Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer Rechtsanwältin gegen zivilrechtliches Unterlassungsurteil
BVerfG, Mitteilung vom 14. 8. 1996 – 50/96 (lexetius.com/1996,521)
[1] Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde (Vb) einer Rechtsanwältin gegen das zivilrechtliche Unterlassungsurteil eines Oberlandesgerichts (OLG) einstimmig stattgegeben. Durch die OLG-Entscheidung war die Beschwerdeführerin verurteilt worden, Behauptungen zu unterlassen, die sie als Rechtsanwältin in Ausübung eines Mandats aufgestellt hatte.
[2] I. Die Beschwerdeführerin ist im Juli 1994 im Berufungsverfahren von einem OLG verurteilt worden, die Behauptung zu unterlassen, der Kläger des Ausgangsverfahrens habe eine Arbeitskollegin sexuell belästigt. Die Beschwerdeführerin hatte zuvor in einem Schreiben an den Vorstand und den Betriebsrat des betreffenden Betriebes mitgeteilt, Mitarbeiterinnen, die sie vertrete, seien von Mitgliedern des Betriebsrates sexuell belästigt worden. Die Namen ihrer Mandantinnen nannte die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf mögliche Nachteile nicht. In ihrem Schreiben bezog sich die Beschwerdeführerin unter anderem auf ein Gedächtnisprotokoll, das dem Vorstand/Betriebsrat bereits vorlag. Dieses Protokoll enthielt über die in dem anwaltlichen Schreiben geschilderten Fälle hinaus einen weiteren Fall sexueller Belästigung durch einen namentlich benannten Mann, der zwischenzeitlich zum Vorsitzenden des Betriebsrates gewählt worden war. Dieser erhob gegen die Beschwerdeführerin Unterlassungsklage. In erster Instanz wurde die Klage abgewiesen. Das OLG verurteilte die Be- schwerdeführerin im Berufungsverfahren, die Behauptung der ehrenrührigen Tatsache zu unterlassen. Mit der gegen dieses Urteil erhobenen Vb rügt die Beschwerdeführerin insbesondere einen Verstoß gegen die Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
[3] II. Die Kammer hat das Urteil des OLG aufgehoben. Dessen Richter haben in ihrer Urteilsbegründung die Bedeutung und Tragweite der anwaltlichen Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verkannt.
[4] Ein Rechtsanwalt, der sich im Auftrag eines Mandanten äußert, wird nicht als Privatperson, sondern in seiner Funktion als Rechtsanwalt und Vertreter seines Mandanten tätig. Er macht sich nicht den Sachverhalt, den ihm sein Mandant schildert, als persönliche Behauptung zu eigen, auch dann nicht, wenn er sich zum Beweis auf anderweitig erstellte Urkunden beruft. Zieht ein Gericht den Rechtsanwalt privat für Äußerungen zur Verantwortung, die er in gehöriger Form im Namen eines Mandanten abgibt, unterbindet es die ordnungsgemäße Interessenvertretung und damit einen wesentlichen Teil anwaltlicher Berufsausübung. Auch im konkreten Fall gibt es keine Besonderheiten, die eine abweichende Bewertung zuließen. Es ist klar erkennbar, daß die Beschwerdeführerin das Gedächtnisprotokoll im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit ihrer Mandantinnen herangezogen hat. Sie hat weder den Namen des Klägers des Ausgangsverfahrens noch den ihn im Protokoll betreffenden Vorfall in ihrem anwaltlichen Schreiben überhaupt erwähnt. Entgegen der Auffassung des OLG war die Beschwerdeführerin auch nicht verpflichtet, in ihrem Schreiben ausdrücklich klarzustellen, daß sie sich nicht auf den den Kläger des Ausgangsverfahrens betreffenden Vorfall bezogen hat. Denn sie war berechtigt, im Rahmen des erteilten Mandats für ihre Mandantinnen auch die Äußerungen Dritter wiederzugeben, die in sachlichem Zusammenhang mit dem anwaltlichen Mandat stehen, zumal der Inhalt dieser Äußerungen beiden Adressaten des Schreibens, dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat, aus der ihnen vorliegenden Urkunde bekannt war.
BVerfG, Beschluss vom 27. 6. 1996 – 1 BvR 1398/94