Bundesarbeitsgericht
Kündigung wegen Betriebsstilllegung – Anhörung des Betriebsrats
Wenn eine Sozialauswahl nach der für den Betriebsrat erkennbaren Auffassung des Arbeitgebers wegen der Stilllegung des gesamten Betriebes nicht vorzunehmen ist, braucht der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht nach § 102 BetrVG über Familienstand und Unterhaltspflichten der zu kündigenden Arbeitnehmer unterrichten (Teilweise Aufgabe von BAG 16. September 1993 – 2 AZR 267/93 – BAGE 74, 185).
BAG, Urteil vom 13. 5. 2004 – 2 AZR 329/03 (lexetius.com/2004,2027)
[1] Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 26. März 2003 – 5 Sa 8/03 – wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
[2] Tatbestand: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung des Beklagten.
[3] Die Klägerin trat im Jahre 1993 als Verkäuferin in die Dienste der B KG (i. f.: KG), die ein Kaufhaus betrieb. Rechtsnachfolgerin der KG war die B GmbH (i. f.: Schuldnerin).
[4] Am 23. April 2002 stellte die Schuldnerin Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Der Beklagte wurde zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt.
[5] Mit Schreiben vom 10. Mai 2002, das der Beklagte genehmigte, teilte die Schuldnerin dem bei ihr bestehenden Betriebsrat mit, nach Abschluss eines bis Ende Juni 2002 angesetzten Räumungsverkaufs werde der Betrieb stillgelegt. Am 17. Mai 2002 schlossen die Schuldnerin – wiederum mit Genehmigung des Beklagten – und der Betriebsrat einen Interessenausgleich, in dem es heißt, es werde zu einer vollständigen Betriebsstilllegung kommen müssen. Mit Schreiben vom 13. Juni 2002 kündigte die Schuldnerin mit Genehmigung des Beklagten das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 31. Dezember 2002. Die Klägerin hat diese Kündigung nicht angegriffen.
[6] Am 1. Juli 2002 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.
[7] Unter dem 17. Juli 2002 wandte sich der Beklagte an den Betriebsrat und bat um Zustimmung zur Kündigung sämtlicher Mitarbeiter der Schuldnerin "unter Inanspruchnahme des Sonderkündigungsrechts gemäß § 113 InsO". Dem Schreiben war eine Personalliste beigefügt, auf der auch die Klägerin vermerkt war. In der Liste waren neben den Namen der zu Kündigenden jeweils das Geburtsdatum und das Datum des Eintritts ins Arbeitsverhältnis aufgeführt.
[8] Nachdem der Betriebsrat den beabsichtigten Kündigungen widersprochen hatte, kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 26. Juli 2002 das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 31. Oktober 2002.
[9] Die Klägerin hat geltend gemacht, die Kündigung sei nur vorsorglich – für den Fall der Unwirksamkeit der vorausgegangenen Kündigung – ausgesprochen worden. Die Kündigung sei sozialwidrig. Außerdem sei sie nach § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam, weil der Beklagte den Betriebsrat nicht über Familienstand und Unterhaltspflichten unterrichtet habe.
[10] Die Klägerin hat beantragt festzustellen, dass die der Klägerin vom Beklagten mit Schreiben vom 26. Juli 2002 ausgesprochene Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Oktober 2002 unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis bis zum 31. Dezember 2002 zu unveränderten Arbeitsbedingungen fortbesteht.
[11] Der Beklagte hat um Klageabweisung gebeten und ausgeführt, die Kündigung sei unbedingt ausgesprochen worden. Sie sei wegen der vollständigen Betriebsstilllegung gerechtfertigt. Eine Sozialauswahl habe nicht stattfinden müssen, weil allen Arbeitnehmern gekündigt worden sei. Deshalb habe es auch keiner Mitteilung von Sozialdaten an den Betriebsrat bedurft.
[12] Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
[13] Entscheidungsgründe: Die Revision ist unbegründet.
[14] I. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung sei nicht nur hilfsweise für den Fall der Unwirksamkeit der vorausgegangenen Kündigung ausgesprochen worden. Aus dem Kündigungsschreiben ergebe sich, dass mit ihm eine eigenständige Kündigung erklärt werde. Die Kündigung sei durch dringende betriebliche Erfordernisse sozial gerechtfertigt. Unstreitig sei der Geschäftsbetrieb eingestellt worden. Eine Sozialauswahl habe nicht stattfinden müssen, weil alle Arbeitsplätze entfallen seien. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Da die Beklagte eine soziale Auswahl erkennbar für entbehrlich gehalten habe, habe es der Mitteilung von Familienstand und Unterhaltspflichten nicht bedurft.
[15] II. Dem folgt der Senat. Die Kündigung des Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31. Oktober 2002 aufgelöst. Dem Beklagten war es trotz der vorausgegangenen Kündigung nicht verwehrt, das Arbeitsverhältnis mit der Frist des § 113 InsO erneut zu kündigen. Die Kündigung ist weder unter der Bedingung der Unwirksamkeit der vorausgegangenen Kündigung ausgesprochen worden, noch ist sie sozialwidrig nach § 1 KSchG. Der Betriebsrat ist ordnungsgemäß angehört worden.
[16] 1. Das Kündigungsrecht war bei Ausspruch der Kündigung nicht bereits "verbraucht". Der Insolvenzverwalter kann ein Arbeitsverhältnis auch dann mit der kurzen Kündigungsfrist des § 113 Abs. 1 Satz 2 InsO kündigen, wenn die Schuldnerin mit seiner Zustimmung als vorläufiger Insolvenzverwalter zuvor unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zu einem späteren Zeitpunkt gekündigt hat. Eine unzulässige "Wiederholungskündigung" oder "Nachkündigung" liegt darin nicht. Nach § 113 Abs. 1 InsO kann ein Arbeitsverhältnis vom Insolvenzverwalter stets ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung mit der kurzen Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende gekündigt werden, soweit nicht eine noch kürzere Frist maßgeblich ist. Sinn der gesetzlichen Regelung ist es, dass im Insolvenzfall alle Arbeitsverhältnisse zumindest mit der Höchstfrist von drei Monaten und damit innerhalb eines überschaubaren Zeitraums beendet werden können. Die Interessen der Arbeitnehmer sind durch den Schadensersatzanspruch des § 113 Abs. 1 Satz 3 InsO gewahrt. Dem Ziel des Gesetzes würde es zuwiderlaufen, würde man das Kündigungsrecht des § 113 Abs. 1 InsO auf die Fälle beschränken, in denen nicht bereits vor Insolvenzeröffnung vom Schuldner oder vom vorläufigen Insolvenzverwalter gekündigt worden ist. Der dadurch entstehende Druck auf den Schuldner und den vorläufigen Insolvenzverwalter, notwendige Kündigungen möglichst bis zur Insolvenzeröffnung hinauszuzögern, um nicht die Insolvenzmasse unnötig zu schmälern, ließe sich mit dem Ziel des § 113 InsO nicht vereinbaren (BAG 22. Mai 2003 – 2 AZR 255/02 – AP InsO § 113 Nr. 12 = EzA InsO § 113 Nr. 12).
[17] 2. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung sei unbedingt ausgesprochen worden und insbesondere nicht nur für den Fall der Unwirksamkeit der vorausgegangenen Kündigung, ist zutreffend. Sie wird auch von der Revision nicht beanstandet.
[18] 3. Die Kündigung ist nicht sozialwidrig. Das hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen. Die Kündigung ist durch ein dringendes betriebliches Erfordernis, nämlich die Stilllegung des Betriebs, gerechtfertigt. Das Landesarbeitsgericht ist, ohne dass die Revision dies gerügt hätte, davon ausgegangen, der Beklagte habe allen Arbeitnehmern gekündigt und einer Sozialauswahl habe es deshalb nicht bedurft. Die etwa zu einem späteren Zeitpunkt gekündigten Arbeitnehmer waren solche, die einem besonderen Kündigungsschutz unterfielen. Sie wären in eine etwaige Sozialauswahl nur dann einzubeziehen gewesen, wenn eine erforderliche Zustimmung einer Behörde vorgelegen hätte (BAG 8. August 1985 – 2 AZR 464/84 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 10 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 21; APS-Kiel § 1 KSchG Rn. 691 f.; ErfK-Ascheid 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 471, 472; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG § 1 Rn. 453, 454, alle mwN). Dass diese Voraussetzungen vorlägen, ist nicht festgestellt.
[19] 4. Die Kündigung ist entgegen der Auffassung der Revision nicht nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.
[20] a) Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat diejenigen Gründe mitteilen, die nach seiner subjektiven Sicht die Kündigung rechtfertigen und für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind. Diesen Kündigungssachverhalt muss er in der Regel unter Angabe von Tatsachen, aus denen der Kündigungsentschluss hergeleitet wird, so beschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe prüfen kann. Teilt der Arbeitgeber objektiv kündigungsrechtlich erhebliche Tatsachen dem Betriebsrat deshalb nicht mit, weil er darauf die Kündigung nicht oder zunächst nicht stützen will, dann ist die Anhörung ordnungsgemäß, weil eine nur bei objektiver Würdigung unvollständige Mitteilung der Kündigungsgründe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 BetrVG führt. Eine in diesem Sinne objektiv unvollständige Anhörung verwehrt es dem Arbeitgeber allerdings, im Kündigungsschutzprozess Gründe nachzuschieben, die über die Erläuterung des mitgeteilten Sachverhalts hinausgehen. Der Arbeitgeber kommt dagegen seiner Unterrichtungspflicht nicht nach, wenn er aus seiner Sicht dem Betriebsrat bewusst unrichtige oder unvollständige Sachdarstellungen unterbreitet (st. Rspr., vgl. zB BAG 7. November 2002 – 2 AZR 599/01 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 40 = EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 50; 8. September 1988 – 2 AZR 103/88 – BAGE 59, 295; KR-Etzel 6. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 63a).
[21] b) Von diesen Grundsätzen ist auch das Landesarbeitsgericht ausgegangen und hat angenommen, der Beklagte habe, da er für den Betriebsrat erkennbar keine Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten habe vornehmen wollen und können, Unterhaltspflichten und Familienstand nicht mitteilen müssen. Dem stimmt der Senat zu.
[22] aa) Die Revision stützt ihre Auffassung, die Sozialdaten Unterhaltspflicht und Familienstand seien dem Betriebsrat stets mitzuteilen, auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 16. September 1993 (- 2 AZR 267/93 – BAGE 74, 185). In der Tat hat der Senat dort in einem Fall, in dem der Arbeitgeber dem Betriebsrat mitgeteilt hatte, es würden "alle entlassen" die Unterrichtung über Unterhaltspflichten und Familienstand verlangt.
[23] bb) Hieran hält der Senat für Fälle, in denen eine Sozialauswahl nach der für den Betriebsrat erkennbaren Auffassung des Arbeitgebers wegen der Stilllegung des gesamten Betriebes nicht vorzunehmen ist, nicht fest. In diesen Fällen braucht der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht über Familienstand und Unterhaltspflichten nach § 102 BetrVG zu unterrichten. Diese Auffassung des Senats steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Achten Senats und dem überwiegenden Teil des Schrifttums (vgl. BAG 24. Februar 2000 – 8 AZR 167/99 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 47 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 104; KR-Etzel 6. Aufl. Rn. 62i; Stahlhacke/Preis 8. Aufl. Rn. 413; APS/Koch § 102 BetrVG Rn. 111; ErfK-Hanau/Kania 3. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 9, zT mwN; Hako-Griebeling 2. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 112; Fitting BetrVG 21. Aufl. § 102 Rn. 31; aA: KDZ-Kittner KSchR 5. Aufl. Rn. 93). Der Senat hat bereits im Urteil vom 27. September 2001 im Fall einer Änderungskündigung ausgeführt, wenn nach Auffassung des Arbeitgebers eine Sozialauswahl überhaupt nicht durchzuführen sei, brauche er dem Betriebsrat auch keine sozialen Auswahlgesichtspunkte mitzuteilen, weil diese für den Kündigungsentschluss nicht maßgeblich waren (27. September 2001 – 2 AZR 236/00 – BAGE 99, 167; vgl. auch 21. September 2000 – 2 AZR 385/99 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 111 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 107). Im gleichen Sinn hat der Senat bei einer Beendigungskündigung die Unterrichtung über soziale Auswahlgesichtspunkte für entbehrlich gehalten, weil der Arbeitgeber den gekündigten Arbeitnehmer nicht für vergleichbar mit dem Arbeitnehmer hielt, auf den sich der Kläger im Rahmen der Rüge der Sozialauswahl berief (7. November 1996 – 2 AZR 720/95 – RzK III 1b Nr. 26). Stützt der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat die Kündigungen sämtlicher Arbeitnehmer auf die beabsichtigte oder bereits vollzogene Stilllegung des Betriebes, so ist für den Betriebsrat offenkundig, dass eines Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten ausscheidet. Eine Erörterung dieser Frage mit dem Arbeitgeber scheidet ebenso aus wie die Begründung eines Widerspruchs nach § 102 Abs. 3 Satz 1 BetrVG 1972. Die Mitteilung der Sozialdaten "Unterhaltspflichten" und "Familienstand" kann damit keinem denkbaren rechtlichen Zweck mehr dienen.
[24] cc) Ob der Arbeitgeber die für die Berechnung der Kündigungsfrist maßgeblichen Daten Lebensalter und Eintrittsdatum in jedem Fall mitteilen muss, kann dahinstehen, weil der Beklagte den Betriebsrat darüber unterrichtet hat.
[25] III. Die Kosten der erfolglos gebliebenen Revision fallen der Klägerin zu Last.