Bundesgerichtshof
EuAlÜbk Art. 14 Abs. 1 Buchst. b
Ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis entfällt gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte nach Verlassen der Bundesrepublik Deutschland dorthin zurückkehrt, obwohl er auf die sich aus einer Wiedereinreise ergebenden Rechtsfolgen dieser Vorschrift hingewiesen worden war (Bestätigung und Fortführung von BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138).

BGH, Beschluss vom 19. 12. 2012 – 1 StR 165/12; LG Berlin (lexetius.com/2012,6520)

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Dezember 2012 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
In Fortsetzung des mit Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 vorläufig eingestellten Verfahrens wird die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. September 2011 als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
[1] Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in Tateinheit mit Steuerhinterziehung sowie wegen gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung in Tateinheit mit Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Sie hat keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
[2] I. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.
[3] 1. Allerdings hatte zunächst wegen Verstoßes gegen den in Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) normierten Grundsatz der Spezialität ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfolgungsverbot (Verfahrenshindernis) bestanden.
[4] a) Dieses Abkommen findet im Rechtshilfeverkehr mit der Republik Südafrika Anwendung (vgl. dazu auch BGBl. II 2003, 1783). Der von dort ausgelieferte Angeklagte durfte deswegen nur wegen solcher vor der Auslieferung begangener Taten verfolgt werden, für die die Auslieferung bewilligt worden war (vgl. BGH, Urteile vom 20. Dezember 1968 – 1 StR 508/67, BGHSt 22, 307 und vom 11. März 1999 – 4 StR 526/98, NStZ 1999, 363).
[5] b) Da zunächst unklar war, ob sich die Bewilligung der Auslieferung des Angeklagten auch auf die Tatvorwürfe im vorliegenden Verfahren bezog oder nur auf die Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe aus einem früheren Verfahren, musste der Senat den Umfang der Auslieferungsbewilligung im Freibeweisverfahren feststellen. Zwar konnte dabei nicht aufgeklärt werden, welchen Inhalt das letztlich an die Behörden der Republik Südafrika übermittelte Auslieferungsersuchen im Einzelnen hatte. Denn der Inhalt des Ersuchens war weder dem landgerichtlichen Urteil noch dem sonstigen Akteninhalt zu entnehmen; auch beim Bundesamt für Justiz waren keine weiterführenden Erkenntnisse zu erlangen. Der Senat hat sich aber auf der Grundlage einer klarstellenden Mitteilung des Ministeriums der Justiz der Republik Südafrika davon überzeugt, dass die Auslieferung allein für die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe erteilt wurde, weil das Ersuchen um Auslieferung dort nicht in dem Sinn verstanden worden war, dass die Auslieferung auch für die hier verfahrensgegenständlichen Taten begehrt werde.
[6] c) Damit lag zwar ein Verfahrenshindernis vor. Dieses war aber noch in der Revisionsinstanz behebbar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, und 1 StR 152/11 – und vom 25. Oktober 2012 – 1 StR 165/12, jeweils mwN), da ein Nachtragsersuchen um Zustimmung zur Verfolgung der verfahrensgegenständlichen Taten noch möglich und von den südafrikanischen Behörden sogar angeregt worden war. Das bestehende Verfahrenshindernis hatte auch nicht zur Folge, dass das Strafurteil des Landgerichts nichtig wäre (vgl. BGH aaO). Der Senat hatte das Verfahren deswegen mit Beschluss vom 25. Oktober 2012 in entsprechender Anwendung des § 205 StPO vorläufig eingestellt (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 1 StR 165/12).
[7] 2. Das Verfahrenshindernis ist nachträglich weggefallen, da die Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk wieder entfallen ist. Der Senat kann daher – wie vom Generalbundesanwalt mit Schreiben vom 26. November 2012 beantragt – in der Sache entscheiden.
[8] a) Nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk darf der Ausgelieferte wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Auslieferung zugrunde liegt, dann verfolgt, abgeurteilt oder einer Beschränkung seiner persönlichen Freiheit unterworfen werden, "wenn der Ausgelieferte, obwohl er dazu die Möglichkeit hatte, das Hoheitsgebiet des Staates, dem er ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach seiner endgültigen Freilassung nicht verlassen hat oder wenn er nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist." Wie der Senat in seinem Beschluss vom 25. Oktober 2012 im vorliegenden Verfahren (dort Rn. 13) klargestellt hat, entfällt die Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk unter den dort genannten Voraussetzungen jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Folge eines Verbleibs in dem Staat oder einer Wiedereinreise hingewiesen worden war (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138 und 1 StR 152/11). Ob – was der Senat für zutreffend hält – diese Rechtsfolge auch ohne vorherigen Hinweis eintritt, wenn dem Ausgelieferten diese Folge aus anderen Gründen bekannt war, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung.
[9] b) Die Voraussetzungen für einen Wegfall der Spezialitätsbindung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk liegen hier vor. Die Spezialitätsbindung an die Auslieferungsbewilligung ist aufgrund der freiwilligen Ausreise des Angeklagten in die Schweiz am 15. November 2012 und seiner anschließenden Wiedereinreise nach Deutschland entfallen. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob auch in einem solchen Fall der Wegfall der Spezialitätsbindung die vorherige "endgültige Freilassung" des Ausgelieferten voraussetzt. Der Angeklagte war "endgültig freigelassen" und hatte die Möglichkeit, das Bundesgebiet zu verlassen (nachfolgend aa), er ist nach Verlassen des Bundesgebietes wieder dorthin zurückgekehrt (nachfolgend bb), obwohl er auf die sich aus einer Wiedereinreise ergebenden Rechtsfolgen hingewiesen worden war (nachfolgend cc). Vom Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk hat sich der Senat im Freibeweisverfahren überzeugt.
[10] aa) Der Angeklagte war "endgültig freigelassen" i. S. d. Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk. Denn das Landgericht Berlin hatte den gegen den Angeklagten bestehenden Haftbefehl mit Beschluss vom 26. Oktober 2012 ohne Auflagen außer Vollzug gesetzt. Der Angeklagte wurde noch am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen.
[11] Dem Vorliegen einer endgültigen Freilassung steht der Bestand des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls nicht entgegen. Der Angeklagte war nicht durch Weisungen, Auflagen oder andere Pflichten in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138 und 1 StR 152/11; OLG München, Beschluss vom 20. Januar 1993 – 1 Ws 8/93, 1 Ws 9/93, NStZ 1993, 392); vielmehr stand es ihm frei – wie er wusste – das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Er hat von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht.
[12] bb) Der Angeklagte verließ nach seiner Freilassung Deutschland zunächst und kehrte dann dorthin zurück. Er begab sich am 15. November 2012 nach Zürich und reiste von dort aus wieder nach Deutschland. Hiervon ist der Senat nach Durchführung des Freibeweisverfahrens aus folgenden Gründen überzeugt:
[13] (1) In einem dem Senat in Kopie übersandten Schreiben an die Staatsanwaltschaft Berlin führte der Angeklagte aus, "vorgestern, am 15. 11. 2012 in Zürich gewesen" zu sein; er erwähnte darin einige Straßen, durch die ihn sein Weg in Zürich geführt hatte.
[14] (2) Seinen Aufenthalt in Zürich bestätigte er bei seiner erneuten Festnahme in Berlin nach umfassender Belehrung gegenüber einem Polizeibeamten. Ausweislich des Festnahmeberichts vom 22. November 2012 (dort S. 3) gab er an, er sei "vor kurzem tatsächlich für einen Tag in der Schweiz bei einer Treuhandgesellschaft gewesen". Nachdem ihm im Rahmen des Gesprächs bewusst wurde, dass diese Aus- und erneute Einreise der Grund für die Invollzugsetzung des Haftbefehls war, gab er an: "Dann war ich halt nicht in der Schweiz. Das kann man mir eh nicht nachweisen. An der Grenze finden ja keine Kontrollen mehr statt."
[15] (3) Bei der Eröffnung des Beschlusses, mit dem der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt worden war, gab der Angeklagte an, er habe "zwar geschrieben, er sei nach seiner Entlassung in der Schweiz gewesen. Tatsächlich sei er jedoch gar nicht dort gewesen" (Niederschrift zum Haftbefehlsverkündungstermin vom 22. November 2012).
[16] (4) In einem Schreiben vom 5. Dezember 2012 an das Landgericht Berlin rückte der Angeklagte dann von dieser Einlassung wieder ab und bestätigte, am 15. November 2012 in die Schweiz gereist und am selben Tag nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Dies werde "nicht mehr bestritten".
[17] (5) Auch die als Zeugin vernommene und entsprechend belehrte Tochter des Angeklagten, V., gab am 22. November 2012 an, ihres Wissens sei ihr Vater zwischenzeitlich in der Schweiz gewesen, dies habe er jedenfalls erzählt.
[18] (6) Schließlich belegen die Ermittlungen des Landeskriminalamtes Berlin, dass auf den Namen des Angeklagten in einem Berliner Reisebüro für den 15. November 2012 ein Flug von Berlin-Tegel nach Zürich und zurück gebucht worden war und dass der Flug entsprechend dieser Buchung auch durchgeführt wurde (Vermerke der Staatsanwaltschaft Berlin vom 26. und vom 28. November 2012).
[19] (7) Aufgrund einer Gesamtwürdigung dieser Erkenntnisse ist der Senat davon überzeugt, dass der Angeklagte am 15. November 2012 in die Schweiz ausgereist und dann wieder in die Bundesrepublik zurückgekehrt ist.
[20] cc) Der Senat ist aufgrund des durchgeführten Freibeweisverfahrens auch davon überzeugt, dass der Angeklagte über die sich aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk ergebenden rechtlichen Folgen einer Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland ausreichend belehrt war.
[21] (1) Der Angeklagte behauptet, auf die Folgen einer Wiedereinreise aus dem Ausland nicht hingewiesen worden zu sein. In ihrer Gegenerklärung auf den Antrag des Generalbundesanwalts vom 26. November 2012, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, macht die Verteidigung des Angeklagten am 14. Dezember 2012 ergänzend u. a. Folgendes geltend: Voraussetzung für das Entfallen der Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk sei nach dem Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012, dass der Angeklagte über die Voraussetzungen eines Wegfalls der Spezialitätsbindung "bei seiner Freilassung" hingewiesen worden sei. Der Angeklagte sei aber bei der Haftentlassung nicht auf die Folge einer Nichtausreise bzw. Wiedereinreise hingewiesen worden. Der erforderliche Hinweis könne nicht durch Ausführungen im Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 ersetzt werden, da dieser Beschluss dem Angeklagten in der Haft nicht ausgehändigt worden sei. Auch eine spätere Aushändigung sei nicht erfolgt.
[22] (2) Der Senat ist aufgrund der Erkenntnisse im Freibeweisverfahren davon überzeugt, dass der Angeklagte ausreichend auf die rechtliche Folge des Wegfalls der Spezialitätsbindung im Falle einer Ausreise und Wiedereinreise hingewiesen worden war.
[23] (a) Als Hinweis genügen bereits die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 (dort Rn. 13). In diesem Beschluss hat der Senat – zur Verdeutlichung der zu beachtenden rechtlichen Grundlagen – ausdrücklich auch die Vorschrift des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk und deren Voraussetzungen sowie die sich daraus ergebende Rechtsfolge eines nachträglichen Entfallens der Spezialitätsbindung dargelegt.
[24] (b) Der Senat ist aufgrund folgender Umstände davon überzeugt, dass der Angeklagte den Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 – entgegen seiner gegenteiligen Behauptung – mit dem darin enthaltenen Hinweis erhalten und gelesen hat:
[25] (aa) In einem bereits am 5. November 2012 – also vor seiner Reise nach Zürich – an das Landgericht Berlin gerichteten "Memorandum" führte der Angeklagte selbst aus, er habe "sehr aufmerksam den Beschluss des BGH" (im vorliegenden Verfahren vom 25. Oktober 2012 betreffend die vorläufige Einstellung des Verfahrens) durchgelesen. Er machte dabei auch Ausführungen zum Inhalt des Senatsbeschlusses, sprach die dort aufgezeigte Möglichkeit eines Nachtragsersuchens an die Republik Südafrika an und verwies darauf, dass der Senat bisher noch keine Ausführungen zum Inhalt des von ihm angefochtenen Urteils gemacht habe. Zudem verwies er darauf, dass der Kammerbeschluss des Landgerichts, mit dem der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden war, "sehr von dem des BGH" abweiche.
[26] (bb) Angesichts dieser Äußerungen ist der Senat davon überzeugt, dass dem Angeklagten nicht nur – wie aber die Verteidigung geltend macht – von einer der Verteidigerinnen telefonisch der Tenor des Senatsbeschlusses vom 25. Oktober 2012 vorgelesen worden ist, sondern dass der Angeklagte – jedenfalls vor Abfassung seines Schreibens vom 5. November 2012 – die Möglichkeit hatte, diesen Beschluss zu lesen, ihn auch tatsächlich gelesen und sich mit ihm inhaltlich auseinandergesetzt hat. Der Angeklagte hatte keinen erkennbaren Grund, in seinem Schreiben wahrheitswidrig zu behaupten, er habe den Senatsbeschluss gelesen, und auf angebliche Abweichungen zum Beschluss des Landgerichts hinzuweisen, zumal dies einen inhaltlichen Vergleich der beiden Beschlüsse voraussetzt. In der nachträglichen Einlassung des Angeklagten, er habe – ohne Kenntnis der Beschlussgründe des Senatsbeschlusses vom 25. Oktober 2012 – fälschlicherweise angenommen, das Landgericht Berlin sei von diesem Senatsbeschluss abgewichen, indem es den Haftbefehl lediglich außer Vollzug gesetzt habe, sieht der Senat eine bloße Schutzbehauptung.
[27] (cc) Der Senat ist auch davon überzeugt, dass das Schreiben vom 5. November 2012 vom Angeklagten selbst stammt. Zwar macht die Verteidigung geltend, es fehle der Nachweis, dass das als Telefax übersandte Schreiben vom Angeklagten stamme. Die Zweifel, ob die auf dem Schreiben befindliche Unterschrift tatsächlich von dem Angeklagten stamme, weil es sich bei dem Fax nur um eine Kopie handele, teilt der Senat jedoch nicht. Es bestehen – insbesondere angesichts des Inhalts des Schreibens – keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine andere Person das Schreiben erstellt oder verfälscht und dabei die Unterschrift des Angeklagten gefälscht haben könnte.
[28] (dd) Damit war der Angeklagte so deutlich über die Rechtsfolgen des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk unterrichtet, dass er sie unschwer erfassen konnte. Besondere Anhaltspunkte dafür, der Angeklagte könnte nicht in der Lage gewesen sein, die aufgezeigten Rechtsfolgen zu verstehen (vgl. zu § 136 StPO: BGH, Urteil vom 16. März 1993 – 1 StR 888/92, NStZ 1993, 395), sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Ob sich der Angeklagte dieser Rechtsfolgen bei seiner Wiedereinreise oder beim Versenden des diese offenbarenden Schreibens an die Staatsanwaltschaft bewusst war, ist für die Frage, ob der Angeklagte ausreichend über die Möglichkeiten eines Wegfalls der Spezialitätsbindung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk belehrt worden war, ohne Bedeutung.
[29] (c) Entgegen der Annahme der Verteidigung ist der Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 im vorliegenden Verfahren auch nicht dahingehend zu verstehen, dass einem Hinweis auf die Vorschrift des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk dann keine rechtliche Bedeutung zukomme, wenn er nicht unmittelbar bei der Freilassung ergangen ist. Vielmehr hat der Zeitpunkt des Hinweises (wie sich auch aus den im Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 in Bezug genommenen Senatsbeschlüssen vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11 und 1 StR 152/11 ergibt) lediglich für den Lauf der 45-tägigen Schonfrist bei einer Nichtausreise nach endgültiger Freilassung, nicht aber im Falle einer Wiedereinreise Bedeutung.
[30] II. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 19. April 2012 bemerkt der Senat:
[31] Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen insbesondere auch die Verurteilung des Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs.
[32] 1. Das Landgericht hat hierzu festgestellt, dass der Angeklagte spätestens nach einer Haftentlassung im Juni 2001 beschlossen hatte, mit weiteren Mittätern – wie schon zuvor praktiziert – durch den fingierten Handel mit hochwertigen Computerprozessoren Umsatzsteuer zu hinterziehen, um sich dadurch eine nicht unerhebliche Einnahmequelle von einiger Dauer zu verschaffen. Für die Umsetzung dieses Plans konnte er zum einen den geschäftsunerfahrenen Zeugen S. gewinnen, der alle Geschäftsanteile und die formelle Geschäftsführerstellung einer N. GmbH übernahm, während der Angeklagte deren Geschäfte tatsächlich leitete. Zum anderen gewann er den Zeugen H. zur Mitarbeit bei der N. GmbH.
[33] Mit einer vom Angeklagten veranlassten Korrespondenz (lautend auf eine vom Angeklagten erdachte Person) wurde der Firma W. KG (im Folgenden W. KG) vorgetäuscht, die Firma e-. (im Folgenden E.) mit Sitz in Malaysia wolle von der Firma N. GmbH hochwertige Mikroprozessoren beziehen. Da diese aber nicht selbst exportieren wolle, sei die Zwischenschaltung einer weiteren Firma erforderlich. Dies wurde als für die zwischengeschaltete Firma finanziell risikolos dargestellt. Daraufhin willigte die W. KG ein, als dieser Zwischenhändler tätig zu werden, und schloss vermeintlich mit der E. einen entsprechenden Rahmenvertrag betreffend die Lieferung hochwertiger Mikroprozessoren. Tatsächlich war der Vertragsabschluss durch die Verantwortlichen der E. zur Täuschung der W. KG vom Angeklagten lediglich fingiert worden. Auch die hochwertigen Mikroprozessoren, die Handelsgegenstand sein sollten, existierten zu keinem Zeitpunkt und wurden daher auch nicht an die E. in Malaysia geliefert.
[34] Um allerdings – auch gegenüber den Verantwortlichen der W. KG – den Schein einer realen Handelstätigkeit mit rechnungsgemäßen Lieferungen zu wahren, wurden auf Veranlassung des Angeklagten geringwertige Computerbauteile an eine von der W. KG beauftragte Spedition übergeben und von dieser nach Malaysia geschickt. Die einzelnen Pakete wurden dort von einer Kontaktperson des Angeklagten in Empfang genommen und an die N. GmbH oder andere Firmen aus dem Einflussbereich des Angeklagten zurückgesandt, damit sie für die erneute Versendung nach Malaysia zur Verfügung standen. Mitarbeiter der W. KG waren nie im Besitz der Lieferungen. Zum Schutz vor Kontrollen wurde die Ware luftdicht verpackt; es wurde darauf hingewiesen, dass die Verpackungen nur unter absolut staubfreien Bedingungen geöffnet werden dürften, andernfalls die Gefahr der Beschädigung der Prozessoren bestehe.
[35] Im Zeitraum vom 13. März 2002 bis zum 24. Juli 2002 fanden insgesamt 32 solcher Lieferungen angeblich hochwertiger Mikroprozessoren der N. GmbH im beschriebenen Lieferweg an die E. statt. Während die von den Zeugen S. und H. für die N. GmbH unterzeichneten Ausgangsrechnungen an die W. KG jeweils einen Nettobetrag von 251.040 € zuzüglich Umsatzsteuer in Höhe von 40.166,40 € auswiesen, stellte die W. KG der E. für die umsatzsteuerfreie Ausfuhrlieferung (§ 4 Nr. 1 Buchst. a, § 6 UStG) der Prozessoren jeweils einen Nettobetrag in Höhe von jeweils 258.810 € in Rechnung. Zur Erzielung eines Gewinns war die W. KG deshalb darauf angewiesen, die in den Zahlungen an die N. GmbH enthaltene Umsatzsteuer im Rahmen ihrer monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen als Vorsteuer gegenüber dem zuständigen Finanzamt geltend zu machen.
[36] Für die Zahlungsabwicklung veranlasste der Angeklagte jeweils, dass einem Konto der W. KG der gegenüber der E. in Rechnung gestellte Betrag als "Vorkasse" dieser Firma gutgebracht wurde. Die W. KG erbrachte sodann Zahlungen in Höhe von 291.206,40 € an die N. GmbH. Hieraus wurde jeweils wieder eine an die W. KG geleistete "Vorauszahlung" generiert und ein weiterer Betrag von rund 32.000 € an den Angeklagten ausgekehrt.
[37] In Unkenntnis der wahren Umstände – insbesondere der Tatsache, dass keine hochwertigen Mikroprozessoren nach Malaysia verschickt worden waren – machten die Verantwortlichen der W. KG die in den Rechnungen der N. GmbH ausgewiesene und an diese bezahlte Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 1.285.324,80 € in fünf Umsatzsteuervoranmeldungen im Jahr 2002 als Vorsteuer geltend. Nachdem bekannt wurde, dass den Rechnungen der N. GmbH nicht der dort angegebene Leistungsaustausch zugrunde lag, versagte das zuständige Finanzamt nachträglich den Vorsteuerabzug. Die dagegen erhobene Klage der W. KG wies das Finanzgericht Berlin-Brandenburg rechtskräftig ab.
[38] 2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten u. a. als Betrug zum Nachteil der W. KG in Tateinheit mit Steuerhinterziehung in mittelbarer Täterschaft gewertet. Die Mitarbeiter der W. KG seien über das Bestehen eines Vorsteuererstattungsanspruchs getäuscht worden und hätten irrtumsbedingt Zahlungen einschließlich der in Rechnung gestellten Umsatzsteuer an die N. GmbH vorgenommen. Einen der W. KG entstandenen Vermögensschaden erblickt das Landgericht darin, dass der zwischen erhaltener Vorkasse und geleisteter Auszahlung verbliebene Saldo nicht durch einen Anspruch auf Vorsteuererstattung zugunsten der W. KG kompensiert worden sei.
[39] 3. Dies ist ohne Rechtsfehler. Insbesondere belegen hinsichtlich des Betruges die Feststellungen der Strafkammer (anders als offenbar die der Entscheidung BGH, Beschluss vom 26. November 2009 – 5 StR 91/09, wistra 2010, 146, zugrundeliegenden Feststellungen), dass die W. KG zum Vorsteuerabzug nicht berechtigt war und deshalb ein deren Mehraufwendungen kompensierender Vermögenswert nicht vorhanden war. Denn es fehlt schon an ordnungsgemäßen Rechnungen der N. GmbH an die W. KG.
[40] a) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in der für den Tatzeitraum geltenden Fassung kann ein Unternehmer die in Rechnungen im Sinne des § 14 UStG (a. F.) gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen. Materiell-rechtliche Voraussetzung für den Vorsteuerabzug ist dabei aber eine Rechnung, die die jeweilige Lieferung oder sonstige Leistung belegt (vgl. auch EuGH, Urteil vom 21. Juni 2012 – C-80/11 und C-142/11, Rn. 52, DStRE 2012, 1336). Rechnung in diesem Sinn ist nur ein solches Abrechnungspapier, das hinreichende Angaben tatsächlicher Art enthält, welche die Identifizierung der abgerechneten Leistung ermöglichen; der Aufwand zur Identifizierung der Leistung muss dahingehend begrenzt sein, dass die Rechnungsangaben eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung der Leistung ermöglichen, über die abgerechnet worden ist. Die ausgeführte Leistung oder der beim Leistungsempfänger eintretende Erfolg der Leistungshandlung muss mit der in der Rechnung bezeichneten identisch sein (vgl. BFH, Urteile vom 8. Oktober 2008 – V R 59/07, DStRE 2009, 166 mwN und vom 24. September 1987 – V R 50/85, BFHE 153, 65; vgl. auch EuGH, Urteile vom 6. September 2012 – C-324/11, Rn. 26 und vom 6. Dezember 2012 – C-285/11, Rn. 29 ff.).
[41] b) Diese Voraussetzungen sind nach den Urteilsfeststellungen hier nicht gegeben. Vielmehr wurden die in Rechnung gestellten hochwertigen Mikroprozessoren zu keinem Zeitpunkt an die W. KG geliefert. Ein Vorsteuerabzug scheidet daher von vornherein aus (so in dieser Sache auch FG Berlin- Brandenburg, Urteil vom 24. November 2010 – 7 K 2356/06, EFG 2011, 918).
[42] c) Da die in den Rechnungen aufgeführten Lieferungen hochwertiger Mikroprozessoren nicht durchgeführt wurden, bedarf es keiner Erörterung mehr, dass nach den Feststellungen des Landgerichts (UA S. 19) die Verantwortlichen der W. KG – ohne dass dadurch ihr Irrtum i. S. d. § 263 StGB entfiele – ihre Einbindung in ein auf Mehrwertsteuerhinterziehung ausgelegtes Hinterziehungssystem hätten erkennen müssen (zur Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn ein Steuerpflichtiger weiß oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, vgl. EuGH, Urteile vom 6. Dezember 2012 – C-285/11, Rn. 39, vom 21. Juni 2012 – C-80/11 und C-142/11, Rn. 46, DStRE 2012, 1336 und vom 6. Juli 2006, C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling, Slg. 2006 I-6161, 59, Rn. 56).
[43] 4. Auch die Annahme gewerbs- und bandenmäßiger Begehungsweise wird von den rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen getragen. Denn danach wussten die Zeugen S. und H. spätestens mit Aufnahme der Lieferungen von dem vom Angeklagten ersonnenen Betrugs- und Steuerhinterziehungssystem und kamen mit dem Angeklagten zumindest stillschweigend überein (vgl. dazu BGH, Urteil vom 23. April 2009 – 3 StR 83/09, Rn. 10; BGH, Beschluss vom 5. August 2005 – 2 StR 254/05, NStZ 2006, 176), in der beschriebenen Weise eine Vielzahl von Straftaten zur Sicherung einer fortlaufenden, nicht unerheblichen Einkommensquelle zu begehen. Der Annahme gewerbsmäßigen Handelns steht nicht entgegen, dass das Landgericht das Gesamtverhalten des Angeklagten – was diesen nicht beschwert – als uneigentliches Organisationsdelikt gewertet und damit zur Tateinheit zusammengefasst hat (BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 – 3 StR 344/03, NStZ-RR 2006, 106).