Europäischer Gerichtshof
"Industriepolitik – Lebensmittelhygiene – Verordnung (EG) Nr. 852/2004 – Selbstbedienungsverkauf von Brot- und Gebäckstücken"
Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene ist dahin auszulegen, dass in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren bei Selbstbedienungsverkaufsboxen für Brot- und Gebäckstücke der Umstand, dass ein potenzieller Käufer die zum Verkauf angebotenen Lebensmittel denkmöglich mit bloßen Händen berühren oder sie anniesen kann, für sich allein nicht die Feststellung erlaubt, dass diese Lebensmittel nicht vor Kontaminationen geschützt sind, die sie für den menschlichen Verzehr ungeeignet oder gesundheitsschädlich machen bzw. derart kontaminieren, dass ein Verzehr in diesem Zustand nicht zu erwarten wäre.

EuGH, Urteil vom 6. 10. 2011 – C-382/10 (lexetius.com/2011,4646)

[1] In der Rechtssache C-382/10 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 22. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juli 2010, in dem Verfahren Erich Albrecht, Thomas Neumann, Van-Ly Sundara, Alexander Svoboda, Stefan Toth gegen Landeshauptmann von Wien erlässt DER GERICHTSHOF (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Schiemann, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašinas, Generalanwalt: J. Mazák, Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2011, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Albrecht, Herrn Neumann, Herrn Sundara, Herrn Svoboda und Herrn Toth, vertreten durch Rechtsanwälte A. Natterer und M. Kraus, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláil als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Schima und A. Marcoulli als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil (*):
[2] 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene (ABl. L 139, S. 1, Berichtigung ABl. L 226, S. 3, im Folgenden: Verordnung).
[3] 2 Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Albrecht, Herrn Neumann, Herrn Sundara, Herrn Svoboda und Herrn Toth auf der einen Seite und dem Landeshauptmann von Wien auf der anderen Seite über Bescheide betreffend die Einrichtung von Selbstbedienungsverkaufsboxen für Brot- und Gebäckstücke.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
[4] 3 Art. 1 ("Geltungsbereich") dieser Verordnung sieht in seinem Abs. 1 vor:
"Diese Verordnung enthält allgemeine Lebensmittelhygienevorschriften für Lebensmittelunternehmer unter besonderer Berücksichtigung folgender Grundsätze:
a) Die Hauptverantwortung für die Sicherheit eines Lebensmittels liegt beim Lebensmittelunternehmer. …
d) Die Verantwortlichkeit der Lebensmittelunternehmer sollte durch die allgemeine Anwendung von auf den HACCP-Grundsätzen [Grundsätze der Gefahrenanalyse und der Überwachung kritischer Kontrollpunkte] beruhenden Verfahren in Verbindung mit einer guten Hygienepraxis gestärkt werden. …"
[5] 4 Art. 4 ("Allgemeine und spezifische Hygienevorschriften") der Verordnung sieht in seinem Abs. 2 vor:
"Lebensmittelunternehmer, die auf Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen von Lebensmitteln tätig sind, die den Arbeitsgängen gemäß Absatz 1 nachgeordnet sind, haben die allgemeinen Hygienevorschriften gemäß Anhang II … zu erfüllen."
[6] 5 Art. 5 ("Gefahrenanalyse und kritische Kontrollpunkte") der Verordnung bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:
"(1) Die Lebensmittelunternehmer haben ein oder mehrere ständige Verfahren, die auf den HACCP-Grundsätzen beruhen, einzurichten, durchzuführen und aufrechtzuerhalten.
(2) Die in Absatz 1 genannten HACCP-Grundsätze sind die Folgenden:
a) Ermittlung von Gefahren, die vermieden, ausgeschaltet oder auf ein annehmbares Maß reduziert werden müssen, …"
[7] 6 In Anhang II ("Allgemeine Hygienevorschriften für alle Lebensmittelunternehmer [ausgenommen Unternehmer, für die Anhang I gilt]") der Verordnung enthält dessen Kapitel IX ("Vorschriften für Lebensmittel") folgende Nr. 3:
"Lebensmittel sind auf allen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Vertriebs vor Kontaminationen zu schützen, die sie für den menschlichen Verzehr ungeeignet oder gesundheitsschädlich machen bzw. derart kontaminieren, dass ein Verzehr in diesem Zustand nicht zu erwarten wäre."
Nationales Recht
[8] 7 Ausweislich des Vorlagebeschlusses hat nach § 39 Abs. 1 Ziff. 13 des Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetzes (BGBl. I Nr. 13/2006) bei Wahrnehmung von Verstößen gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften der Landeshauptmann mit Bescheid, gegebenenfalls unter einer gleichzeitig zu setzenden angemessenen Frist und unter Ausspruch der notwendigen Bedingungen oder Auflagen, die nach Art des Verstoßes und unter Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit erforderlichen Maßnahmen zur Mängelbehebung oder Risikominderung anzuordnen. Diese Maßnahmen können sich insbesondere auf die Durchführung baulicher, anlagentechnischer und ausstattungsmäßiger Verbesserungen beziehen. Die Kosten dieser Maßnahmen hat der Unternehmer zu tragen.
[9] 8 Nach § 90 Abs. 3 Ziff. 1 dieses Gesetzes begeht, wer den Bestimmungen der in den §§ 96 und 97 angeführten Rechtsvorschriften zuwiderhandelt, eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit Geldstrafe bis zu 20 000 Euro – im Wiederholungsfall bis zu 40 000 Euro –, im Fall der Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[10] 9 Beim vorlegenden Gericht sind mehrere Berufungen von Franchise-Unternehmern eingelegt worden, die Brot- und Gebäckstücke zum Verkauf anbieten. Die zuständigen Behörden gaben den Unternehmern auf, die Selbstbedienungsboxen für den Verkauf der betreffenden Waren so einzurichten, dass diese nur mit technischen Hilfsmitteln wie Zangen oder Schiebern entnommen werden können und ein Zurückgeben bereits aus der Box entnommener Waren unmöglich ist.
[11] 10 Diesen Anordnungen gingen behördliche Kontrollen voraus, bei denen festgestellt wurde, dass in den Lebensmittelgeschäften, um die es in den Ausgangsverfahren geht, Selbstbedienungsverkaufsboxen für Brot- und Gebäckstücke aufgestellt waren. Nach den getroffenen Feststellungen sind die Abdeckungen dieser Boxen mit Griffen versehen, die das Öffnen der Abdeckung mit einer Hand ermöglichen, während mit der anderen Hand Waren mit einer für den Kunden bereitliegenden Zange entnommen werden können. Der Kunde muss danach die Zange wieder zurücklegen und die Abdeckung wieder schließen.
[12] 11 Nach Ansicht des Landeshauptmanns von Wien besteht bei diesen Selbstbedienungsverkaufsboxen die Gefahr, dass Kunden die Waren mit der bloßen Hand entnehmen und abtasten sowie sie anhusten und anniesen können. Der Landeshauptmann hob auch den Umstand hervor, dass die zum Einsatz kommende Vorrichtung den Kunden nicht daran hindere, eine Ware wieder in die Box zurückzulegen. Dadurch, dass die betroffenen Lebensmittel dem Niesen der Kunden ausgesetzt seien, könnten sich Keime und Viren auf ihnen absetzen. Ebenso könne das Anfassen der Lebensmittel mit den bloßen Händen zur Übertragung von Keimen beitragen.
[13] 12 Vor dem vorlegenden Gericht machen die Berufungswerber der Ausgangsverfahren geltend, dass die fraglichen Boxen aus Deutschland eingeführt worden seien, wo sie zu Hunderten oder gar Tausenden im Lebensmittelhandel verwendet würden. Bisher sei von den deutschen Behörden nie befunden worden, dass diese Boxen insbesondere nicht den Vorgaben von Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung Nr. 852/2004 entsprächen. Die Kunden würden auch ausdrücklich angewiesen, die Waren nicht in die Boxen zurückzulegen.
[14] 13 Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass die besagten Boxen laut Sachverständigengutachten aus Deutschland und aus Österreich hygienisch unbedenklich seien.
[15] 14 Da der Unabhängige Verwaltungssenat Wien der Auffassung ist, dass es für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten einer Auslegung von Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung bedürfe, hat er die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Nach welchen Kriterien ist zu ermitteln, wann die im Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung angesprochene Ungeeignetheit für den menschlichen Verzehr vorliegt? Liegt eine solche Ungeeignetheit bereits dann vor, wenn ein feilgebotenes Lebensmittel denkmöglich durch einen potenziellen Käufer berührt bzw. angeniest werden kann?
2. Nach welchen Kriterien ist zu ermitteln, wann die im Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung angesprochene Gesundheitsschädlichkeit vorliegt? Liegt eine solche Gesundheitsschädlichkeit bereits dann vor, wenn ein feilgebotenes Lebensmittel denkmöglich durch einen potenziellen Käufer berührt bzw. angeniest werden kann?
3. Nach welchen Kriterien ist zu ermitteln, wann die im Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung angesprochene Kontamination, welche den Verzehr eines bestimmten Lebensmittels nicht mehr erwartbar macht, vorliegt? Liegt eine solche Kontamination bereits dann vor, wenn ein feilgebotenes Lebensmittel denkmöglich durch einen potenziellen Käufer berührt bzw. angeniest werden kann?
Zu den Vorlagefragen
[16] 15 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren bei Selbstbedienungsverkaufsboxen für Brot- und Gebäckstücke der Umstand, dass ein potenzieller Käufer die zum Verkauf angebotenen Lebensmittel denkmöglich mit bloßen Händen berühren oder sie anniesen kann, für sich allein die Feststellung erlaubt, dass diese Lebensmittel nicht vor Kontaminationen geschützt sind, die sie für den menschlichen Verzehr ungeeignet oder gesundheitsschädlich machen bzw. derart kontaminieren, dass ein Verzehr in diesem Zustand nicht zu erwarten wäre.
[17] 16 Die besagte Nr. 3 stellt eine allgemeine Hygienevorschrift auf, die nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung von den darin genannten Lebensmittelunternehmern zu erfüllen ist.
[18] 17 Anhang II Kapitel IX Nr. 3 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 der Verordnung verpflichtet diese Unternehmer somit, Lebensmittel auf allen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Vertriebs vor Kontaminationen zu schützen, die sie für den menschlichen Verzehr ungeeignet oder gesundheitsschädlich machen bzw. derart kontaminieren, dass ein Verzehr in diesem Zustand nicht zu erwarten wäre.
[19] 18 Was den Kontext dieser Vorschriften betrifft, der für die Zwecke ihrer Auslegung nach ständiger Rechtsprechung u. a. zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Feltgen und Bacino Charter Company, C-116/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung), so ist Art. 5 der Verordnung zu berücksichtigen, wie die Berufungswerber der Ausgangsverfahren, die tschechische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission zu Recht geltend machen.
[20] 19 Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung haben die Lebensmittelunternehmer ein oder mehrere ständige Verfahren, die auf den HACCP-Grundsätzen beruhen, einzurichten, durchzuführen und aufrechtzuerhalten. Einer dieser Grundsätze ist der in Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung genannte, der die Ermittlung von Gefahren verlangt, die vermieden, ausgeschaltet oder auf ein annehmbares Maß reduziert werden müssen.
[21] 20 Wie sich insbesondere aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und d der Verordnung ergibt, verleiht die in Art. 5 Abs. 1 der Verordnung vorgesehene Verpflichtung dem Ziel des Unionsgesetzgebers Ausdruck, die Hauptverantwortung für die Sicherheit von Lebensmitteln den Lebensmittelunternehmern zuzuweisen.
[22] 21 Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung ist also so auszulegen, dass Art. 5 dieser Verordnung nicht seiner praktischen Wirksamkeit beraubt wird.
[23] 22 Daraus folgt, dass in einer Situation wie in den Ausgangsverfahren, in der nicht ersichtlich ist, dass von den zuständigen Behörden eine tatsächliche Kontamination festgestellt wurde, aus der bloßen Feststellung, dass ein potenzieller Käufer die zum Verkauf angebotenen Lebensmittel denkmöglich mit bloßen Händen berühren oder sie anniesen kann, nicht auf einen Verstoß gegen Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung durch die betroffenen Lebensmittelunternehmer geschlossen werden kann, ohne dass die Maßnahmen berücksichtigt werden, die diese Unternehmer nach Art. 5 der Verordnung getroffen haben, um die Gefahr, die eine Kontamination im Sinne von Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung darstellen kann, zu vermeiden, auszuschalten oder auf ein annehmbares Maß zu reduzieren, und ohne dass die Unzulänglichkeit der insoweit ergriffenen Maßnahmen unter Berücksichtigung aller verfügbaren einschlägigen Informationen festgestellt wird.
[24] 23 Zum letztgenannten Punkt ist festzustellen, dass insbesondere nicht auf die Unzulänglichkeit dieser Maßnahmen geschlossen werden kann, ohne dass die Gutachten gebührend berücksichtigt werden, die die betroffenen Lebensmittelunternehmer gegebenenfalls vorgelegt haben, um die hygienische Unbedenklichkeit solcher Selbstbedienungsverkaufsboxen nachzuweisen.
[25] 24 Somit ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Anhang II Kapitel IX Nr. 3 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren bei Selbstbedienungsverkaufsboxen für Brot- und Gebäckstücke der Umstand, dass ein potenzieller Käufer die zum Verkauf angebotenen Lebensmittel denkmöglich mit bloßen Händen berühren oder sie anniesen kann, für sich allein nicht die Feststellung erlaubt, dass diese Lebensmittel nicht vor Kontaminationen geschützt sind, die sie für den menschlichen Verzehr ungeeignet oder gesundheitsschädlich machen bzw. derart kontaminieren, dass ein Verzehr in diesem Zustand nicht zu erwarten wäre.
Kosten
[26] 25 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
* Verfahrenssprache: Deutsch.