Europäischer Gerichtshof
"Richtlinie 2001/83/EG – Art. 1 Nr. 2 und Art. 2 Abs. 2 – Begriff 'Funktionsarzneimittel' – Produkt, dessen Eigenschaft als Funktionsarzneimittel nicht nachgewiesen ist – Berücksichtigung der Dosierung der Wirkstoffe"
1. Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung nicht auf ein Produkt anzuwenden ist, dessen Eigenschaft als Funktionsarzneimittel wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist, ohne dass sie ausgeschlossen werden kann.
2. Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Kriterien der Modalitäten des Gebrauchs eines Produkts, des Umfangs seiner Verbreitung, der Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, für die Entscheidung, ob dieses Produkt unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt, weiter relevant sind.
3. Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Produkt – abgesehen von den Stoffen oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, zur Erstellung einer medizinischen Diagnose angewandt zu werden – nicht als Arzneimittel im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßer Anwendung die physiologischen Funktionen nicht in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann.

EuGH, Urteil vom 15. 1. 2009 – C-140/07 (lexetius.com/2009,15)

[1] In der Rechtssache C-140/07 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Dezember 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 12. März 2007, in dem Verfahren Hecht-Pharma GmbH gegen Staatliches Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg, Beteiligte: Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter M. Ileši, A. Tizzano, A. Borg Barthet (Berichterstatter) und J.-J. Kasel, Generalanwältin: V. Trstenjak, Kanzler: M.-A. Gaudissart, Abteilungsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. April 2008, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Hecht-Pharma GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin C. Sachs, – des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamts Lüneburg, vertreten durch H. Laackmann als Bevollmächtigten, – der griechischen Regierung, vertreten durch N. Dafniou, O. Patsopoulou und M. Apessos als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch E. Oniecka-Tamecka, T. Krawczyk und P. Dbrowski als Bevollmächtigte, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Bryanston-Cross als Bevollmächtigte im Beistand von A. Henshaw, Barrister, – der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch B. Stromsky, B. Schima und G. Wilms als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Juni 2008 folgendes Urteil (*):
[2] 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83) und insbesondere die Auslegung ihrer Art. 1 Nr. 2 und 2 Abs. 2.
[3] 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hecht-Pharma GmbH (im Folgenden: Hecht-Pharma) und dem Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg über die Einstufung eines Produkts mit der Bezeichnung "Red Rice" als Nahrungsergänzungsmittel oder als Arzneimittel zu dem Zweck, es in Deutschland in den Verkehr zu bringen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
[4] 3 Nach Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 in der ursprünglichen Fassung bedeutete "Arzneimittel":
"Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bezeichnet werden;
alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden …"
[5] 4 Nach Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 bedeutet "Arzneimittel" nunmehr:
"a) Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind, oder
b) alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen".
[6] 5 Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/83 bestimmt:
"(1) Diese Richtlinie gilt für Humanarzneimittel, die in den Mitgliedstaaten in den Verkehr gebracht werden sollen und die entweder gewerblich zubereitet werden oder bei deren Zubereitung ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt.
(2) In Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von 'Arzneimittel' als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, gilt diese Richtlinie."
[7] 6 Die Erwägungsgründe 2 bis 4 und 7 der Richtlinie 2004/27 lauten:
"(2) Das bisher erlassene Gemeinschaftsrecht stellt einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung des freien und sicheren Verkehrs mit Humanarzneimitteln und des Abbaus von Hemmnissen beim Handel mit diesen Arzneimitteln dar. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind, um die noch bestehenden Hemmnisse für den freien Handel zu beseitigen.
(3) Daher müssen die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die sich in den wesentlichen Grundsätzen unterscheiden, einander angenähert werden, damit das Funktionieren des Binnenmarktes verbessert und gleichzeitig ein hohes Niveau des menschlichen Gesundheitsschutzes erreicht werden kann.
(4) Alle Vorschriften auf dem Gebiet der Herstellung und des Vertriebs von Humanarzneimitteln sollten in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dienen. Dieses Ziel sollte jedoch mit Mitteln erreicht werden, die die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie und den Handel mit Arzneimitteln innerhalb der Gemeinschaft nicht hemmen. …
(7) Insbesondere aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts sollten die Begriffsbestimmungen und der Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/83/EG geklärt werden, damit hohe Standards bei der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Humanarzneimitteln erreicht werden. Damit zum einen das Entstehen neuer Therapien und zum anderen die steigende Zahl von so genannten 'Grenzprodukten' zwischen dem Arzneimittelbereich und anderen Bereichen Berücksichtigung finden, sollte die Begriffsbestimmung des Arzneimittels geändert werden, um zu vermeiden, dass Zweifel an den anzuwendenden Rechtsvorschriften auftreten, wenn ein Produkt, das vollständig von der Definition des Arzneimittels erfasst wird, möglicherweise auch unter die Definition anderer regulierter Produkte fällt. Diese Definition sollte die Art der Wirkung, die das Arzneimittel auf die physiologischen Funktionen haben kann, spezifizieren. Diese Aufzählung der Wirkungen ermöglicht auch, Arzneimittel wie Gentherapie, Radiopharmaka sowie bestimmte Arzneimittel zur lokalen Verwendung abzudecken. Angesichts der Merkmale pharmazeutischer Rechtsvorschriften sollte auch sichergestellt werden, dass diese Rechtsvorschriften zur Anwendung kommen. Mit dem gleichen Ziel, die Umstände zu klären, unter denen ein bestimmtes Produkt unter die Definition eines Arzneimittels fällt, gleichzeitig aber auch mit der Definition anderer regulierter Produkte übereinstimmen könnte, ist es in Zweifelsfällen und zur Sicherstellung der Rechtssicherheit erforderlich, ausdrücklich anzugeben, welche Vorschriften einzuhalten sind. Fällt ein Produkt eindeutig unter die Definition anderer Produktgruppen, insbesondere von Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, Produkten der Medizintechnik, Bioziden oder kosmetischen Mitteln, sollte diese Richtlinie nicht gelten. Außerdem ist es angezeigt, die Kohärenz der Terminologie der pharmazeutischen Rechtsvorschriften zu verbessern."
Nationales Recht
[8] 7 Nach § 69 Abs. 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz) treffen die zuständigen deutschen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für diese nicht vorliegt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[9] 8 Im September 2002 brachte Hecht-Pharma, die einen pharmazeutischen Großhandel betreibt, ein Produkt, das rot fermentierten Reis enthält, unter der Bezeichnung "Red Rice 330 mg Kapseln" in Deutschland in den Handel.
[10] 9 Die Kapseln wurden in Plastikflaschen in den Verkehr gebracht, deren Etikettierung u. a. folgende Angaben enthält: "Red Rice, 330 mg … Nahrungsergänzung mit rot fermentiertem Reis … Eine Kapsel [entspricht] 1, 33 mg Monacolin K". Die Verwendungsempfehlung lautet: "Als Nahrungsergänzungsmittel 1 – 3 x täglich 1 Kapsel".
[11] 10 Mit Bescheid vom 19. Dezember 2002 untersagte die Bezirksregierung Lüneburg der Klägerin das Inverkehrbringen des im Ausgangsverfahren streitigen Produkts in Deutschland. Zur Begründung führte sie aus, es handele sich um ein zulassungspflichtiges, aber nicht zugelassenes Arzneimittel.
[12] 11 Hecht-Pharma legte hiergegen bei der Bezirksregierung Lüneburg Widerspruch ein. Gegen die Zurückweisung des Widerspruchs mit Bescheid vom 11. Juni 2003 erhob Hecht-Pharma Klage beim Verwaltungsgericht, das diese mit Urteil vom 28. April 2005 abwies.
[13] 12 Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, das die von Hecht-Pharma gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegte Berufung mit Urteil vom 23. März 2006 zurückwies, stellte fest, dass das angefochtene Vertriebsverbot gerechtfertigt sei, da es sich bei dem fraglichen Produkt um ein Arzneimittel handele.
[14] 13 Die arzneimittelrechtlichen Bestimmungen seien anwendbar, weil das Produkt unter die Definition des Funktionsarzneimittels fallen könne. Es enthalte nämlich in nennenswertem Umfang Monacolin K. Dieser Wirkstoff sei mit Lovastatin identisch, einem Hemmstoff der Cholesterinsynthese, der als arzneilich wirksamer Bestandteil in verschiedenen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln enthalten sei.
[15] 14 Hieraus schloss das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Produkt geeignet sei, erhöhte Cholesterinwerte zu senken und damit zur Erfüllung eines therapeutischen Zwecks beizutragen. Darüber hinaus könnten Hemmstoffe der Cholesterinsynthese schwerwiegende Nebenwirkungen an den Muskeln und Nieren haben.
[16] 15 Hecht-Pharma könne sich nicht darauf berufen, dass eine pharmakologische Wirkung des im Ausgangsverfahren streitigen Produkts bei der angegebenen Verzehrempfehlung auszuschließen sei. Aus dem Umstand, dass die Verzehrempfehlung zu einer Tagesdosis von 1, 33 bis 4 mg Monacolin führe, was im Vergleich mit der für Lovastatin empfohlenen Dosis von 10 bis 80 mg niedrig sei, könne nicht hergeleitet werden, dass ihm die pharmakologische Wirkung fehle.
[17] 16 Auch wenn die empfohlene Tagesdosis einer Dosis Monacolin K entspreche, die im Vergleich zu der in verschreibungspflichtigen Arzneimitteln enthaltenen Dosis niedrig sei, müsse berücksichtigt werden, dass als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebrachte Präparate in der Regel unkontrolliert und in höherer als der empfohlenen Menge eingenommen würden.
[18] 17 Im Übrigen komme, da der Nachweis der pharmakologischen Wirkung nicht mit letzter Sicherheit erbracht sei, die Zweifelsregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 zum Zuge. Ihre Anwendung setze nicht voraus, dass die Kriterien für das Vorliegen eines Arzneimittels nachweislich erfüllt seien. Es reiche aus, dass ein Produkt unter die Definition des Arzneimittels fallen könne.
[19] 18 Hecht-Pharma legte Revision gegen das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ein.
[20] 19 Da das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts für erforderlich hält, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Bedeutet die Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83, dass die Richtlinie 2001/83 auf ein Produkt anzuwenden ist, das möglicherweise als Arzneimittel einzuordnen ist, dessen Arzneimitteleigenschaft aber nicht positiv festgestellt ist? Welches Maß an Wahrscheinlichkeit und demgemäß welches Maß an Sachaufklärung ist gegebenenfalls erforderlich, um die Anwendung der Richtlinie 2001/83 zu rechtfertigen?
2. Kann ein Produkt, das kein Präsentationsarzneimittel ist, als Funktionsarzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 angesehen werden wegen eines Bestandteils, der in bestimmter Dosierung physiologische Veränderungen hervorrufen kann, dessen Dosierung in dem zu beurteilenden Produkt – bei bestimmungsgemäßem Gebrauch – aber dahinter zurückbleibt? Ist diese Frage dem Merkmal der "pharmakologischen Wirkung" oder dem Merkmal der "Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen" zuzuordnen?
3. Spielen die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei der Einordnung als Arzneimittel neben den pharmakologischen Eigenschaften als relevant erklärten Merkmale "Modalitäten seines Gebrauchs, Umfang seiner Verbreitung, Bekanntheit bei den Verbrauchern und Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann" (Urteil vom 9. Juni 2005, HLH Warenvertrieb und Orthica, C-211/03, C-299/03 und C-316/03 bis C-318/03, Slg. 2005, I-5141, Randnr. 51) nach der Neufassung der Definition des Arzneimittels durch die Richtlinie 2004/27 noch eine Rolle?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
[21] 20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf ein Produkt anzuwenden ist, dessen Eigenschaft als Funktionsarzneimittel nicht nachgewiesen ist, ohne dass sie ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus möchte es wissen, welches Maß an Wahrscheinlichkeit und demgemäß welches Maß an Sachaufklärung gegebenenfalls erforderlich ist, um die Anwendung der Richtlinie 2001/83 zu rechtfertigen.
[22] 21 Zunächst ist festzustellen, dass sowohl nach Art. 2 der Richtlinie 2001/83 in der ursprünglichen Fassung als auch nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 diese Richtlinie für Humanarzneimittel gilt, die in den Mitgliedstaaten in den Verkehr gebracht werden sollen und die gewerblich oder industriell hergestellt werden.
[23] 22 Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/83 ist demnach auf gewerblich oder industriell hergestellte Arzneimittel beschränkt und schließt Produkte nicht ein, die keiner der in Art. 1 Nr. 2 Buchst. a und b der Richtlinie enthaltenen Definition des Arzneimittels entsprechen.
[24] 23 Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 steht dieser Feststellung nicht entgegen.
[25] 24 Aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/27 ergibt sich nämlich, dass diese Vorschrift in die Richtlinie 2001/83 aufgenommen wurde, um klarzustellen, dass ein Produkt, das sowohl der Definition des Arzneimittels als auch der anderer regulierter Produkte entspricht, unter die Bestimmungen der Richtlinie 2001/83 fällt. Demnach beruht Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 auf dem Postulat, dass das betreffende Produkt die Voraussetzungen eines Arzneimittels erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil HLH Warenvertrieb und Orthica, Randnrn. 43 und 44).
[26] 25 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass anders als der Begriff des Präsentationsarzneimittels, dessen weite Auslegung die Verbraucher vor Erzeugnissen schützen soll, die nicht die Wirksamkeit besitzen, welche sie erwarten dürfen, der Begriff des Funktionsarzneimittels diejenigen Erzeugnisse erfassen soll, deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt wurden und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen (Urteil vom 15. November 2007, Kommission/Deutschland, C-319/05, Slg. 2007, I-9811, Randnr. 61).
[27] 26 Damit ist die Richtlinie 2001/83 nicht auf ein Produkt anwendbar, dessen Arzneimitteleigenschaft im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b dieser Richtlinie nicht nachgewiesen ist, d. h. ein Produkt, dessen Eignung, physiologische Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen, nicht wissenschaftlich festgestellt wurde.
[28] 27 Gestützt wird diese Auslegung durch die Rechtsprechung, nach der die Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2001/83 – die neben dem Schutz der menschlichen Gesundheit den freien Warenverkehr innerhalb der Gemeinschaft sicherstellen soll – nicht zur Folge haben darf, dass Behinderungen für den freien Warenverkehr entstehen, die völlig außer Verhältnis zum angestrebten Ziel des Gesundheitsschutzes stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Deutschland, Randnrn. 62 und 71).
[29] 28 Im Übrigen ist hinzuzufügen, dass diese Auslegung die Rechtsprechung nicht in Frage stellt, nach der es beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts möglich ist, dass bei der Einstufung von Erzeugnissen als Arzneimittel oder als Lebensmittel noch Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. So ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat die Eigenschaft eines Produkts als Funktionsarzneimittel als erwiesen ansieht, während ein anderer der Ansicht ist, dass der Nachweis, dass es sich um ein Funktionsarzneimittel handelt, nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft nicht erbracht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil HLH Warenvertrieb und Orthica, Randnr. 56).
[30] 29 Folglich ist auf den ersten Teil der ersten Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie nicht auf ein Produkt anzuwenden ist, dessen Eigenschaft als Funktionsarzneimittel wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist, ohne dass sie ausgeschlossen werden kann.
[31] 30 Angesichts dieser Antwort braucht der zweite Teil der ersten Frage nicht beantwortet zu werden.
Zur dritten Frage
[32] 31 Mit seiner dritten Frage, die vor der zweiten zu behandeln ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 nach der Änderung der Begriffsbestimmung des Arzneimittels durch die Richtlinie 2004/27 dahin auszulegen ist, dass die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Kriterien der Modalitäten des Gebrauchs eines Produkts, des Umfangs seiner Verbreitung, der Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, für die Entscheidung, ob dieses Produkt unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt, weiter relevant sind.
[33] 32 Der Gerichtshof hat in seiner der Änderung der Richtlinie 2001/83 durch die Richtlinie 2004/27 vorausgegangenen Rechtsprechung ausgeführt, dass die zuständige nationale Behörde, die unter der Kontrolle der Gerichte tätig wird, die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels im Sinne der Richtlinie 2001/83 fällt, von Fall zu Fall zu treffen hat und dabei alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen hat, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen –, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (Urteile HLH Warenvertrieb und Orthica, Randnr. 51, und Kommission/Deutschland, Randnr. 55).
[34] 33 Wie aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/27 hervorgeht, haben die Änderungen der Begriffsbestimmung des Arzneimittels durch diese Richtlinie den Zweck, die Entstehung neuer Therapien und die steigende Zahl sogenannter "Grenzprodukte" zu berücksichtigen. Um Zweifelsfälle hinsichtlich der anwendbaren Regelungen auszuschließen, wurde die Definition genauer gefasst und spezifiziert nunmehr die Art der Wirkung – pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch –, die ein Arzneimittel haben muss, um die menschlichen physiologischen Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.
[35] 34 Der Gemeinschaftsgesetzgeber mag eine solche Klarstellung für erforderlich gehalten haben, weil die physiologische Wirkung nicht für Arzneimittel spezifisch ist, sondern auch zu den für die Definition des Nahrungsergänzungsmittels verwendeten Kriterien gehört (Urteil Kommission/Deutschland, oben angeführt, Randnr. 63).
[36] 35 Dagegen deutet nichts in den Änderungen der Definition des Arzneimittels durch die Richtlinie 2004/27 auf eine Absicht hin, die in der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien zu ändern, abgesehen von der Notwendigkeit, von nun an neben den pharmakologischen Eigenschaften eines Produkts auch dessen immunologische und metabolische Eigenschaften zu berücksichtigen.
[37] 36 Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83, der durch die Richtlinie 2004/27 eingefügt wurde, bestätigt im Gegenteil den Ansatz der Rechtsprechung, mit dem Hinweis darauf, dass die Entscheidung, ob ein Produkt unter die Definition des Arzneimittels fällt, "unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften" zu treffen ist.
[38] 37 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass die Kriterien der Modalitäten des Gebrauchs eines Produkts, des Umfangs seiner Verbreitung, der Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, für die Entscheidung, ob dieses Produkt unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt, weiter relevant sind.
Zur zweiten Frage
[39] 38 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass ein Produkt als Funktionsarzneimittel eingestuft werden kann, wenn es die physiologischen Funktionen aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßer Anwendung nicht wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann. Ferner möchte es wissen, ob die Dosierung der Wirkstoffe eines Produkts bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob dieses Produkt eine "pharmakologische Wirkung" haben kann oder zur "Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen" geeignet ist.
[40] 39 Einleitend ist daran zu erinnern, dass – wie aus den Randnrn. 32 und 33 dieses Urteils hervorgeht – die zuständige nationale Behörde, die unter der Kontrolle der Gerichte tätig wird, die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels im Sinne der Richtlinie 2001/83 fällt, von Fall zu Fall zu treffen hat und dabei alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen hat, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen –, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann.
[41] 40 Daraus folgt, dass Produkte, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, nicht systematisch als Funktionsarzneimittel eingestuft werden können, ohne dass die zuständigen Behörden von Fall zu Fall jedes Produkt mit der erforderlichen Sorgfalt prüfen und dabei insbesondere seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften berücksichtigen, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen.
[42] 41 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Kriterium der Eignung, physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen, nicht dazu führen darf, dass Produkte als Funktionsarzneimittel eingestuft werden, die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, aber keine nennenswerten physiologischen Auswirkungen haben und seine Funktionsbedingungen somit nicht wirklich beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Deutschland, Randnr. 60).
[43] 42 Daher kann ein Produkt – abgesehen von den Stoffen oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, zur Erstellung einer medizinischen Diagnose angewandt zu werden – nicht als Funktionsarzneimittel angesehen werden, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßer Anwendung die menschlichen physiologischen Funktionen nicht in nennenswerter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann.
[44] 43 Hinsichtlich des zweiten Teils der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts ist daran zu erinnern, dass Produkte, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um u. a. "die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen", Funktionsarzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 sind.
[45] 44 Daher ist die vom vorlegenden Gericht vorgenommene Unterscheidung zwischen der Eignung zu einer pharmakologischen Wirkung und der Eignung zur Beeinflussung der physiologischen Funktionen für die Einstufung eines Produkts als Funktionsarzneimittel nicht relevant.
[46] 45 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass ein Produkt – abgesehen von den Stoffen oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, zur Erstellung einer medizinischen Diagnose angewandt zu werden – nicht als Arzneimittel im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßer Anwendung die physiologischen Funktionen nicht in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann.
Kosten
[47] 46 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
* Verfahrenssprache: Deutsch.