Bundesverwaltungsgericht
Auslandseinsatz; Verstoß gegen einen Befehl "Urlaub nur im Lager" zu nehmen; schweres – jedoch nicht besonders schweres – Dienstvergehen; noch keine Dienstgradherabsetzung; Oberstleutnant; Auslegung der Anschuldigungsschrift.
SG § 1 Abs. 5, § 10 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 1, 2, § 17 Abs. 2 Satz 2, § 23 Abs. 1; WDO § 58 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1, § 99 Abs. 1 Satz 2, § 123 Satz 3 i. V. m. § 107 Abs. 1
Zur Maßnahmebemessung bei Vorliegen eines Dienstvergehens, das durch Nichtbefolgen eines während eines Auslandseinsatzes erteilten Befehls, Urlaub nur im Lager zu nehmen, gekennzeichnet ist.

BVerwG, Urteil vom 22. 6. 2004 – 2 WD 23.03; Truppendienstgericht Nord (lexetius.com/2004,2480)

[1] Der Soldat, ein Oberstleutnant, handelte während eines Auslandseinsatzes seiner Einheit in Afghanistan dem Befehl seines Disziplinarvorgesetzten, Urlaub nur im Lager zu nehmen, zuwider und verbrachte stattdessen seinen Urlaub in einem aus Sicherheitsaspekten als gefährlich eingestuften Umfeld in Afghanistan.
[2] Die Truppendienstkammer sprach den Soldaten von dem Vorwurf eines Dienstvergehens frei, da ihm nicht nachgewiesen werden könne, seiner damaligen Dienststelle unerlaubt ferngeblieben zu sein. Auf die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts hob der Senat das Urteil der Truppendienstkammer auf und verhängte gegen den Soldaten wegen eines Dienstvergehens ein Beförderungsverbot für die Dauer von vier Jahren und die Kürzung seiner Dienstbezüge um ein Zehntel für die Dauer von zwei Jahren.
[3] Gründe: a) Das Dienstvergehen hat erhebliches Gewicht.
[4] Die "Eigenart und Schwere" eines Dienstvergehens bestimmt sich nach dem Unrechtsgehalt der Verfehlung, mithin also nach der Bedeutung der verletzten Pflichten. Danach wiegt das Dienstvergehen schwer, weil es durch einen Verstoß gegen eine Kernpflicht, die Gehorsamspflicht (§ 11 Abs. 1 SG), gekennzeichnet ist. …
[5] Die herausgehobene Stellung des Soldaten als Stabsoffizier hätte es zudem erfordert, dass er als Vorgesetzter in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel gibt (§ 10 Abs. 1 SG). … Dies gilt insbesondere bei einem Auslandseinsatz. Die Sicherheitslage in Kabul wurde von allen vom Senat vernommenen Zeugen als gefährlich eingestuft. Gerade in Afghanistan ist es wegen der dort angespannten Sicherheitslage und der damit verbundenen Gefährdungen erforderlich, dass jeder Bundeswehrsoldat innerhalb der Grenzen des § 11 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 SG die gegebenen Befehle beachtet. Geschieht dies nicht, so kann er nicht nur sich selbst in hohem Maße in Gefahr bringen, sondern auch das gesamte Einsatzkontingent, das möglicherweise durch Zugriff auf den einzelnen Soldaten ausgeforscht und erpressbar werden kann. Darüber hinaus können unter Umständen militärische Maßnahmen zur Befreiung erforderlich werden.
[6] Auch der Verstoß gegen die Pflicht zur Wahrung von Achtung und Vertrauen wiegt vor dem Hintergrund eines Einsatzes im Ausland, wo der Soldat ständig damit rechnen muss, dass er sich in einen ihm nicht immer freundlichen Umfeld bewegt, nicht leicht. …
[7] b) Das Dienstvergehen hatte nicht unerhebliche konkrete Auswirkungen auf den Dienstbetrieb. Der Soldat musste von seinem Auslandsdienstposten abgelöst und sein Dienstposten neu besetzt werden, was gerade im Einsatzland die Truppe vor nicht unerhebliche Probleme stellt. Diese für die Personalplanung und führung nachteiligen Auswirkungen seines Dienstvergehens muss sich der Soldat zurechnen lassen (vgl. Urteil vom 2. April 2003 – BVerwG 2 WD 21.02).
[8] c) Das Maß der Schuld wird vorliegend von der vorsätzlichen Begehungsweise bestimmt. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Soldat zum Zeitpunkt des Dienstvergehens in seiner Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB eingeschränkt oder gar im Sinne des § 20 StGB schuldunfähig war, sind nicht ersichtlich.
[9] Milderungsgründe in den Umständen der Tat, die die Schuld des Soldaten mindern würden, liegen nicht vor. …
[10] d) Der Soldat handelte aus persönlich privaten Interessen. Der Beweggrund für sein Fehlverhalten lag ausschließlich in seiner privaten Interessensphäre. Soweit er vorträgt, er habe sich um den erkrankten Dolmetscher gekümmert und sich auch aus Sicherheitsgründen ein eigenes Bild von dessen Lebensverhältnissen machen wollen, ist ihm entgegenzuhalten, dass insoweit ein dienstlicher Auftrag nicht vorlag und der Soldat seine Vorgesetzten hierüber auch gar nicht informierte. Eine solche Information wäre ihm ohne weiteres möglich gewesen, da er an den in der Regel täglich stattgefundenen Dienstbesprechungen seiner Einheit teilnahm.
[11] e) … f) Bei Gesamtwürdigung aller be und entlastenden Umstände ist nach Überzeugung des Senats insbesondere im Hinblick auf die Eigenart und Schwere des Dienstvergehens, seine Auswirkungen und das Maß der Schuld das Dienstvergehen als so schwerwiegend anzusehen, dass ein Beförderungsverbot im
[12] obersten Bereich sowie zusätzlich eine Kürzung der Dienstbezüge im mittleren Bereich tat und schuldangemessen ist. In diesem Zusammenhang ist vorliegend – vor allem vor dem Hintergrund des Auslandseinsatzes, den damit verbundenen Gefahren und den Gefährdungen der Truppe sowie der Erfüllung der nicht immer leichten Aufträge, die ein intaktes soldatisches Ordnungsgefüge voraussetzen – von Folgendem auszugehen: Nach welchen Maßstäben eine tat und schuldangemessene Disziplinarmaßnahme zu verhängen ist, richtet sich nach der Zweckbestimmung der Disziplinarmaßnahme, die wiederum untrennbar mit der Funktion des Disziplinarrechts verknüpft ist. Das Wehrdisziplinarrecht ist Dienstordnungsrecht. Es sichert die Aufrechterhaltung eines geordneten Dienstbetriebes, dient somit der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung der Streitkräfte und der Verwirklichung ihres verfassungsgemäßen Auftrages (vgl. Urteil vom 5. Juni 1985 – BVerwG 2 WD 3.85). Entsprechend dem erzieherischen Charakter des Wehrdisziplinarrechts hält der Senat vorliegend die verhängten Disziplinarmaßnahmen für erforderlich, um den Soldaten an seine militärischen Pflichten zu mahnen und ihn zu künftigem pflichtgemäßen Verhalten zu erziehen.
[13] Der Senat hat in der Vergangenheit die Verletzung der Gehorsamspflicht – je nach Schwere des Verstoßes – mit einer Gehaltskürzung (Urteil vom 4. Juli 2001 – BVerwG 2 WD 52.00 -), einem Beförderungsverbot (vgl. u. a. Urteile vom 7. Juni 1988 – BVerwG 2 WD 6.88 –, vom 27. September 1989 – BVerwG 2 WD 12.89 und vom 3. August 1994 – BVerwG 2 WD 18.94 -) oder auch einer Dienstgradherabsetzung (Urteil vom 14. November 1991 – BVerwG 2 WD 12.91 -) geahndet.
[14] Im vorliegenden Fall wiegt der Verstoß gegen die Gehorsamspflicht zwar schwer, jedoch noch nicht besonders schwer (zu einem besonders schweren Fall vgl. Urteil vom 2. Juli 2003 – BVerwG 2 WD 42.02 –, wonach für die Einstufung als besonders schwer u. a. maßgeblich war, dass der Soldat einen Befehl in mehreren Punkten missachtete), sodass als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen noch keine Dienstgradherabsetzung in Betracht kam. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass angesichts der Sicherheitslage im Einsatzland und der dort bestehenden Gefahren und Risiken dem dem Soldaten erteilten – verbindlichen – Befehl eine besondere Bedeutung zukam. Der Befehl diente erkennbar sowohl dem Schutz des einzelnen Soldaten als auch dem Schutz des Kontingents und damit der Durchführung des militärischen Auftrages. Um diesen Gefahren zu begegnen, erteilte der Chef des Stabes dem Soldaten auf dem Urlaubsantrag den Befehl "Urlaub im Lager". Der Soldat hat sich insoweit noch in der Berufungshauptverhandlung wenig einsichtig gezeigt, so dass eine spürbare Disziplinarmaßnahme unerlässlich ist.
[15] Auch aus generalpräventiven Gründen hielt der Senat bei der Schwere des Dienstvergehens die Verhängung beider gerichtlicher Disziplinarmaßnahmen für geboten, um im Interesse der Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung die pflichtenmahnende Wirkung auf die Soldaten im Allgemeinen deutlich zu machen. …