Bundesgerichtshof
BGH, Beschluss vom 1. 6. 1987 – II ZB 43/87; OLG Karlsruhe (lexetius.com/1987,5)
[1] Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluß des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 26. März 1987 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
[2] Der Streitwert für die Beschwerdeinstanz beträgt 140.623,30 DM.
[3] Gründe: Die Klägerin hat die von ihr gegen das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 24. Juli 1985 eingelegte, beim Berufungsgericht am 3. September 1985 eingegangene Berufung mit einem auf den 7. Oktober 1985 datierten, am 16. Oktober 1985 bei dem Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Nachdem mit Verfügung vom 17. Oktober 1985 das schriftliche Vorverfahren angeordnet worden war und die Parteien mehrere Schriftsätze zu den Akten gereicht hatten, fragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 9. Oktober 1986 nach dem Stand des Verfahrens. Mit richterlicher Verfügung vom 14. Oktober 1986 wurde ihr mitgeteilt, mit einer Entscheidung im Prozeßkostenhilfeverfahren und der Bestimmung eines Senatstermins könne in ca. einem Monat gerechnet werden. Mit einer weiteren richterlichen Verfügung vom 22. Dezember 1986, bei der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 23. Dezember 1986 eingegangen, wurde die Klägerin u. a. darauf hingewiesen, daß die Berufung am 5. September 1985 und die Berufungsbegründung am 16. Oktober 1985 bei dem Berufungsgericht eingegangen seien. Nachdem der Vorsitzende des zuständigen Senates die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin am 27. Januar 1987 fernmündlich darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die Berufungsbegründungsfrist nicht eingehalten worden sei, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28. Januar 1987, beim Berufungsgericht am 30. Januar 1987 eingegangen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das Berufungsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluß diesen Antrag wegen Fristversäumnis sowie den Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Die Klägerin wendet sich mit der von ihr am 16. April 1987 bei dem Berufungsgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde gegen diese Entscheidung. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung des von der Klägerin eingelegten Rechtsmittels.
[4] Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 238 Abs. 2, 519b Abs. 2, 577 Abs. 2 ZPO). Sie ist jedoch nicht begründet.
[5] 1. Das Berufungsgericht führt zutreffend aus, daß die Voraussetzungen für eine Entscheidung von Amts wegen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorliegen (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Zwar war die Berufungsbegründungsschrift bei Gericht bereits eingegangen, bevor die Antragsfrist nach § 234 Abs. 1 und 2 ZPO in Lauf gesetzt wurde. Das reicht für das Nachholen der versäumten Prozeßhandlung innerhalb der Antragsfrist aus (Zöller/Stephan, ZPO, 15. Aufl., § 236 Rdnr. 8; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 45. Aufl., § 236 Anm. 4). Darüber hinaus müssen jedoch die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, dem Gericht bekanntgegeben werden oder zumindest aktenkundig sein. Diese Voraussetzung lag bis zum 27. Januar 1987 nicht vor.
[6] 2. Das Berufungsgericht hat den Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht als unzulässig zurückgewiesen. Auch wenn man davon ausgeht, daß die Ausschlußfrist des § 234 Abs. 3 ZPO im vorliegenden Falle möglicherweise nicht wirksam wird, ist der Antrag verspätet. Denn er ist nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Frist gestellt worden (§ 234 Abs. 1 ZPO). Nach § 234 Abs. 2 ZPO beginnt die Frist mit dem Tag, an dem das Hindernis für die Antragstellung behoben worden ist. Diese Voraussetzung ist dann erfüllt, wenn der Rechtsanwalt bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt den Wegfall des Hindernisses erkennen konnte (BGH, Beschl. v. 29. Mai 1974 – IV ZB 6/74, VersR 1974, 1001; Beschl. v. 29. April 1975 – VI ZB 2/75, VersR 1975, 860). Das war am 23. Dezember 1986 der Fall. Denn an diesem Tage ist der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin die Verfügung des Berufungsgerichts vom 22. Dezember 1986 zugegangen, mit der sowohl das Datum des Eingangs der Berufungsbegründungsschrift als auch das Datum des Eingangs der Berufungsschrift mitgeteilt worden sind. Wenn auch das Datum des Eingangs der Berufungsschrift nicht richtig wiedergegeben war – die Berufungsschrift ist nicht am 5., sondern am 3. September 1985 bei Gericht eingegangen – konnte sich dieser Fehler wegen des Laufs der Gerichtsferien auf die Errechnung des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist nicht auswirken. Die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin konnte also unschwer erkennen, daß die Berufungsbegründungsfrist am 15. Oktober 1985 abgelaufen, die am 16. Oktober 1985 eingegangene Berufungsbegründungsschrift mithin verspätet eingegangen war.
[7] Die Klägerin meint zwar, es könne ihrer Prozeßbevollmächtigten und damit auch ihr nicht zum Vorwurf gereichen, wenn sie im Hinblick auf die Frist des § 234 Abs. 3 ZPO von der Einreichung eines Wiedereinsetzungsgesuches nach Zugang der gerichtlichen Verfügung vom 22. Dezember 1986 abgesehen habe. Denn der Bundesgerichtshof habe sich bisher der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht angeschlossen, nach der diese Frist dann nicht eingreife, wenn Verzögerungen ihre Ursache allein in der Sphäre des Gerichts gehabt hätten. Das schließt jedoch ein Verschulden der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, für das diese einzustehen hat (§ 85 Abs. 2 ZPO), nicht aus. Zwar hat die Ausschlußfrist des § 234 Abs. 3 ZPO nach der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift absoluten Charakter (vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 2 Abt. 1, S. 247; Krönig, Die Unzulässigkeit der Wiedereinsetzung nach Jahresfrist – eine reformbedürftige Bestimmung der Zivilprozeßordnung, ZZP 46, 266, 269). Sie verfolgt den Zweck, eine unangemessene Verzögerung von Prozessen zu verhindern und den Eintritt der Rechtskraft zu gewährleisten. Demgemäß hat die Rechtsprechung Ausnahmen davon in Fällen abgelehnt, in denen ein die Prozeßkostenhilfe verweigernder Beschluß vor Ablauf der Frist ergangen ist, der Partei von ihrem Anwalt jedoch erst nach Ablauf dieser Frist bekanntgegeben werden konnte (BGH, Beschl. v. 19. Februar 1976 – VII ZR 16/76, VersR 1976, 728 = MDR 1976, 569) oder in denen die Ursache für die Verspätung und die weitere Behandlung durch das Gericht entscheidend in der Sphäre der Partei lag, welche die Frist versäumt hatte (BGH, Beschl. v. 18. Mai 1971 – IX ZR 206/68, RzW 1971, 564; Urt. v. 20. Januar 1983 – IX ZR 19/82, VersR 1983, 376, 377). Hingegen ist die Anwendung der Vorschrift dann ausgeschlossen worden, wenn bei Ablauf der Ausschlußfrist über ein innerhalb der Rechtsmittelfrist gestelltes Gesuch um Gewährung von Prozeßkostenhilfe noch nicht entschieden war (BGH, Beschl. v. 12. Juni 1973 – VI ZR 121/73, VersR 1973, 851; OLG Braunschweig NJW 1962, 1823 – 1825) oder das Gericht allein aus in seiner Sphäre liegenden Gründen nicht innerhalb eines Jahres von dem Ende der versäumten Frist an darüber entschieden hat, ob eine Revision form- und fristgerecht eingelegt worden ist und beide Parteien aufgrund gerichtlicher Verfügung der Auffassung sein konnten, der Rechtsstreit werde demnächst materiellrechtlich entschieden (BAG, Urt. v. 2. Juli 1981 – 2 AZR 324/79, BB 1981, 2012 = NJW 1982, 1664 = DB 1981, 2500). Hätte die Prozeßbevollmächtigte der Klägerin diese Möglichkeiten sorgfältig gegeneinander abgewogen, hätte ihr die Zweifelhaftigkeit der Rechtslage erkennbar werden müssen. Unter diesen Umständen hätte sie vorsorglich im Interesse ihrer Mandantin den sichersten Weg, nämlich den wählen müssen, binnen zwei Wochen nach Zugang der Verfügung vom 22. Dezember 1986 ein Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen (BGHZ 8, 47, 48; Urt. v. 22. September 1958 – III ZR 16/58, NJW 1959, 141). Das hat sie jedoch nicht getan. Vielmehr hat sie ein solches Gesuch erst nach dem Telefonanruf vom 27. Januar 1987 gestellt. Das war jedoch verspätet. Die sofortige Beschwerde war demnach mit der sich aus § 97 Abs. 1 ZPO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen.