Bundesverwaltungsgericht
Unterhaltsbeitrag; Unwürdigkeit; Aberkennung des Ruhegehalts.
WDO § 63 Abs. 3
Der Ausschluss des Unterhaltsbeitrages für einen früheren Soldaten kommt wegen "Nichtwürdigkeit" nur bei Vorliegen solcher Umstände in Betracht, die nach der Art und dem Gewicht des Fehlverhaltens sowie nach der Persönlichkeit des Soldaten und dem Maß seiner Schuld jeden Grund für die nachwirkende Fürsorgepflicht des Dienstherrn entfallen lassen; dabei kann von Bedeutung sein, dass seit Jahren nachlassende dienstliche Leistungen mit dem damaligen Gesundheitszustand und mit innerdienstlichen Konflikten im Zusammenhang gestanden haben können.

BVerwG, Urteil vom 27. 10. 2005 – 2 WD 4.05; TDG Nord (lexetius.com/2005,3721)

[1] Der Soldat wurde bis zu seiner im Jahre 2003 wegen Dienstunfähigkeit nach § 55 Abs. 2 SG vorzeitig erfolgen Entlassung aus dem Dienstverhältnis in einem Sanitätszentrum als Sanitätsstabsoffizier Zahnarzt verwendet. Nach den getroffenen Feststellungen führte er im Sanitätszentrum privatärztliche Behandlungen durch, ohne die hierzu erforderliche Nebentätigkeitsabrechnung zu besitzen; ferner stellte er in diesem Rahmen erbrachte zahnärztliche Leistungen in Rechnung, die er entweder überhaupt nicht erbracht oder schon zu einem früheren Zeitpunkt liquidiert hatte; außerdem zeigte er entgegen der ihm obliegenden Meldepflicht die von ihm gegenüber Privatpatienten geltend gemachte Honorarforderungen der zuständigen Stelle nicht an und verhinderte so die Berechnung und Durchführung von Kostenerstattung und Vorteilsausgleich; des Weiteren erstellte er fingierte Rechnungen von nicht existenten Laboren und verlangte von den Patienten die Bezahlung dieser Leistungen an sich. Zur Vertuschung seines Fehlverhaltens forderte er die betroffenen Privatpatienten mündlich, durch Anerbieten eines Geldbetrages sowie durch "Psychoterror" auf, von Anzeigen abzusehen.
[2] Das Truppendienstgericht verurteilte ihn wegen eines Dienstvergehens zur Aberkennung des Ruhegehaltes und schloss die Gewährung eines Unterhaltsbeitrages aus. Auf die Berufung des früheren Soldaten hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil des Truppendienstgerichts insoweit aufgehoben, als es die Gewährung eines Unterhaltsbeitrages ausgeschlossen hatte.
[3] Aus den Gründen: … Die Berufung hat in dem aus dem Tenor der Entscheidung ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Senat ist trotz verbleibender (Rest-) Zweifel nicht zu der Feststellung gelangt, dass der frühere Soldat eines Unterhaltsbeitrages im Sinne des § 63 Abs. 3 Satz 1 WDO unwürdig ist.
[4] Ob ein Soldat nach dieser gesetzlichen Bestimmung eines Unterhaltsbeitrages nicht würdig ist, muss im Einzelfall vom Gericht festgestellt werden; bloße Zweifel reichen nicht aus. Dabei ist, wie sich aus dem Wortlaut und dem Zweck der Regelung ergibt, auf die Person des Soldaten ("der Verurteilte") und damit zugleich auch auf sein (Gesamt-) Verhalten abzustellen. Der Unterhaltsbeitrag ist im Wehrdisziplinarrecht – ebenso wie im Beamtendisziplinarrecht (vgl. dazu u. a. Urteil vom 12. Januar 1977 – BVerwG 1 D 55.76BVerwGE 53, 237 [238]; Beschlüsse vom 11. Juli 1957 – BDH 2 DB 1857 – BDHE 4, 80 [81], vom 26. März 1958 – BDH 1 DB 6.58 – BDHE 3, 83 [84] und vom 31. Oktober 1988 – BVerwG 1 DB 16.88BVerwGE 86, 78 = NVwZ 1989, 263 [f.] m. w. N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Juli 2003 – DB 17 S 6/03ESVGH 54, 62 [LS]) – Ausdruck einer das Dienstverhältnis überdauernden Fürsorgepflicht des Dienstherrn (Urteile vom 2. Dezember 1970 – BVerwG 1 WD 7.70BVerwGE 43, 147 = NZWehrr 1972, 23 und vom 21. September 2004 – BVerwG 2 WD 11.04NZWehrr 2005, 39 = DÖV 2005, 345 = DokBer 2005, 125 = ZBR 2005, 211 m. w. N.; Dau, WDO, 4. Aufl. 2002, § 63 RNr. 8 m. w. N.). Die Zweckbestimmung des Unterhaltsbeitrages besteht seit jeher in der materiellen Unterstützung des aus dem Dienstverhältnis Entfernten zur Verhinderung einer wirtschaftlichen Notlage und der damit verbundenen Konsequenzen. An dieser Zwecksetzung hat auch die seit dem 1. Januar 2002 geltende Neufassung der Unterhaltsbeitrags-Regelung durch das Zweite Gesetz zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts (2. WehrDiszNOG) uneingeschränkt festgehalten (vgl. dazu auch Bachmann, NZWehrr 2001, 177 [196]; BT-Drucks 14/4659, S. 36 zum sachgleichen § 10 BDG). Während vorher jedoch die Gewährung des Unterhaltsbeitrages einer ausdrücklichen Bewilligung durch das Gericht bedurfte, ist sie nach der – im vorliegenden Falle geltenden – Neuregelung eine unmittelbare gesetzliche Rechtsfolge der Verhängung der disziplinargerichtlichen Höchstmaßnahme. Nur der Ausschluss oder die Verlängerung (über die im Gesetz als Regelfall vorgesehene Dauer von sechs Monaten hinaus) bedürfen einer Entscheidung des Gerichts. Die durch das 2. WehrDiszNOG vorgenommene Umkehr von "Regel und Ausnahme" – die Gewährung des Unterhaltsbeitrages ist nunmehr die vom Gesetz ausdrücklich vorgesehene regelmäßige Rechtsfolge, seine Versagung die Ausnahme – muss bei der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale strikt beachtet werden. Dies muss demzufolge auch bei der Bestimmung dessen, was als "unwürdig" anzusehen ist, Beachtung finden. Als Bestandteil eines Ausnahmetatbestandes ist der Begriff einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich. Anderenfalls würde das Regel-Ausnahme-Verhältnis gleichsam "auf den Kopf gestellt". Daraus ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass eine "Nichtwürdigkeit" nicht bereits dann vorliegt, wenn die disziplinare Höchstmaßnahme verhängt wird. Denn das Gesetz geht im Falle der Verhängung der Höchstmaßnahme gerade davon aus, dass die Gewährung eines Unterhaltsbeitrages grundsätzlich für sechs Monate zu erfolgen hat. Aus dem dargelegten Gesetzeszweck und dem Regelungszusammenhang folgt deshalb, dass nur solche Umstände eine "Nichtwürdigkeit" begründen, die nach der Art und dem Gewicht des Fehlverhaltens sowie nach der Persönlichkeit des Soldaten und dem Maß seiner Schuld jeden Grund für die nachwirkende Fürsorgepflicht des Dienstherrn entfallen lassen. Dies kommt insbesondere in Fällen besonders treuwidrigen Verhaltens und vor allem dann in Betracht, wenn das Gesamtverhalten des (früheren) Soldaten den Schluss zulässt, dass er jedes ernsthafte Interesse für die dienstlichen Belange vermissen lässt und dass es bei ihm bereits seit längerem an dem unabdingbaren Mindestmaß an Verantwortung für die dienstlichen Bedürfnisse fehlt (vgl. Urteil vom 21. September 2004 – BVerwG 2 WD 11.04 – a. a. O., m. w. N.).
[5] Das Vorliegen solcher Umstände hat der Senat im vorliegenden Falle nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen können.
[6] Art und Gewicht des Fehlverhaltens sowie das Maß der Schuld des früheren Soldaten sind zwar so schwerwiegend, dass nach dem insoweit rechtskräftigen Urteil der Truppendienstkammer die Höchstmaßnahme verhängt wurde. Die Schwere des Fehlverhaltens ergibt sich insbesondere daraus, dass der frühere Soldat seinen Dienstherrn über Jahre hinweg über den Umfang seiner – zudem anfangs nicht genehmigten – Nebentätigkeit und damit über die Höhe der abzuführenden Beträge arglistig täuschte, wodurch bei diesem infolge der nicht geleisteten Kostenerstattung und des nicht vorgenommenen Vorteilsausgleichs entsprechend den Inanspruchnahmerichtlinien des Bundesministers der Verteidigung ein beträchtlicher Vermögensschaden entstand. Dieser berechnet sich nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des insoweit rechtskräftigen Urteils der Truppendienstkammer nach einer bereinigten Honorarforderung von mehr als 45.000 DM. Das Gewicht dieses Fehlverhaltens wird noch dadurch erhöht, dass der Soldat darüber hinaus nach den getroffenen rechtskräftigen Feststellungen in betrügerischer Absicht den von ihm behandelten Zeugen S. und R. Rechnungen ausstellte, denen in erheblichem Umfange nicht erbrachte zahnärztliche Leistungen zugrunde lagen und dass er zusätzlich noch Forderungen aufgrund von ihm fingierter Laborrechnungen nicht existierender Labore in erheblichen Umfange geltend machte. Dies führte sowohl bei seinen Patienten als auch bei den zuständigen Krankenkassen zumindest zu einer erheblichen Vermögensgefährdung.
[7] Teilweise trat der Vermögensschaden auch bereits ein. Das Vertrauensverhältnis zum Dienstherrn wurde auch dadurch zerstört, dass der frühere Soldat einen anderen Soldaten, den Hauptgefreiten d. R. H., in seine kriminellen Machenschaften zu verstricken suchte, um seine Straftaten zu verdecken. Diesem schwerwiegenden Fehlverhalten entsprach die von der Truppendienstkammer – zwischenzeitlich rechtskräftig – verhängte Disziplinarmaßnahme der Aberkennung des Ruhegehalts.
[8] Im Hinblick auf die vorliegend zu treffende Entscheidung über den Unterhaltsbeitrag darf aber nicht außer Betracht bleiben, dass der frühere Soldat auch während des Zeitraums, in dem sich sein Fehlverhalten ereignete, seine originären dienstlichen Pflichten als Sanitätsstabsoffizier Zahnarzt im Marinestandortsanitätszentrum Glückstadt im Wesentlichen erfüllte. Die zahnärztliche Versorgung wurde nicht erkennbar beeinträchtigt. Jedenfalls haben sich diesbezüglich keine gravierenden Beanstandungen feststellen lassen.
[9] Nach der Aufdeckung seines schwerwiegenden Fehlverhaltens hat sich der frühere Soldat zwar zunächst nicht in erkennbarem Maße bemüht, an der lückenlosen Aufklärung vorbehaltlos und umfassend mitzuwirken sowie den angerichteten Schaden auszugleichen. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass der frühere Soldat nach seiner glaubhaften Einlassung in der Berufungshauptverhandlung schon seit längerem erkrankt war und sich jedenfalls seit Oktober 2000 wiederholt stationär behandeln lassen musste. Nach seiner zwischenzeitlich erfolgten Wiedergenesung ist er nunmehr allerdings seit Anfang August 2005 als selbständiger Zahnarzt tätig. Er hat sich in der Berufungshauptverhandlung ausdrücklich dazu bereit erklärt, den eingetretenen Vermögensschaden vorbehaltlich einer rechtlichen Prüfung im Einzelfall und nach Maßgabe seiner finanziellen Möglichkeiten wieder gutzumachen. Zudem hat er dem Senat in der Berufungshauptverhandlung die Überzeugung vermittelt, dass er sein Fehlverhalten einsieht und nachdrücklich bedauert.
[10] Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des früheren Soldaten muss zudem auch das Leistungsbild während der gesamten Dienstzeit Berücksichtigung finden (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 1984 – BVerwG 2 WD 60.86 –, vom 23. Januar 1986 – BVerwG 2 WD 26.85 – und vom 21. September 2004 – BVerwG 2 WD 11.04 – a. a. O.). Insoweit ist festzustellen, dass der frühere Soldat vor seinem hier festgestellten Fehlverhalten disziplinar- und strafrechtlich nicht negativ in Erscheinung getreten war. Zumindest in seinen ersten Dienstjahren erbrachte er ansprechende dienstliche Leistungen, die sich auch in den Abschlussnoten der Sanitätsoffizieranwärterlehrgänge A (Note "befriedigend") und B (Note "gut") niederschlugen. Auch seine Leistungen während des zahnärztlichen Studiums waren gut. Noch in der letzten planmäßigen Beurteilung vom 13. August 1999 wurde er hinsichtlich seiner dienstlichen Leistungen als Sanitätsstabsoffizier Zahnarzt zusammenfassend dahingehend charakterisiert, dass er "ein motivierter und einsatzwilliger Sanitätsoffizier" sei, der sein Handeln "an der optimalen Erfüllung der Anforderungen seines Dienstpostens" orientiere. Zwar wiesen seine dienstlichen Leistungen bereits zum damaligen Zeitpunkt eine fallende Tendenz auf. Worin die Gründe dafür im Einzelnen lagen, hat der Senat weder anhand der vorliegenden Beurteilungen noch auf der Grundlage der Bekundungen der von der Truppendienstkammer vernommenen Leumundszeugen und auch nicht durch die in der Berufungshauptverhandlung erfolgte Befragung des früheren Soldaten feststellen können. Der Senat kann insoweit jedenfalls nicht ausschließen, dass die negative Entwicklung der dienstlichen Leistungen des früheren Soldaten auch mit dem damaligen Gesundheitszustand und innerdienstlichen Konflikten im Zusammenhang standen.
[11] Angesichts dieser Gesamtumstände hat der Senat nicht feststellen können, dass der frühere Soldat jedes ernsthafte Interesse für die dienstlichen Belange des Dienstherrn hat vermissen lassen und dass es bei ihm an dem unabdingbaren Mindestmaß an Verantwortung für die dienstlichen Bedürfnisse gefehlt hat.
[12] Im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 63 Abs. 3 Satz 1 letzter Halbsatz WDO ist nach den erkennbaren Umständen nicht ersichtlich, dass der frühere Soldat nicht bedürftig ist. … (wird ausgeführt)