Bundesverwaltungsgericht
Straßenverkehrsrecht
Anlieger; Anliegerverkehr; Schutz von Anliegern vor Verkehrslärm; Straßenverkehrslärm, Schutz von Anliegern vor –; Zone von Anliegerstraßen; Netz von Anliegerstraßen; Kette von Anliegerstraßen; Ermessen der Straßenverkehrsbehörde beim Einschreiten zugunsten von Anliegern; Lärmvorbelastung; "Autofreie Orte"; Zusatzschild "Anlieger frei"; Anwohner; Hinweisschilder; Richtzeichen (im Sinne des § 39 Abs. 2 Satz 1 StVO)
StVO § 39 Abs. 2 Satz 1, § 41 Abs. 2 Nr. 6, § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3
Die für eine bestimmte Straße zutreffende Eigenschaft eines Verkehrsteilnehmers als straßenverkehrsrechtlicher Anlieger vermittelt ihm einen Anliegerstatus nicht für andere Straßen, die von ihm durchfahren werden können oder müssen, um über weitere Straßen seine Anliegerstraße zu erreichen.
Es bleibt offen, ob zum Anliegerbereich einer Straße unmittelbar angrenzende oder einmündende Straßen zu rechnen sind.

BVerwG, Urteil vom 15. 2. 2000 – 3 C 14.99; BayVGH; VG Augsburg (lexetius.com/2000,537)

[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 15. Februar 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Driehaus sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Borgs – Maciejewski, Kimmel und Dr. Brunn ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
[2] Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. November 1998 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
[3] Gründe: I. Die Kläger sind Anlieger der Alpgaustraße und der Straße Am Bannholz im bayerischen Kurort O. Sie begehren die Verpflichtung der Straßenverkehrsbehörde des Beklagten zur Bescheidung ihrer Anträge, zum Schutz namentlich vor Verkehrslärm geeignete straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen. Im allgemeinen örtlichen Sprachgebrauch, den auch der Beklagte teilt, bilden die beiden Straßen zusammen mit weiteren die sogenannte "kleine Ostumgehung". Beginnend an der Einmündung der Zubringerstraße für den von außerorts kommenden Verkehr (Sonthofener Straße) führt diese zum Ortskern, wo sich Anziehungspunkte für touristischen Verkehr befinden, namentlich die "Nebelhornbahn" ihren Ausgang nimmt.
[4] In den Jahren 1991/1992 ist ein grundlegend neues Verkehrskonzept für das am Rande des überörtlichen Straßennetzes gelegene O. ("Autofreies O.") beschlossen und umgesetzt worden. Dabei wurde vor allem die Nebelhornstraße für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt, welche früher die Hauptlast des zum Ortsinnern strebenden Verkehrs zu tragen hatte; des weiteren wurden Auffangparkplätze am Ortsrand geschaffen, von welchen aus die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angeboten wird; ferner wurde das innerörtliche Parkplatzangebot reduziert; schließlich wurden an sämtlichen Zufahrtsstraßen in den Ort Verkehrszeichen 260 mit Zusatz "Anlieger frei" aufgestellt, um den gesamten Ortsbereich als "Anliegerbereich" auszuweisen. Zugleich wurden Hinweisschilder auf innerorts gelegene Parkplätze sowie touristische Attraktionen wie die Nebelhornbahn am Beginn der "Ostumgehung" angebracht.
[5] Mit der Behauptung, nahezu der gesamte Verkehr, der früher die Nebelhornstraße benutzt habe, verlaufe nunmehr in für sie unzumutbarer Weise über die "Ostumgehung", beanspruchten die Kläger ein Einschreiten zu ihren Gunsten. Antrag und Klage blieben ohne Bescheidung bzw. erfolglos; das Verwaltungsgericht hat die mit der Klage verfolgten Einzelbegehren teils als unzulässig, teils als unbegründet beurteilt; insbesondere hat es einen Anspruch auf straßenverkehrsbehördliches Einschreiten wegen Reduzierung des Ermessens auf Null verneint.
[6] Der Verwaltungsgerichtshof hat die auf Bescheidung gerichteten Klagen als unbegründet beurteilt und die Berufungen zurückgewiesen. Zwar habe der Beklagte die auf § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO gestützten Anträge noch nicht beschieden, weswegen zulässigerweise ein Bescheidungsbegehren im Wege einer Untätigkeitsklage verfolgt werden dürfe. Die zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vorzufindende Sach- und Rechtslage rechtfertige indessen nicht die Beurteilung, daß die geltend gemachte Lärmbelastung die Grenze der Zumutbarkeit überschritten habe bzw. überschreite: Weil die Kläger ein Einschreiten hinsichtlich eines gesamten Straßenzuges beanspruchten, sei dieser in bezug auf die Ermittlung der gebietsbezogenen Schutzwürdigkeit insgesamt in den Blick zu nehmen; die tatsächlichen Umstände führten insoweit zu der Beurteilung als Mischgebiet. Auf der Grundlage von Verkehrszählungen und einzelnen Lärmmessungen bzw. -berechnungen sei es möglich, die Lärmvorbelastung der klägerischen Anwesen in eine Beziehung zu den heutigen Belastungen zu setzen. Dabei ergebe sich, daß schon vor der Umsetzung des neuen Verkehrskonzepts die in Rede stehenden Straßen in einem sich nur geringfügig vom heutigen unterscheidenden Ausmaß genutzt worden seien; selbst wenn dies anders gewesen sein sollte, sei die gegenwärtige Lärmbelästigung den Klägern noch zumutbar. Freilich sei die Grenze der zumutbaren Lärmbelastung nicht durch auf Rechtsetzung beruhende Grenzwerte festgelegt. Gleichwohl könnten die Immissionsgrenzwerte des § 2 der 16. BImSchV auch hier als Orientierungspunkte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze herangezogen werden; diese Werte überschritten die gegebene Belastung nicht. Was die Grundstücke der Kläger zu 1 und 2 anlange, sei der für Mischgebiete maßgebliche Tagesgrenzwert von 64 dB (A) einschlägig. Dieser sei nicht erreicht. Das folge aus einer Abschätzung der Lärmbelastung der Kläger auf der Grundlage von früheren Lärmmessungen, im Jahre 1998 durchgeführten Verkehrszählungen und Sachverständigenberechnungen in Verbindung mit gerichtsbekannten Grundregeln der Lärmphysik. Entsprechendes gelte für den Kläger zu 3, selbst wenn man zu dessen Gunsten von einem für Wohngebiete geltenden Grenzwert von 59 dB (A) ausgehe.
[7] Mit der auf Verpflichtung des Beklagten zur Bescheidung, hilfsweise auf Zurückverweisung zielenden Revision rügen die Kläger vor allem eine fehlerhafte gerichtliche Nachprüfung der gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zu treffenden Ermessensentscheidung. Unter Wiederholung und Vertiefung des bisherigen Vorbringens weist die Revision auf den ihres Erachtens unhaltbaren Zustand hin, daß die Kläger nach der Umsetzung der von ihnen im Ansatz begrüßten neuen Verkehrskonzeption schlechter als jemals zuvor dastünden, was ihre Belastung vornehmlich durch den von ihnen täglich und insbesondere an den Hauptbelastungstagen des touristischen Winterverkehrs hinzunehmenden Verkehrslärm angehe. Der Beklagte habe es bereits nicht dulden und noch weniger (durch entsprechende Hinweisschilder) fördern dürfen, daß zwar auf der einen Seite dem allgemeinen Verkehrskonzept entsprechend in den früheren Hauptgeschäfts- und Zufahrtsstraßen eine Verkehrsberuhigung, aber auf der anderen Seite in den äußeren Gemeindebezirken und gerade in den von den Klägern bewohnten Straßen eine geradezu dramatische Verkehrsmehrbelastung (mit bis zu 10 000 Fahrzeugen pro Tag, wobei ein erheblicher Teil auf Lastkraftwagen sowie Reisebusse und Wohnmobile entfalle) eingetreten sei. Die Straßenverkehrsbehörde sei entsprechenden substantiierten Hinweisen der Kläger nicht nachgegangen und habe sich insbesondere keine zureichende tatsächliche Grundlage in Form von ordnungsgemäßen Verkehrszählungen sowie Lärmmessungen und -berechnungen verschafft, wodurch sich ihre Entscheidung, nicht zum Schutz der Kläger einzuschreiten, bereits als unheilbar ermessensfehlerhaft erweise.
[8] Diesen Fehler habe das Berufungsgericht von anderem, wie beispielsweise der unzutreffenden Einordnung der von den Klägern bewohnten Gebiete als Mischgebiete und dem Übergehen des Umstands, daß auch sie in einem Kurgebiet lägen, abgesehen fortgesetzt und vertieft. Es sei auf der Grundlage unzureichender, nicht dem technischen und rechtlichen Mindeststandard entsprechender tatsächlicher Ermittlungen zu unhaltbaren Belastungsschätzungen gelangt, die mit der tatsächlichen Belastung der Kläger nichts gemein hätten; dadurch werde auch die rechtliche Beurteilung der Belastungen als zumutbar unhaltbar.
[9] Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die "Ostumgehung" sei schon seit den siebziger Jahren durch straßenbauliche Maßnahmen in einen Zustand versetzt worden, der eine zahlenmäßig verstärkte Verkehrsanfahrt in das Ortsinnere und insbesondere zu den touristischen Anziehungspunkten erlaubt habe; dadurch sei bereits damals die Nebelhornstraße entlastet worden. Diese Vorbelastung der Kläger sei entgegen deren Vorbringen nicht maßgeblich durch das neue Verkehrskonzept erhöht worden. Dessen Hauptziel sei das Abfangen des Tagesausflugsverkehrs vor dem Ort und die Duldung von Kraftfahrzeugen im Ort nur dann, wenn dies unbedingt erforderlich sei. Die Umsetzung dieses Konzepts sei gelungen. Hierbei sei insbesondere zu verweisen auf die Sperrung des gesamten Ortsbereichs für Busse ausgenommen seien freilich u. a. diejenigen, die in Richtung Eislaufzentrum und Nebelhornbahn führen und für alle Kraftfahrzeuge mit Ausnahme von Anliegern, um ein reines Durchfahren des Ortes zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund entsprächen die vom Berufungsgericht ermittelten und zugrunde gelegten Tatsachen der Realität; deswegen seien auch die rechtlichen Bewertungen nicht zu beanstanden.
[10] Soweit die Revision behaupte, es sei widersprüchlich, am Beginn der "Ostumgehung" zum einen zwar nur Anliegern die Einfahrt zu gestatten, zum anderen aber auf touristische Anziehungspunkte im Ortsinneren hinzuweisen, treffe dieser Vorwurf nicht zu; namentlich werde durch die Richtungswegweiser niemand gezwungen, ihnen zu folgen. Die gesamte Beschilderung sei vielmehr aus sich heraus verständlich und widerspruchsfrei. Verkehrsteilnehmer, die nicht die am Ortsrand gelegenen Parkplätze in Anspruch nähmen, sollten als Anlieger in die den Beginn der "Ostumgehung" bildende Alpgaustraße und alsdann auch in Richtung Nebelhornbahn und Eissportzentrum einfahren dürfen. Solche Verkehrsteilnehmer erfüllten auch den Anliegerbegriff; schließlich müßten die innerorts gelegenen Grundstücke und insbesondere die Nebelhornbahn bzw. die Sporteinrichtungen in irgendeiner Art und Weise noch erreichbar sein. Im übrigen übersehe die Revision, daß sich die Lage der Kläger keineswegs verbessere, wenn man sich das durch den Anliegervorbehalt durchbrochene Einfahrtverbot als widersprüchlich und damit nichtig hinwegdenke. Aus rechtlichen wie wirtschaftlichen Gründen komme es nämlich keinesfalls in Betracht, Hauptanziehungspunkte wie die Nebelhornbahn und die Sporteinrichtungen von jeglichem Verkehr abzuschneiden.
[11] Der Oberbundesanwalt hegt erhebliche Bedenken gegen das Anliegerkonzept des Beklagten. Der Sache nach sei eine unzulässige Anliegerzonenanordnung erfolgt. Jedenfalls lasse sich mit einem Verkehrsverbot mit Anliegerprivileg nicht vereinbaren darauf hinzuwirken, daß eine Vielzahl einzelner Fahrzeugbewegungen zu einem Strom zusammengefaßt wird, um ein bestimmtes Ziel über eine solche Anliegerstraße zu erreichen. Gleichwohl habe das Berufungsgericht die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit der Kläger zutreffend berücksichtigt und auch die Vorbelastung umfassend gewürdigt. Auch wenn nicht klar sei, welche Beurteilungs- und Meßmethode angewandt worden sei, sei die die Kläger betreffende Lärmerhöhung objektiv nicht erheblich. Zudem sei von ihnen keine außergewöhnliche Lärmcharakteristik, die als subjektiv besonders störend empfunden werden müsse, vorgetragen worden.
[12] II. Die Revision der Kläger ist begründet. Bundesrecht im Sinne des § 137 Abs. 1 VwGO verletzt die entscheidungstragende Annahme des Berufungsgerichts, die Kläger könnten deswegen nicht gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO die Bescheidung ihrer Anträge verlangen, zu ihren Gunsten geeignete verkehrsbeschränkende Maßnahmen im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zu ergreifen, weil ihnen die Hinnahme des bestehenden Zustandes rechtlich zumutbar sei.
[13] Sie genügt nicht den vom Berufungsgericht herangezogenen, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Maßstäben zum Umfang des von § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zu gewährenden Schutzes von Anliegern vor Straßenverkehrslärm. Namentlich ist das Berufungsgericht nicht dem sich aufdrängenden Verdacht nachgegangen, ein Großteil des die Kläger beeinträchtigenden Verkehrs könnte schon ungeachtet der dadurch hervorgerufenen konkreten Beeinträchtigungen rechtswidrig sein; hierbei handelt es sich nämlich allem Anschein nach ganz überwiegend nicht um sogenannten "Anliegerverkehr", und deshalb spielt er sich gerade auf den Straßen, an denen die Kläger anliegen, nicht im Einklang mit der von der Straßenverkehrsbehörde dort mit Hilfe der angeordneten Beschilderung rechtlich verbindlich gestalteten Straßenverkehrsrechtslage ab (1.).
[14] Mithin ist nicht darüber zu befinden, ob die Herangehensweise des Berufungsgerichts unter der Voraussetzung zu billigen wäre, daß der die Kläger belastende Verkehr als solcher rechtmäßig, weil im Einklang mit Straßen- und Straßenverkehrsrecht befindlich, abläuft.
[15] Weil die vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen aber keine zuverlässige Einschätzung der Anteile von erlaubtem Anliegerverkehr und unerlaubtem Nichtanliegerverkehr ermöglichen und hiervon das "Ob" und "Wie" der straßenverkehrsbehördlichen Maßnahmen abhängen, kann der erkennende Senat kein Bescheidungsurteil erlassen, so daß die Zurückverweisung zur weiteren Aufklärung dem Sach- und Streitstand entspricht (2.).
[16] 1. Die Vorschrift des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO ermöglicht den Straßenverkehrsbehörden, die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen zu beschränken oder zu verbieten und den Verkehr umzuleiten (vgl. zu ihr zuletzt Urteil vom 15. April 1999 BVerwG 3 C 25.98 BVerwGE 109, 29 [32 ff.] m. w. N.).
[17] Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ermöglicht und gewährt sie Schutz vor Verkehrslärm nicht erst dann, wenn dieser einen bestimmten Schallpegel überschreitet; es genügt vielmehr, daß der Lärm Beeinträchtigungen mit sich bringt, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muß. Bei der Prüfung, welcher Verkehrslärmschutz im Einzelfall rechtlich zulässig und geboten ist, ist auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit sowie auf das Vorhandensein bzw. Fehlen einer bereits gegebenen Lärmvorbelastung abzustellen. Maßgeblich sind auch andere Besonderheiten des Einzelfalles; als eine solche Besonderheit ist es im Urteil vom 4. Juni 1986 BVerwG 7 C 76.84 (BVerwGE 74, 234 [239]) beurteilt worden, daß eine Ortserschließungsstraße entgegen ihrer eigentlichen Funktion zunehmend vom überörtlichen Verkehr als sogenannter Schleichweg in Anspruch genommen wurde und damit Lärmbelästigungen ausgelöst worden sind, die von den Anliegern reiner Wohnstraßen üblicherweise nicht hingenommen werden müssen.
[18] Die den Streitfall prägende Besonderheit steht der vorbezeichneten hinsichtlich ihrer Berücksichtigungsbedürftigkeit zumindest nicht nach. Dies ergibt sich aus folgendem:
[19] a) Erkennbar ist mit der im Jahre 1991 grundlegend beschlossenen und im Jahre 1992 begonnenen sowie im wesentlichen abgeschlossenen Neukonzeption der straßenverkehrlichen Verhältnisse im Kurort O. (Pilotprojekt "Autofreies O."; vgl. hierzu auch: Interessengemeinschaft für autofreie Kur- und Fremdenverkehrsorte in Bayern e. V., Autofreie Kur- und Fremdenverkehrsorte in Bayern, S. 98 ff.) im hier interessierenden Kern bezweckt worden, möglichst jeglichen Autoverkehr aus O. fernzuhalten, soweit er nicht von Einwohnern, Besuchern und Lieferanten von Einwohnern, ansässigen Geschäftsleuten und solchen Besuchern verursacht wird, welche mit Fahrzeugen die im Ortsinneren liegenden touristischen Hauptanziehungspunkte, namentlich die "Nebelhornbahn", aufsuchen wollen. Nur so läßt es sich nämlich deuten, daß zum einen, wie im Tatbestand des angefochtenen Urteils festgestellt worden ist, an sämtlichen Zufahrtsstraßen in den Ort Verkehrszeichen 260 mit dem Zusatz "Anlieger frei" aufgestellt worden sind, um den gesamten Ortsbereich als sogenannten "Anliegerbereich" auszuweisen, und zum anderen gerade am Beginn der Alpgaustraße und damit dem der "Ostumgehung" zwar einerseits Hinweise auf die am Ortsrand errichteten Auffangparkplätze, aber andererseits auch solche auf die im Ortsinnern gelegenen und zur Nebelhornbahn bzw. zum Eissportzentrum zu rechnenden Parkplätze installiert worden sind, wie die Kläger unwidersprochen vortragen. Wie dem Revisionsvortrag des Beklagten zu entnehmen ist, haben die für die entsprechende Entscheidung Verantwortlichen offenbar angenommen, es sei zumindest nicht ratsam, jeglichen touristischen Verkehr mit Kraftfahrzeugen aus dem Ortsinnern fernzuhalten. Noch mehr verstand sich offensichtlich nach dem Konzept des "Anliegerbereichs" von selbst, daß sämtliche Gemeindeeinwohner nicht am Befahren des Ortsinnern gehindert sein sollten.
[20] Nach dem Sach- und Streitstand des Verfahrens ist dem Bundesverwaltungsgericht keine Prüfung und Beurteilung abverlangt, ob dieses Konzept für sich gesehen sinnvoll ist und mit rechtlich zulässigen Mitteln verwirklicht werden könnte. Aus den nachstehenden Darlegungen ergibt sich allerdings, daß es mit den konkret getroffenen straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen nicht in rechtlich zulässiger Weise verwirklicht worden ist.
[21] b) Auszugehen ist hierbei von der gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellung, daß der Beginn der "Ostumgehung", nämlich die Einmündung der Alpgaustraße an der die Kläger zu 1 und 2 mit ihren Grundstücken anliegen in die Sonthofener Straße, von welcher sich der von außerorts kommende Verkehr dem Ortskern nähert, mit dem Verkehrszeichen 260 (Verbot für Krafträder, auch mit Beiwagen, Kleinräder und Mofas sowie für Kraftwagen und sonstige mehrspurige Kraftfahrzeuge) im Sinne von § 41 Abs. 2 Nr. 6 StVO versehen ist, freilich verbunden mit dem Zusatzschild "Anlieger frei" (vgl. den Anhang zu § 39 StVO, Katalog der Verkehrszeichen, Teil 8 Zusatzzeichen, Zusatzzeichen 1020/30). Entsprechendes gilt nach dem Inhalt der vom Verwaltungsgerichtshof verwerteten Akten offenbar auch für andere Straßen bzw. von Teilen derselben, die die "Ostumgehung" bilden, insbesondere auch für die Straße, an der der Kläger zu 3 mit seinem Grundstück anliegt. Damit ist jeglicher Kraftfahrzeugverkehr auf diesen Straßen verboten, es sei denn, es handele sich um Anliegerverkehr.
[22] aa) Das Straßenverkehrsrecht definiert den Anlieger ebensowenig im übrigen wie den Anwohner (vgl. hierzu Urteil vom 28. Mai 1998 BVerwG 3 C 11.97 Buchholz 442. 151 § 45 StVO Nr. 37) nicht (vgl. BGH, Beschluß vom 9. Juli 1965 4 StR 191/65 BGHSt 20, 242 [243]; BayObLG, Beschluß vom 8. Oktober 1980 2 Ob OWi 327/80 VRS 60 [1981], 152; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 5. Mai 1989 1 Ss 73/89 NJW 1989, 2483 f.). Der erkennende Senat teilt die in den vorgenannten Entscheidungen ausdrücklich oder sinngemäß vertretene Auffassung, daß insoweit maßgeblich der allgemeine Sprachgebrauch sein muß. Von Verkehrsteilnehmern, von denen in der Regel schnelle Entscheidungen zu treffen sind und denen es nicht selten eines besonders ausgeprägten Sprachgefühls ermangelt, kann nämlich nicht verlangt werden, daß sie besonders feine sprachliche Unterscheidungen treffen, wenn sie vor der Frage stehen, ob sie eine Straße befahren dürfen oder nicht.
[23] bb) Hiernach werden ohne weiteres diejenigen Verkehrsteilnehmer vom Anliegerbegriff erfaßt, die wie die Kläger Eigentümer oder Nutzungsberechtigte eines Grundstücks sind, welches an der Straße "anliegt". Darüber hinaus bezweifelt der erkennende Senat nicht die Richtigkeit der inzwischen gefestigten Auffassung, wonach der Verkehr mit Anliegern geschützt ist (vgl. BGH, a. a. O., S. 244). Mithin sind zum Verkehr mit einem Anlieger alle Personen berechtigt, die zu ihm Beziehungen irgendwelcher Art unterhalten oder anknüpfen wollen. So wird gewährleistet, daß einem Anlieger durch das Verkehrsverbot, von dem er ohne Beschränkungen befreit sein soll, keine Nachteile entstehen.
[24] Schon schwieriger zu beurteilen ist die im Streitfall freilich nicht entscheidungserhebliche Frage, ob auch die im Abgabenrecht geläufigen "Hinterlieger" Anlieger im hier maßgeblichen Sinne sind; der Senat neigt insoweit einer bejahenden Beantwortung zu. Er schließt auch in der Tendenz anders als beachtliche Stimmen in der Rechtsprechung und im Schrifttum (vgl. Rüth u. a., Straßenverkehrsrecht, 1988, § 39 StVO Rn. 21 m. w. N.), wonach angrenzende oder einmündende Straßen nicht mehr zum Anliegerbereich gehören nicht von vornherein aus, daß solche Verkehrsteilnehmer Anlieger einer für den Verkehr gesperrten Straße sein können, welche sie befahren (müssen), um direkt (unmittelbar) zu der Straße zu gelangen, an der sie anliegen oder in welcher der Verkehr mit einem Anlieger im vorbezeichneten Sinne erfolgen soll.
[25] Eine unzulässige Aufweichung des Begriffs des Anliegers wäre indessen in der Annahme zu sehen, daß schon die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Durchfahrt einer Anliegern vorbehaltenen Straße Verkehrsteilnehmern eine hierauf bezogene Anliegereigenschaft vermittelt, soweit die Durchfahrt mit dem Zweck verbunden ist, über weitere Straßen die eigene Anliegerstraße zu erreichen (oder in einer Straße mit einem Anlieger in Verkehr zu treten). Die Anliegereigenschaft wird nämlich durch rechtliche Beziehungen zu den an den gesperrten Straßen anliegenden (bebauten oder unbebauten) Grundstücken oder den auf ihnen errichteten Anlagen bestimmt (BGH, a. a. O., S. 243). Dieser Bereich der geschützten rechtlichen Beziehungen würde verlassen, genügte gewissermaßen ein Netz bzw. eine Kette aneinander bzw. hintereinander geknüpfter Anliegerstraßen beliebiger Anzahl, um jedem Verkehrsteilnehmer, der sich in bezug auf irgendeine dieser Straßen berechtigterweise einer Anliegereigenschaft berühmt, die auf sämtliche Straßen des Netzes bzw. der Kette bezogene Anliegereigenschaft zu vermitteln. Mit anderen Worten: Selbst wenn der im Streitverfahren vom Beklagten eingenommene rechtliche Standpunkt zutreffend wäre, wonach beispielsweise Fahrer bzw. Insassen von Touristenbussen, die einen zur "Nebelhornbahn" gehörigen Parkplatz ansteuern, wegen des damit verbundenen Anliegens (Benutzung der Nebelhornbahn) Anlieger der Straße seien, an welcher der angesteuerte Parkplatz anliegt, wäre damit nicht verbunden, daß sie damit auch Anlieger der gesamten "Ostumgehung" sind; insbesondere wären sie damit im Gegensatz zu den Klägern zu 1 und 2 kein Anlieger der Alpgaustraße, mit welcher die "Ostumgehung" beginnt.
[26] c) Weil es aufgrund der örtlichen Besonderheiten auf der Hand liegt, daß ein Großteil der von den Klägern beklagten, sie beeinträchtigenden Einfahrten in das Ortsinnere nach den vorstehenden Maßstäben nicht die Voraussetzungen des Anliegerverkehrs erfüllt, hätte sich der Verwaltungsgerichtshof zunächst in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der Frage widmen müssen, ob der Straßenverkehrsbehörde rechtlich zulässige Mittel zu Gebote stehen, zumindest solche Verkehrsverstöße und den damit verbundenen Lärm zu unterbinden, zumal die Richtigkeit der klägerischen Behauptung naheliegt, daß diese bewußt oder unbewußt erfolgenden Verkehrsverstöße durch die angebrachten Hinweisschilder auf die im Ortsinnern gelegenen Parkplätze (Nebelhornbahn, Eissportzentrum) gefördert worden sind und werden. Denn nur dann, wenn sich die Straßenverkehrsbehörde dieser tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten bewußt gewesen wäre und sie deswegen diese bei der Prüfung der Möglich- und womöglich Notwendigkeit eines Einschreitens in den Blick genommen hätte, hätte sie den Ermessensrahmen in der von § 40 VwVfG sowie § 114 VwGO vorausgesetzten Weise zutreffend abgesteckt. Indem auch der Verwaltungsgerichtshof diesen Fragen keine Beachtung geschenkt hat, ist die auf einem Abwägungsdefizit beruhende, unzulässig eingeschränkte Bandbreite der konkreten behördlichen Handlungsalternativen ohne rechtliche Sanktion geblieben.
[27] d) Ist mithin die Beurteilung gerechtfertigt, die Straßenverkehrsbehörde habe es zu Unrecht tatenlos hingenommen, daß die Kläger als Anlieger an Anliegerstraßen einem Zustand ausgesetzt sind, der dem Zustand anderer örtlicher Anliegerstraßen nicht entspricht (deutlich belastender ist), sogar allem Anschein nach dazu geführt hat, daß die "Ostumgehung" den Charakter einer Hauptverkehrsstraße für nahezu den gesamten örtlichen und überörtlichen Verkehr angenommen hat, so ist die Vorgehensweise des Verwaltungsgerichtshofs auch nicht deswegen einwandfrei, weil er die Lärmwerte auf der "Ostumgehung" vor und nach 1991/1992 verglichen und der Sache nach angenommen hat, daß diese sich nicht maßgeblich verschlechtert hätten:
[28] Weil nach den vorstehenden Darlegungen die in Rede stehenden Straßen nunmehr im Gegensatz zum früheren Rechtszustand für den Kraftfahrzeugverkehr grundsätzlich gesperrte Straßen sind, ist nicht auszuschließen, daß die Kläger einen Kraftfahrzeugverkehr nicht hinnehmen müssen, welcher lediglich zu einer Lärmbelastung führt, die mit der durch den vor 1991/1992 dort verlaufenden, für sich gesehen rechtmäßigen Verkehr hervorgerufenen vergleichbar ist oder diese sogar unterschreitet, soweit nämlich die heutige Lärmbelastung etwa im Unterschied zu anderen Anliegerstraßen im Ortsbereich zu einem maßgeblichen Anteil auf straßenverkehrsrechtlich unberechtigtem Verkehr beruht. Mit anderen Worten wäre der rechtliche Ansatz des Verwaltungsgerichtshofs allenfalls dann zu billigen, wenn es sich bei dem zu beurteilenden Verkehr um solchen handelte, der die "Ostumgehung" ungeachtet der hervorgerufenen Lärmbeeinträchtigungen straßenverkehrsrechtlich rechtmäßig nimmt.
[29] 2. Die vom Verwaltungsgerichtshof bindend festgestellten Tatsachen (§ 137 Abs. 2 VwGO) rechtfertigen eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats weder im Sinne einer Klagestattgabe noch einer Klageabweisung. Denn es ist noch nicht einmal derjenige Anteil am Gesamtverkehr zuverlässig abzuschätzen, der sich nach den vorstehenden Maßstäben unrechtmäßig abspielt. Zwar spricht nach den vorstehenden Darlegungen einiges dafür, daß die Straßenverkehrsbehörde kaum umhin können wird, die vom Berufungsgericht weder tatsächlich noch rechtlich beurteilten Hinweisschilder auf die innerorts gelegenen Parkplätze zu entfernen. Bei ihnen dürfte es sich um Richtzeichen im Sinne des § 39 Abs. 2 Satz 1 StVO in Form des Zeichens 432 handeln, welche zu innerörtlichen Zielen und zu Einrichtungen mit erheblicher Verkehrsbedeutung hinweisen. Vor diesem vorausgesetzten Hintergrund teilt der erkennende Senat die vom Oberbundesanwalt vertretene Auffassung, daß solche Zeichen sich widerspruchsfrei in die verkehrsrechtliche Lage einfügen müssen, die die Örtlichkeit prägt, und daß es dem Zweck der mit der Klassifizierung einer Straße als Anliegerstraße beabsichtigten Reduzierung des Verkehrs widerspricht, wenn durch solche Hinweiszeichen zusätzlicher Verkehr in erheblichem Umfang in Anliegerstraßen gelenkt wird. Auch wenn jedoch hiernach eine Reduzierung des straßenverkehrsbehördlichen Ermessens auf Null anzunehmen sein sollte, bliebe es ordnungsgemäßer Ermessensbetätigung der Straßenverkehrsbehörde vorbehalten, darüber zu befinden, ob es damit sein Bewenden haben kann oder andere geeignete Maßnahmen zum Schutz der Anlieger in Betracht zu ziehen sind.
[30] Inwieweit gemäß § 114 Satz 2 VwGO die Straßenverkehrsbehörde in das nunmehr durchzuführende tatsachengerichtliche Verfahren Ermessenserwägungen einführen kann, muß als für das Revisionsverfahren entscheidungsunerheblich ebenso offenbleiben wie die Frage, ob es zulässig wäre, wenn die Behörde die Anliegerstraßeneigenschaft von die "Ostumgehung" bildenden Straßen zurücknähme bzw. widerriefe.