Bundesverwaltungsgericht
Verwaltungsverfahrensrecht
Asylrechtlicher Widerrufsbescheid; Zustellung; Einschreiben; Einwurf-Einschreiben; Übergabe-Einschreiben; Übergabe; Zustellungsfiktion; Klagefrist; Zustellungsmangel; Heilung
VwZG § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 9 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 5
Das sog. Einwurf-Einschreiben der Post erfüllt nicht die Anforderungen an eine förmliche Zustellung nach dem Verwaltungszustellungsgesetz.

BVerwG, Urteil vom 19. 9. 2000 – 9 C 7.00; OVG Koblenz; VG Koblenz (lexetius.com/2000,2486)

[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. September 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund und Richter, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eichberger für Recht erkannt:
[2] Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten die Hauptsache für erledigt erklärt haben. Insoweit sind das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 26. Oktober 1999 und das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. März 2000 mit Ausnahme der jeweiligen Kostenentscheidung unwirksam.
[3] Im Übrigen werden die Revisionen zurückgewiesen.
[4] Die Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Beklagte und der Beteiligte je zur Hälfte.
[5] Gründe: I. Der Kläger, ein aus dem Nordirak stammender irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste 1995 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 13. Februar 1996 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) die Gewährung von Asyl ab, stellte aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen. Der Kläger müsse bei einer Rückkehr in den Irak vor allem wegen seiner illegalen Ausreise und seiner Asylantragstellung in Deutschland politische Verfolgung befürchten.
[6] Nach vorheriger Anhörung widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 3. Februar 1999 die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG und stellte unter Nr. 2 des Bescheids fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung führte es aus, die Situation im Nordirak sei nach derzeitigem Erkenntnisstand nunmehr grundlegend anders als zur Zeit des Ausgangsbescheids zu bewerten. Für Angehörige der kurdischen Volksgruppe bestehe im Nordirak keine Verfolgungsgefahr. Der Widerrufsbescheid wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers per Einwurf-Einschreiben übermittelt.
[7] Das Verwaltungsgericht hat den Widerrufsbescheid aufgehoben, das Berufungsgericht die Berufung des Beteiligten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei nicht verspätet erhoben worden, da die Übermittlung des Bescheids per Einwurf-Einschreiben keine ordnungsgemäße Zustellung dargestellt habe. Der Widerruf einer Asylanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG setze voraus, dass eine nachträgliche Änderung der asylerheblichen Umstände eingetreten sei. Dies sei hier nicht der Fall. Die für die Asylgewährung maßgeblichen "Eckdaten" im Irak, insbesondere die Situation der Kurden im Nordirak, seien seit Ende 1991 im Wesentlichen unverändert geblieben. Mit dem Widerruf habe das Bundesamt nicht einer nachträglichen Veränderung der asylerheblichen Umstände Rechnung tragen, sondern die unzutreffende Beurteilung der Verhältnisse im Ausgangsbescheid heilen wollen. Der Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG könne nicht in eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 VwVfG umgedeutet werden. Es spreche viel dafür, dass die Vorschriften der §§ 72 f. AsylVfG abschließend seien. Außerdem könne die gebundene Entscheidung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht in eine Ermessensentscheidung nach § 48 Abs. 1 VwVfG umgedeutet werden.
[8] Mit der Revision machen die Beklagte und der Beteiligte geltend, § 73 Abs. 1 AsylVfG rechtfertige den Widerruf auch bei einer nachträglichen Änderung der Erkenntnislage.
[9] Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung die Feststellung in Nr. 2 des Widerrufsbescheids, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, aufgehoben; darauf haben die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache insoweit für erledigt erklärt.
[10] II. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren einzustellen und sind die Entscheidungen der Vorinstanzen für unwirksam zu erklären (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 92 Abs. 3 VwGO in entsprechender Anwendung). Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch der Widerruf der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG durch das Bundesamt. Insoweit haben die Revisionen keinen Erfolg.
[11] Das Berufungsgericht ist ebenso wie das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Klage nicht verspätet erhoben worden ist, obgleich zwischen Zugang des Widerrufsbescheids und Klageerhebung mehr als zwei Wochen lagen (vgl. § 74 Abs. 1 AsylVfG). Nach § 73 Abs. 5 AsylVfG ist die Widerrufsentscheidung des Bundesamts dem Ausländer bzw. seinem Bevollmächtigten "zuzustellen" (vgl. auch § 31 Abs. 1 Satz 2 und § 74 Abs. 1 AsylVfG). Die vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) gewählte Art der Bekanntgabe des Widerrufsbescheids wahrt die gesetzlich abschließend bestimmte Form der Zustellung nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes nicht.
[12] Der Widerspruchsbescheid ist den (früheren) Prozessbevollmächtigten des Klägers in der Form des 1997 von der Deutschen Post AG eingeführten Einwurf-Einschreibens übermittelt worden. Diese Form des Einschreibens genügt nicht den Anforderungen, die § 2 Abs. 1 VwZG an die Zustellung eines Schriftstücks stellt. Das Einwurf-Einschreiben wird, anders als das frühere Einschreiben, dem das seit 1997 von der Deutschen Post AG angebotene so genannte Übergabe-Einschreiben entspricht, dem Empfangsberechtigten (Adressat oder gesetzlich zugelassener Ersatzempfänger) nicht übergeben, sondern wie normale Briefpost in den Hausbriefkasten des Empfängers eingeworfen oder in sein Postfach gelegt. Der Postbedienstete vermerkt lediglich intern den Einwurf des Einschreibens (zu den verschiedenen Einschreibenarten vgl. Sadler, Kommentar zum Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz und zum Verwaltungszustellungsgesetz, 4. Auflage, § 4 VwZG Rn. 1, 14, 18 ff.). Damit bleibt das Einwurf-Einschreiben in seinen Formerfordernissen entscheidend hinter denen des früheren Einschreibens – dem heutigen Übergabe-Einschreiben – zurück, von dem die gesetzliche Einordnung als anerkannte Zustellungsart in § 2 Abs. 1 VwZG und die daran anknüpfende Zustellungsfiktion nach § 4 Abs. 1 VwZG ausgehen. Zum einen sieht das Einwurf-Einschreiben, anders als das Übergabe-Einschreiben, nicht die schriftliche Empfangsbestätigung des Empfangsberechtigten vor. Es entspricht damit auch nicht den Anforderungen an ein Einschreiben, wie sie in § 1 Abs. 2 Nr. 1 der Post-UniversaldienstleistungsVO vom 15. Dezember 1999 (BGBl I S. 2418) umschrieben sind (v. Danwitz in: Badura u. a., PostG-Kommentar, Anh. § 11 § 1 PUDLV Rn. 9), in der die Universaldienstleistungen i. S. d. § 11 PostG festgelegt werden. Das Einwurf-Einschreiben verzichtet zum anderen auf die in § 2 Abs. 1 VwZG grundsätzlich für die Zustellung eines Schriftstücks geforderte Übergabe an den Empfangsberechtigten, wie sie das Übergabe-Einschreiben sicherstellt. Das Einwurf-Einschreiben führt demzufolge auch nicht zur Zustellungsfiktion des § 4 Abs. 1 VwZG (ebenso Sadler, a. a. O., § 4 VwZG Rn. 1 a und b m. w. N.). Danach fehlt es an einer wirksamen Zustellung des Widerrufsbescheids; eine Heilung des Mangels kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Zustellung den Beginn der Klagefrist betrifft (§ 9 Abs. 2 VwZG).
[13] In der Sache hat das Berufungsgericht die Aufhebung des angefochtenen Widerrufsbescheids durch das Verwaltungsgericht zu Recht bestätigt. Der Widerruf der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG durch das Bundesamt ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn die Entscheidung kann nicht auf eine tragfähige Aufhebungsbestimmung gestützt werden.
[14] Die vom Bundesamt seinem Widerrufsbescheid zugrunde gelegte Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG lässt, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, den Widerruf einer Anerkennung als politisch Verfolgter, gleich ob sie rechtswidrig oder rechtmäßig gewährt wurde, nur zu, wenn sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich geändert haben (vgl. hierzu im Einzelnen das Urteil des Senats vom heutigen Tage in der Sache BVerwG 9 C 12.00). Ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Berufungsgericht auf der Grundlage von den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) eine erhebliche Änderung der maßgeblichen Verhältnisse insbesondere im Hinblick darauf verneint, dass der Kläger im Nordirak vor politischer Verfolgung sicher ist. Die Revisionen haben gegen diese Feststellungen keine Einwände erhoben. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG scheidet daher als Rechtsgrundlage für den erfolgten Widerruf aus.
[15] Der vom Bundesamt vorgenommene Widerruf der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG kann auch nicht auf die Aufhebungsbestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts in den §§ 48 und 49 VwVfG gestützt oder in eine darauf beruhende Aufhebungsentscheidung umgedeutet werden (§ 47 VwVfG; zur ergänzenden Anwendbarkeit des § 48 VwVfG im Asylverfahren vgl. nochmals das Urteil des Senats in der Sache BVerwG 9 C 12.00). Denn hierfür fehlt es jedenfalls an der sowohl für den Widerruf nach § 49 VwVfG als auch für die Rücknahme gemäß § 48 VwVfG gebotenen Ermessensausübung des Bundesamts (vgl. § 47 Abs. 3 VwVfG).
[16] Die Kostenentscheidung beruht, soweit sie den übereinstimmend für erledigt erklärten Teil des Verfahrens über die Feststellung zu § 53 AuslG betrifft, auf § 161 Abs. 2 VwGO und im Übrigen auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.