Bundesgerichtshof
BGB § 823 Abs. 1
Zur Frage einer Nachrüstungspflicht des Verkehrssicherungspflichtigen für bestehende technische Anlagen (hier: halbautomatische Glastüre als Zugang zu einem Geldautomaten einer Bank) im Falle einer Verschärfung von DIN-Normen.

BGH, Urteil vom 2. 3. 2010 – VI ZR 223/09; LG Traunstein (lexetius.com/2010,525)

[1] Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis 11. Januar 2010 durch den Vorsitzenden Richter Galke und die Richter Zoll, Wellner, Pauge und Stöhr für Recht erkannt:
[2] Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein – 5. Zivilkammer – vom 17. Juni 2009 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
[3] Tatbestand: Die an einer spastischen Behinderung leidende Klägerin nimmt die beklagte Bank auf Schadensersatz wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Anspruch. Sie behauptet, sie habe sich am 11. Oktober 2006 außerhalb der Öffnungszeiten der Beklagten in deren Filiale im Bahnhof T. begeben, um am dortigen Automaten Geld abzuheben. Beim Eintreten sei die automatische Glastüre offen gewesen. Auch als sie nach dem Geldabheben das Gebäude wieder habe verlassen wollen, habe die Glastür zunächst offen gestanden, sich dann jedoch plötzlich geschlossen, so dass Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand eingeklemmt worden seien. Dadurch sei sie verletzt worden.
[4] Das Amtsgericht hat die Klage auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 3.000 € zuzüglich Zinsen, Attest- und Schreibkosten in Höhe von 93,54 € und vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 191,65 €, jeweils zuzüglich Zinsen, abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht zurückgewiesen und die Revision wegen der Frage einer Nachrüstungspflicht für technische Anlagen im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zugelassen.
[5] Entscheidungsgründe: I. Das Berufungsgericht hat ebenso wie das erstinstanzliche Gericht eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte verneint. Nach den vom Amtsgericht eingeholten Sachverständigengutachten hätten sich zwar an den Hauptschließkanten der Türflügel keine Sicherheitseinrichtungen zum Schutz gegen das Einklemmen bzw. Quetschen befunden. Diese Ausführung habe der zur Zeit des Einbaus der Türe im Jahre 1996 geltenden Einrichtungsvorschrift entsprochen. Zum Zeitpunkt des Unfalls am 11. Oktober 2006 habe demgegenüber eine neue Herstellungsnorm gegolten, die weitergehende Schutzmaßnahmen zu Gunsten besonders schutzbedürftiger Personen enthalten habe. Diese Anforderungen seien im Streitfall nicht erfüllt gewesen. Gleichwohl falle der Beklagten keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht zur Last. Unter den Umständen des Streitfalles und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe die Beklagte nicht damit rechnen müssen, dass ein Besucher ihrer Filiale von den sich schließenden Türhälften erfasst und verletzt werde. Der Verkehrssicherungspflichtige sei auch generell nicht gehalten, alte Bauwerke und Einrichtungen an den jeweils geltenden Standard anzupassen.
[6] Eine Nachrüstungspflicht sei erst nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums und unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte zu bejahen. Hier sei im Zeitpunkt des Unfalls seit dem Erlass der neuen DIN-Norm noch nicht einmal ein Jahr vergangen gewesen. Damit sei der angemessene Zeitraum, der dem Verkehrssicherungspflichtigen zur Nachrüstung zugebilligt werden müsse, nicht überschritten.
[7] II. Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis mit Recht einen Verstoß der Beklagten gegen die ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verneint.
[8] 1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern (vgl. etwa Senatsurteile vom 19. Dezember 1989 – VI ZR 182/89VersR 1990, 498, 499; vom 4. Dezember 2001 – VI ZR 447/00VersR 2002, 247, 248; vom 15. Juli 2003 – VI ZR 155/02VersR 2003, 1319; vom 8. November 2005 – VI ZR 332/04VersR 2006, 233, 234 und vom 16. Mai 2006 – VI ZR 189/05VersR 2006, 1083, 1084, jeweils m. w. N.; vgl. auch BGHZ 121, 367, 375 und BGH, Urteil vom 13. Juni 1996 – III ZR 40/95VersR 1997, 109, 111). Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren.
[9] 2. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden (vgl. Senatsurteile vom 10. Oktober 1978 – VI ZR 98/77 – und – VI ZR 99/77 – VersR 1978, 1163, 1165, vom 15. Juli 2003 – VI ZR 155/02 – aaO, vom 8. November 2005 – VI ZR 332/04 – und vom 16. Mai 2006 – VI ZR 189/05 – jeweils aaO). Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält (vgl. Senatsurteile vom 16. Februar 1972 – VI ZR 111/70VersR 1972, 559, 560; vom 15. Juli 2003 – VI ZR 155/02 – aaO; vom 8. November 2005 – VI ZR 332/04 – und vom 16. Mai 2006 – VI ZR 189/05 – jeweils aaO). Daher reicht es anerkannter Maßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise – hier der Banken – für ausreichend halten darf, um andere Personen – hier die Kunden – vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach zuzumuten sind; Voraussetzung für eine Verkehrssicherungspflicht ist, dass sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 1963 – VI ZR 145/62VersR 1963, 532; vom 19. Mai 1967 – VI ZR 162/65VersR 1967, 801; vom 4. Dezember 2001 – VI ZR 447/00 – aaO; vom 15. Juli 2003 – VI ZR 155/02 – aaO; vom 8. November 2005 – VI ZR 332/04 – und vom 16. Mai 2006 – VI ZR 189/05 – jeweils aaO).
[10] Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den Schaden selbst tragen. Er hat ein "Unglück" erlitten und kann dem Schädiger kein "Unrecht" vorhalten (vgl. Senatsurteile vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74VersR 1975, 812; vom 15. Juli 2003 – VI ZR 155/02 – aaO; vom 8. November 2005 – VI ZR 332/04 – und vom 16. Mai 2006 – VI ZR 189/05 – jeweils aaO).
[11] 3. Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht eine Haftung der Beklagten verneint.
[12] a) Die vom Berufungsgericht als zulassungswürdig angesehene Frage einer Nachrüstungspflicht für bestehende technische Anlagen im Falle einer Verschärfung von Sicherheitsbestimmungen lässt sich nicht generell beantworten, sondern richtet sich ebenfalls danach, ob sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Gefahr ergibt, dass durch die bestehende technische Anlage – ohne Nachrüstung – Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Unter den Umständen des Streitfalles begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Pflicht der Beklagten verneint hat, die Schließanlage so "nachzurüsten", dass sie der seit Dezember 2005 für Neubauten geltenden Herstellungsnorm (DIN 18650/1 und -2) genügte.
[13] Welche Sicherheit und welcher Gefahrenschutz im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu gewährleisten sind, richtet sich nicht ausschließlich nach den modernsten Erkenntnissen und nach dem neuesten Stand der Technik. Es kommt vielmehr maßgeblich auch auf die Art der Gefahrenquelle an. Je größer die Gefahr und je schwerwiegender die im Falle ihrer Verwirklichung drohenden Folgen sind, um so eher wird eine Anpassung an neueste Sicherheitsstandards geboten sein. Soweit es sich um Gefahren handelt, die nicht so schwerwiegend und für den Verkehr im Allgemeinen erkennbar und mit zumutbarer Sorgfalt und Vorsicht beherrschbar sind, kann dem Verkehrssicherungspflichtigen im Einzelfall jedenfalls – wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat – eine angemessene Übergangsfrist zuzubilligen sein (vgl. Senatsurteil BGHZ 103, 338, 342).
[14] b) Danach begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Nachrüstungspflicht im Hinblick auf die seit Dezember 2005 geltende neue Herstellungsnorm (DIN 18650/1 und -2) jedenfalls innerhalb des unter einem Jahr liegenden Zeitraums bis zum Unfall der Klägerin am 11. Oktober 2006 verneint hat. Denn auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen ergab sich bis dahin vorausschauend für ein sachkundiges Urteil keine nahe liegende Gefahr, dass durch die bestehende technische Anlage – ohne Nachrüstung – Rechtsgüter anderer verletzt werden können.
[15] Die Glastür entsprach den Sicherheitsanforderungen der zur Zeit ihres Einbaus im Jahre 1996 geltenden Einrichtungsvorschrift ("Richtlinien für kraftbetätigte Fenster, Türen und Tore" ZH 1/494 des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaft). Außerhalb der Öffnungszeiten der Filiale erfolgte der Zugang zu dem Vorraum mit dem Geldautomaten mittels eines Kartenlesegerätes. Um den Vorraum wieder zu verlassen, musste die Tür von innen mit einem Taster manuell betätigt werden und schloss danach automatisch nach Ablauf von ca. 10 Sekunden (Halbautomatikbetrieb). Der Schließvorgang erfolgte dabei mit einer Bewegungsgeschwindigkeit von ca. 15 cm pro Sekunde relativ langsam und mit einem Schließdruck von nur 150 N, der im Regelfall, in dem ein Besucher an den Schultern erfasst wird, nicht zu Verletzungen führt. Dass die Klägerin verletzt worden ist, resultiert nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aus dem unglücklichen Umstand, dass zwei Finger ihrer rechten Hand von der sich schließenden Tür eingeklemmt worden sind. Nach den weiteren unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hatte sich ein solcher Vorfall in den vergangenen zehn Jahren bis zu dem von der Klägerin behaupteten Unfall nicht ereignet. Im Übrigen war die Glastür zum Geldautomaten der Beklagten nach dem Ergebnis der vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Beweisaufnahme des Amtsgerichts jährlich ein- bis zweimal gewartet worden, ohne dass sich Beanstandungen seitens des Wartungsdienstes oder seitens eines Kunden ergaben.
[16] Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, weshalb die Beklagte damit rechnen musste, dass ihre Kunden beim Verlassen des Raumes mit dem Geldautomaten durch den Schließmechanismus der (halb-) automatischen Glastüre – ohne Nachrüstung – Verletzungen erleiden könnten.