermuten, wenn die im persönlichen Gepäck eines Reisenden mitgeführten Waren eine bestimmte Menge überschritten.
[32] 25. Nach den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 918/83 gelten als Einfuhren ohne kommerziellen Charakter solche Einfuhren, die sich ausschließlich aus Waren zusammensetzen, die zum persönlichen Ge- oder Verbrauch von Reisenden oder den Angehörigen ihres Haushalts oder als Geschenk bestimmt sind; dabei dürfen diese Waren weder ihrer Art noch ihrer Menge nach zu der Besorgnis Anlass geben, dass die Einfuhr aus geschäftlichen Gründen erfolgt.
[33] 26. Der persönliche Ge- oder Verbrauch variiert definitionsgemäß von einer Person zur anderen und von einer Kultur zur anderen, so dass die Festlegung auf einen typischen Ge- oder Verbrauch, der als Bezug dienen könnte, wenig befriedigend ist. Für eine ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung Nr. 918/83 ist es daher unerlässlich, im Einzelfall, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Lebensweise und der Gewohnheiten jedes Reisenden, zu beurteilen, ob die Einfuhr kommerziellen Charakter hat. Die Art und die Menge der betreffenden Waren gehören zu den Indizien, denen Rechnung zu tragen ist, die die Zollbehörden jedoch bei der Beurteilung des kommerziellen Charakters der Einfuhr nicht allein in Betracht ziehen dürfen.
[34] 27. Die dritte Frage ist daher dahin zu beantworten, dass die Prüfung der Frage, ob eine Wareneinfuhr im Sinne von Artikel 45 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 918/83 nichtkommerziellen Charakter hat, in jedem Einzelfall auf der Grundlage einer Gesamtbeurteilung der Umstände unter Berücksichtigung der Menge und der Art der Einfuhr sowie der Häufigkeit von Einfuhren der gleichen Waren durch den betreffenden Reisenden, aber gegebenenfalls auch seiner Lebensweise und seiner Gewohnheiten oder seines familiären Umfelds vorzunehmen ist.
Zur vierten Frage
[35] 28. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob nationale Verwaltungsvorschriften, in denen die Menge einer in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 918/83 fallenden Ware, die zollfrei eingeführt werden kann, festgelegt wird, mit dieser Verordnung vereinbar sind.
[36] 29. Die finnische Regierung verweist auf den Zweck der Verordnung Nr. 918/83, der darin bestehe, im gesamten Gemeinschaftsgebiet eine einheitliche Regelung der Zollbefreiung zu schaffen.
[37] 30. Ebenso wie die schwedische Regierung und die Kommission ist sie der Auffassung, dass diese Verordnung den Mitgliedstaaten nicht das Recht verleihe, strengere mengenmäßige Beschränkungen für bestimmte Waren einzuführen, außer wenn diese Beschränkungen aus Gründen der Sittlichkeit oder der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt seien. Sie gebe ihnen auch nicht die Möglichkeit, allein im Hinblick auf die Menge der eingeführten Ware zu entscheiden, ob eine Einfuhr kommerziell sei. Derartige nationale Bestimmungen seien unvereinbar mit der Verordnung Nr. 918/83.
[38] 31. Nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen jedoch nach Ansicht der Beteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, unverbindliche Anweisungen der Zollbehörden, in denen für eine Ware die Höchstmenge angegeben ist, bis zu der der Reisende keine weiteren Nachweise für den nichtkommerziellen Charakter der Einfuhr erbringen muss.
[39] 32. Eine solche Auslegung der Verordnung Nr. 918/83 steht in Einklang mit der Antwort auf die dritte Frage. Wären die Mitgliedstaaten berechtigt, mengenmäßige Beschränkungen aus anderen Gründen als denen der Sittlichkeit oder der öffentlichenOrdnung einzuführen, so wäre die Einheitlichkeit des Systems der Zollbefreiungen im gesamten Gebiet der Gemeinschaft gefährdet. Anweisungen der Zollbehörden sind jedoch nicht unvereinbar mit der durch die Verordnung Nr. 918/83 geschaffenen Regelung, soweit sie nicht in zweckentfremdeter Weise eine unwiderlegbare Vermutung für den kommerziellen Charakter der Einfuhren begründen, sondern lediglich ein unverbindliches Mittel zur Erleichterung der Zollverfahren darstellen.
[40] 33. Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, dass Artikel 45 der Verordnung Nr. 918/83 nationalen Verwaltungsvorschriften oder -praktiken entgegensteht, mit denen verbindlich mengenmäßige Grenzen für die Zollbefreiung festgesetzt werden oder die zur Folge haben können, dass aufgrund der Menge der eingeführten Waren eine unwiderlegbare Vermutung für den kommerziellen Charakter der Einfuhr begründet wird.
Kosten
[41] 34. Die Auslagen der schwedischen, der dänischen und der finnischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
1: Verfahrenssprache: Schwedisch