Bundesgerichtshof
DRiG § 22 Abs. 1; SGB IX § 84 Abs. 1
Die Entlassung eines schwerbehinderten Richters auf Probe ist nicht allein deshalb rechtswidrig, weil die rechtzeitige Einschaltung des Integrationsamtes gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX unterblieben ist. Der Verstoß gegen § 84 Abs. 1 SGB IX ist aber bei der Ausübung des in § 22 Abs. 1 DRiG eingeräumten Ermessens zu berücksichtigen.
BGH, Urteil vom 20. 12. 2006 – RiZ (R) 2/06; Dienstgericht für Richter bei dem Landgericht Schwerin (lexetius.com/2006,3761)
[1] Der Bundesgerichtshof – Dienstgericht des Bundes – hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. Dezember 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Nobbe, die Richterin am Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic, die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Kniffka und Dr. Joeres sowie die Richterin am Bundesgerichtshof Mayen für Recht erkannt:
[2] Die Revision des Antragsgegners gegen das Urteil des Dienstgerichts für Richter bei dem Landgericht Schwerin vom 8. September 2005 wird zurückgewiesen.
[3] Der Antragsgegner hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
[4] Tatbestand: Die in H. geborene, zu 100 % schwerbehinderte (gehbehinderte) Antragstellerin bestand am 28. Januar 1997 die erste juristische Staatsprüfung mit der Note "befriedigend" und am 18. Januar 2002 die zweite juristische Staatsprüfung mit der Note "vollbefriedigend". Der Antragsgegner stellte sie mit Wirkung vom 2. April 2002 unter Berufung in das Richterverhältnis auf Probe in den höheren Justizdienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern ein und wies sie dem Präsidenten des Landgerichts Schwerin zur Dienstleistung zu.
[5] Der Präsident des Landgerichts beurteilte die Antragstellerin am 11. November 2002 aufgrund ihrer Tätigkeit bis zum 31. Oktober 2002 als für das Richteramt ungeeignet. Der Antragsgegner entließ sie daraufhin nach Anhörung am 17. Januar 2003 und Zustimmung des Präsidialrats durch Verfügung vom 13. Februar 2003 gemäß § 22 Abs. 1 DRiG mit Wirkung vom 2. April 2003 aus dem Richterverhältnis auf Probe und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an. Zur Begründung verwies er auf die dienstliche Beurteilung vom 11. November 2002. Hiergegen erhob die Antragstellerin am 12. März 2003 Widerspruch. Auf ihren Antrag stellte das Dienstgericht für Richter bei dem Landgericht Schwerin durch Beschluss vom 27. Mai 2003 die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs wieder her. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners wies der Dienstgerichtshof für Richter bei dem Oberlandesgericht Rostock durch Beschluss vom 14. Juli 2003 zurück.
[6] Durch Beschluss vom 25. Juni 2003 untersagte das Verwaltungsgericht Schwerin dem Antragsgegner gemäß § 123 Abs. 1 VwGO, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin gegen die dienstliche Beurteilung vom 11. November 2002 diese in einem Entlassungsverfahren nach § 22 Abs. 1 DRiG zu verwenden.
[7] Die Beschwerde des Antragsgegners gegen diesen Beschluss wies das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern am 9. Oktober 2003 zurück. Der Präsident des Oberlandesgerichts Rostock hob die Beurteilung des Präsidenten des Landgerichts vom 11. November 2002 auf den Widerspruch der Antragstellerin am 20. November 2003 auf.
[8] Der Präsident des Landgerichts erteilte nach einem Beurteilungsvorgespräch der Antragstellerin am 18. Dezember 2003 eine neue dienstliche Beurteilung ihrer Tätigkeit vom 2. April bis zum 31. Oktober 2002. Danach entsprechen Urteilsvermögen und Entschlusskraft der Richterin, die Arbeitsplanung am eigenen Arbeitsplatz, die Belastbarkeit sowie die Arbeitszuverlässigkeit und Arbeitshaltung nicht den Anforderungen. Kooperation auf fachlicher Ebene, Führungsverhalten und Kooperation entsprechen den Anforderungen weniger. Fachkenntnisse, Auffassungsgabe, Denkvermögen, Verhandlungsgeschick, Behauptungsvermögen und schriftliches Ausdrucksvermögen entsprechen den Anforderungen. Das mündliche Ausdrucksvermögen übertrifft die Anforderungen. Ferner wird in der dienstlichen Beurteilung vom 18. Dezember 2003 ausgeführt:
"Mit Wirkung vom 2. April 2002 ist sie als Richterin auf Probe in den höheren Justizdienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingestellt worden und seitdem in erstinstanzlichen Zivilkammern des Landgerichts Schwerin eingesetzt.
Bereits nach wenigen Tagen Tätigkeit in der Zivilkammer 4 (02. 04.-09. 04. 2002, bis 15. 05. nur noch mit einem geringen Teil der Arbeitskraft) musste sie wegen einer unvorhergesehenen Vakanz in die Zivilkammer 7 wechseln, die bis einschließlich Mai 2002 im Rahmen des Projektes S. P. R. U. N. G. von Neueingängen entlastet war. Die Richterin hat zum 10. April 2002 in der Zivilkammer 7 ein Dezernat mit einem Bestand an lediglich knapp über 50 offenen Verfahren übernommen. Die Richterin hatte und hat erkennbare Probleme, ihr Dezernat hinreichend in den Griff zu bekommen. Dabei hat der Kammervorsitzende von Anfang an versucht, ihr – wie bei jungen Proberichtern hier üblich – Hilfestellung bei der Arbeitsplanung und -organisation zu geben.
Soweit ich das auf einer bislang äußerst schmalen Beurteilungsbasis einschätzen kann, verfügt die Richterin wohl durchaus über eine den Anforderungen entsprechende Auffassungsgabe, die sie in die Lage versetzt, sich auch in komplexere Sachverhalte einzuarbeiten. Sie hat wohl auch gut durchschnittliche Kenntnisse des materiellen und prozessualen Zivilrechts.
Die Beurteilungsgrundlage ist deswegen besonders schmal, weil die Richterin in ihrer Tätigkeit in der Zivilkammer 4 nur ein, in der Zivilkammer 7 auch nur ein Urteil (nach mündlicher Verhandlung am 09. 07. 2002 Verkündung am 18. 10. 2002) abgesetzt hat. Die auch ansonsten auffallend niedrigen Erledigungen beruhen nach meiner derzeitigen Einschätzung jedenfalls auch in einem Mangel an Urteilsvermögen, Entschlusskraft und Belastbarkeit der Richterin.
In der beobachteten mündlichen Verhandlung war Frau Richterin P. gut vorbereitet. Sie wirkte durchaus sicher und vermittelte den Eindruck, 'das Heft in der Hand' zu haben.
Kurzfristige Terminsverlegungen und verzögerliche Vorbereitungen von Kammersachen deuten auf mangelnde Termintreue und eine wenig effiziente Arbeitsplanung hin.
Die Erledigungen der Menge nach (vom 10. April 2002 bis 31. Oktober 2002 gesamt knapp über 40 Erledigungen, davon zwei Urteile der Dezernatsvorgängerin) kommen deutlich nicht an die Anforderungen heran, ohne dass ich dies auf Besonderheiten des Dezernats der Richterin – die im Kammer- und Gerichtsvergleich ein eher weniger belastetes Dezernat zu bearbeiten hatte – zurückführen kann. Der Anfangsbestand ihres Dezernats (knapp über 50) ist bei etwas über 90 Eingängen (einschließlich etwa 40 interner Abgaben in das Dezernat im April) bis Ende Oktober 2002 auf etwa 100 Sachen angewachsen. Bereits seit langem anhängige Verfahren fördert sie nicht hinreichend zügig.
Die Richterin tritt auch im Kollegenkreis, obgleich noch wenig berufserfahren, besonders selbstbewusst auf. Zu einem offenen und vertrauensvollen Verhältnis als Grundlage für ein in jeder Hinsicht gedeihliches Zusammenarbeiten in der Kammer und mit der Geschäftsstelle (Serviceeinheit) hat sie noch nicht gefunden. Das besonders häufige Verlangen, Verfügungen sehr kurzfristig abzuarbeiten, zeugen von fehlendem Bedacht auf die Belange Anderer bei der eigenen Arbeitsgestaltung und führte zu Spannungen. Ihre Bereitschaft, Defizite unter Annahme der kollegialen Hilfe aus der Kammer auszugleichen, ist wenig ausgeprägt. In Kammerberatungen ist die Richterin regelmäßig auf eine bestimmte Rechtsansicht festgelegt und vertritt diese – weniger offen gegenüber abweichenden Meinungen – besonders nachdrücklich. Abweichend beschlossene Auffassungen setzt sie dann aber um. Die fachliche Zusammenarbeit in der Kammer beschränkt die Richterin auf das unabdingbare Maß.
In einem Einzelfall habe ich die Richterin in einer arbeitsrechtlichen Frage konsultiert. Während ihrer Referendarzeit hatte die Richterin einen Lehrgang als Fachanwalt für Arbeitsrecht absolviert. Diesem Arbeitsgebiet gehört erklärtermaßen ihr besonderes Interesse.
Die Richterin ist gehbehindert. Die Behinderung ist – jedenfalls für den Laien, auch für die Vertreterin des Integrationsamtes – nicht ohne weiteres erkennbar. Die Frage nach eventuellen verhinderungsbedingten Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit hat die Richterin anlässlich ihres Dienstantritts bei mir verneint.
Nach möglichen Hilfestellungen zum Ausgleich der Behinderung wurde die Richterin bei Dienstantritt befragt, sie sind im Rahmen des hier Möglichen gewährt worden (z. B. Parkplatz im Hof, Dienstzimmer in räumlicher Nähe zur Geschäftsstelle und den übrigen Kammermitgliedern, Zu- und Abtrag von Akten). Weitere Wünsche hat sie im Beurteilungszeitraum nicht an mich herangetragen. Für mich war auch sonst nicht erkennbar, dass ich ihr weitere angemessene Erleichterungen und/oder Arbeitshilfen hätte gewähren können.
Richterin P. entsprach im Beurteilungszeitraum in mehreren Beurteilungseinzelmerkmalen, die nicht ihre Eignung, Befähigung und fachliche Leistung in quantitativer Hinsicht betreffen, den Anforderungen weniger oder nicht. Schon einzeln, jedenfalls zusammengenommen lassen diese Defizite die Richterin als nicht geeignet für ein Richteramt erscheinen. Sie werden bei zusammenfassender Bewertung auch nicht dadurch ausgeglichen, dass die Richterin in anderen Beurteilungseinzelmerkmalen den Anforderungen entsprach oder diese sogar übertraf.
Die den hiesigen Anforderungen im Beurteilungszeitraum nicht gerecht werdenden Leistungen in quantitativer Hinsicht führe ich teilweise auch auf eine den Anforderungen weniger entsprechende Arbeitshaltung zurück. Einen erheblichen Einfluss der Behinderung auf die gezeigten Leistungen in quantitativer Hinsicht vermag ich nicht zu erkennen. Ein solcher Einfluss ist mir auch weder von der Richterin selbst, noch vom Richterrat oder vom Integrationsamt nachvollziehbar aufgezeigt worden.
Im Quervergleich – auch zu anderen Richtern auf Probe – beurteile ich Richterin P. derzeit zusammenfassend mit nicht geeignet.
Die Ausdehnung des Beurteilungszeitraums bis zum 31. 10. 2002 hat jedenfalls keine negative Auswirkung auf die Bewertung."
[9] In weiteren Beurteilungen vom 18. Dezember 2003 und vom 12. Januar 2004 für die Zeiträume vom 1. November 2002 bis zum 30. September 2003 und vom 1. Oktober 2003 bis zum 31. Dezember 2003 beurteilte der Präsident des Landgerichts die Antragstellerin ebenfalls als "derzeit nicht geeignet". Der Präsident des Oberlandesgerichts trat in Überbeurteilungen vom 26. Januar 2004 den Beurteilungen nicht entgegen.
[10] Mit Verfügung vom 19. Februar 2004 entließ der Antragsgegner die Antragstellerin gemäß § 22 Abs. 1 DRiG mit Wirkung vom 2. April 2004 erneut aus dem Richterverhältnis auf Probe. Zur Begründung verwies er auf die Beurteilung ihrer Leistungen in den Zeiträumen vom 1. November 2002 bis 30. September 2003 und vom 1. Oktober 2003 bis zum 31. Dezember 2003 in den dienstlichen Beurteilungen vom 18. Dezember 2003 und 12. Januar 2004. Über den Widerspruch der Antragstellerin gegen diese Verfügung ist noch nicht entschieden.
[11] Am 19. April 2004 und am 5. Januar 2005 hat die Antragstellerin im Wege der Untätigkeitsklage beim Dienstgericht beantragt, die Entlassungsverfügungen vom 13. Februar 2003 und vom 19. Februar 2004 aufzuheben.
[12] Nachdem das Verwaltungsgericht einen entsprechenden Antrag der Antragstellerin durch Beschluss vom 16. Juli 2004 abgelehnt hatte, untersagte das Oberverwaltungsgericht auf die Beschwerde der Antragstellerin durch Beschluss vom 10. Dezember 2004 im Wege vorläufigen Rechtsschutzes dem Antragsgegner, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin gegen die dienstlichen Beurteilungen vom 18. Dezember 2003 und vom 12. Januar 2004 diese Beurteilungen sowie die zugrunde liegenden Beurteilungsbeiträge und die Überbeurteilungen des Präsidenten des Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2004 in Entlassungsverfahren nach § 22 Abs. 1 DRiG zu verwenden. Über den Widerspruch ist noch nicht entschieden.
[13] Während des anhängigen dienstgerichtlichen Verfahrens wies der Antragsgegner am 2. September 2004 den Widerspruch der Antragstellerin gegen die Entlassungsverfügung vom 13. Februar 2003 zurück. Zur Begründung führte er aus, die Entlassungsverfügung sei ungeachtet einer möglichen Verletzung des § 84 SGB IX, der auch für Richter gelte, formell rechtmäßig. Nach dieser Vorschrift habe der Arbeitgeber bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, die in § 93 SGB IX genannten Vertretungen und das Integrationsamt einzuschalten, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann. Eine unter Verletzung dieser Vorschrift verfügte Entlassung sei nur dann rechtswidrig, wenn sie gerade wegen der Unterlassung präventiver Maßnahmen erfolgt sei. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Präsident des Landgerichts die Antragstellerin bereits bei ihrem Dienstantritt auf mögliche Hilfestellungen zum Ausgleich ihrer Schwerbehinderung angesprochen und ihr verschiedene Erleichterungen gewährt habe. Ferner habe er bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Antragstellerin ihre medizinischen und physiotherapeutischen Behandlungen mitberücksichtigt. Versäumnisse des Präsidenten des Landgerichts lägen auch angesichts der Erklärung der Antragstellerin zu Beginn des in Rede stehenden Beurteilungszeitraumes, dass keine behinderungsbedingte Einschränkung bestehe, nicht vor.
[14] Nach § 22 Abs. 1 DRiG sei eine Entlassung aus jedem sachlichen Grund, insbesondere bei Zweifeln an der Eignung für das Richteramt, zulässig. Diese Zweifel ergäben sich aus der rückwirkend für den Beurteilungszeitraum vom 2. April bis 31. Oktober 2002 erstellten dienstlichen Beurteilung vom 18. Dezember 2003. Die Einwände der Antragstellerin gegen diese Beurteilung seien unbegründet. Der Präsident des Landgerichts habe nicht sämtliche erreichbaren Erkenntnismöglichkeiten, etwa die von der Antragstellerin vermissten Hinweis- und Beweisbeschlüsse sowie die in Kammersachen verfassten Voten, ausschöpfen müssen. Er habe sich neben eigenen Erkenntnissen und den vorgeschriebenen Beurteilungsbeiträgen mit weiteren rechtsfehlerfrei ausgewählten, sachgerecht und tendenzfrei gewonnenen Erkenntnissen begnügen dürfen. Die Beurteilung von Arbeitshaltung, Belastbarkeit, Auffassungsgabe, Entschlusskraft und Urteilsvermögen beruhten nach einem ergänzenden Bericht des Präsidenten des Landgerichts auf der zusammenfassenden Wertung einer Fülle von Einzeltatsachen und -eindrücken, die nicht im Einzelnen wiedergegeben werden könnten, sowie einem Vergleich mit anderen Richtern. Ein beachtlicher Eignungsmangel liege auch darin, dass die Antragstellerin seit langem anhängige Verfahren nicht hinreichend zügig gefördert habe. Darin liege eine strukturelle Schwäche in der Herangehensweise an das übertragene Dezernat, die auch unter Berücksichtigung der Schwerbehinderung nicht hingenommen werden könne. Die fehlende fachliche Kooperationsbereitschaft sei ein weiterer selbständiger Entlassungsgrund. Auch unter Berücksichtigung der Schwerbehinderung der Antragstellerin sei im Hinblick auf das öffentliche Interesse an der Qualität des Richterpersonals von dem Einsatz der Antragstellerin in einer Fachgerichtsbarkeit abzusehen und an ihrer Entlassung festzuhalten.
[15] Das Dienstgericht hat durch Beschluss vom 8. September 2005 das Verfahren betreffend die Entlassungsverfügung vom 19. Februar 2004 abgetrennt und einstweilen ausgesetzt. Durch das angefochtene Urteil vom 8. September 2005 hat es die Entlassungsverfügung vom 13. Februar 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2004 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Entlassungsverfügung sei aus mehreren Gründen rechtsfehlerhaft. Sie sei formell rechtswidrig, weil der Beklagte die Präventionsmaßnahme gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX unterlassen habe. Dies führe, unabhängig von der Ursächlichkeit der Unterlassung, zur Unwirksamkeit der Entlassung. Diese sei auch deshalb formell rechtswidrig, weil der Beklagte eine Abmahnung unterlassen habe. Jedenfalls wenn ein behinderter Proberichter ohne Präventionsmaßnahmen entlassen werden solle, gebiete die erhöhte Fürsorgepflicht des Dienstherrn eine vorherige Abmahnung. Außerdem sei die Entlassung formell rechtswidrig, weil es an verwertbaren Beurteilungen und auch im Übrigen an einer geeigneten Entscheidungsgrundlage fehle. Durch die Verwaltungsgerichte sei dem Beklagten die Verwendung aller in Betracht kommenden Beurteilungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin untersagt worden. Da die Untersagung im Eilverfahren ausgesprochen worden sei, stehe die Unverwertbarkeit der Beurteilungen allerdings nicht rechtskräftig fest. Deshalb sei im Entlassungsverfahren zu prüfen, ob die Bewertung des Beklagten, die Beurteilung vom 18. Dezember 2003 sei nicht erkennbar rechtswidrig, richtig sei. Dies sei nicht der Fall, weil die Beurteilung erkennbar mangelhaft sei. Der Beurteilungszeitraum weiche von der Beurteilungsrichtlinie ab. Es sei nicht erkennbar, ob ein Beurteilungsvorgespräch stattgefunden habe. Der Einsatz einer Schwerbehinderten zum Abbau von Altbeständen und Umfangsverfahren sei bedenklich. Ein solches Dezernat sei zudem mit einer gut laufenden, sauberen Abteilung verglichen worden. Die Beurteilung enthalte Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit. Die Entlassungsverfügung sei wegen fehlerhafter Ermessensausübung auch materiell rechtswidrig. Der Ermessensfehler liege in der Verletzung der gesteigerten Fürsorgepflicht gegenüber Schwerbehinderten. Mit dieser sei die Auffassung des Beklagten unvereinbar, zur Beseitigung von Rückständen sei er auf uneingeschränkt leistungsfähige Richter angewiesen und könne alle anderen entlassen. Die Entlassung verstoße auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Fürsorgepflicht gebiete, Schwerbehinderten vor einer Entlassung die Chance der Bewährung bei einem anderen Gericht zu geben oder ihnen Teilzeitarbeit anzubieten.
[16] Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Antragsgegner sein Begehren, den Antrag der Antragstellerin abzuweisen, weiter. Wegen seines Vorbringens wird auf die Revisionsbegründung vom 15. März 2006 Bezug genommen.
[17] Der Antragsgegner beantragt, das Urteil des Dienstgerichts für Richter bei dem Landgericht Schwerin vom 8. September 2005 aufzuheben und den Antrag, die Entlassungsverfügung des Antragsgegners vom 13. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2004 aufzuheben, zurückzuweisen.
[18] Die Antragstellerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
[19] Auf die Revisionserwiderung vom 28. August 2006 nebst Anlagen wird Bezug genommen.
[20] Entscheidungsgründe: Die zulässige Revision ist unbegründet.
[21] I. Die Revision ist gemäß § 79 Abs. 2, § 80 Abs. 2 DRiG, § 45 Abs. 2 RiG MV zulässig. Gegen erstinstanzliche Urteile des Dienstgerichts für Richter bei dem Landgericht Schwerin in Prüfungsverfahren findet, wie das Dienstgericht des Bundes bereits entschieden hat (Urteile vom 13. November 2002 – RiZ (R) 3/01, NJW-RR 2003, 281, 282 und vom 13. November 2002 – RiZ (R) 5/01, NJW-RR 2003, 570, 571), nur die Revision, nicht aber die Berufung statt.
[22] II. Die Revision ist unbegründet, weil das angefochtene Urteil nicht auf der Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung einer Rechtsnorm (§ 80 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 DRiG, § 45 Abs. 2 RiG MV, § 144 Abs. 2 VwGO) beruht. Das Dienstgericht hat die Entlassungsverfügung des Antragsgegners vom 13. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2004 im Ergebnis zu Recht als rechtsfehlerhaft aufgehoben.
[23] 1. Die Verfügung vom 13. Februar 2003 und der Bescheid vom 2. September 2004 sind allerdings entgegen der Auffassung des Dienstgerichts nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil die gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX vorgeschriebene rechtzeitige Einschaltung des Integrationsamtes unterblieben ist. Das Unterlassen dieser Präventionsmaßnahme führt nicht zur Unwirksamkeit der Entlassung. Dem Wortlaut des § 84 Abs. 1 SGB IX ist diese Rechtsfolge nicht zu entnehmen. Auch aus der systematischen Stellung der Vorschrift kann die Unwirksamkeit einer Entlassung ohne vorherige Präventionsmaßnahme nicht hergeleitet werden.
[24] § 84 SGB IX steht in Teil 2 Kapitel 3 des SGB IX, das sonstige Pflichten der Arbeitgeber und Rechte der schwerbehinderten Menschen regelt, und nicht in Teil 2 Kapitel 4 über den Kündigungsschutz. Dies spricht dagegen, dass die Verletzung der Pflicht, Präventionsmaßnahmen durchzuführen, unmittelbare Auswirkungen auf die Wirksamkeit einer späteren Kündigung hat. Deshalb wird für den Bereich des Arbeitsrechts überwiegend die Auffassung vertreten, dass ein Verstoß gegen die gesteigerte Fürsorgepflicht (BAG NJW 2006, 1691, 1694) gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX nicht zur Unwirksamkeit einer nachfolgenden Kündigung führt (LAG Sachsen, Urteil vom 28. Februar 2003 – 2 Sa 339/02, zitiert nach juris; Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 15; Kossens, in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 6; Neumann, in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX 11. Aufl. § 84 Rdn. 16). Der Verstoß kann allerdings bei der Beurteilung der Frage, ob eine Kündigung im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt ist, von Bedeutung sein (vgl. Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 17; Kossens, in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 2; Neumann, in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX 11. Aufl. § 84 Rdn. 17; Müller-Wenner, in: Müller-Wenner/Schorn, SGB IX § 84 Rdn. 16). Auch in einem Richterverhältnis auf Probe, auf das § 84 Abs. 1 SGB IX Anwendung findet (vgl. Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 8), führt der Verstoß gegen diese Vorschrift nicht zur Unwirksamkeit einer Entlassung. Der Verstoß ist allerdings bei der Ausübung des in § 22 Abs. 1 DRiG eingeräumten Ermessens zu berücksichtigen.
[25] 2. Das Dienstgericht hat aber rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Entlassung der Antragstellerin auf einer fehlerhaften Ermessensausübung beruht.
[26] a) Die in § 22 Abs. 1 DRiG eröffnete Ermessensentscheidung ist gerichtlich nur eingeschränkt, nämlich nur dahin überprüfbar, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 Satz 1 VwGO, §§ 83, 66 Abs. 1 Satz 1 DRiG).
[27] b) Ein solcher Ermessensfehlgebrauch liegt hier vor. Nach Nr. 1 Abs. 2 Satz 3 und 4 der Schwerbehindertenrichtlinie Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juli 1993 (ABl. MV S. 1286) ist ein vom Gesetzgeber eingeräumtes Ermessen großzügig zu handhaben. Alle Bestimmungen sind möglichst zugunsten des Schwerbehinderten anzuwenden. Der Antragsgegner hätte deshalb bei seiner Ermessensausübung berücksichtigen müssen, dass eine Präventionsmaßnahme gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX in dem darin vorgeschriebenen Zeitpunkt, nämlich bei Eintreten von Schwierigkeiten, rechtswidrig unterblieben war. Dieser Umstand ist weder in der Entlassungsverfügung vom 13. Februar 2003 noch im Widerspruchsbescheid vom 2. September 2004 im Zusammenhang mit der Ermessensausübung gewürdigt worden.
[28] Soweit der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid in anderem Zusammenhang das Unterlassen eines Präventionsgesprächs gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX berücksichtigt, hat er Bedeutung und Zweck dieses Gesprächs verkannt. Er vertritt die Auffassung, die rechtzeitige Durchführung des Präventionsgespräches hätte die Entlassung nicht verhindern können, weil der Antragstellerin ohnehin zum Ausgleich der Schwerbehinderung verschiedene Erleichterungen in Bezug auf ihr Dienstzimmer, den Parkplatz und den Aktenzu- und -abtrag gewährt worden seien. Auch ihre medizinischen und physiotherapeutischen Behandlungen seien bei der Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit mitberücksichtigt worden. Sie selbst habe bei Dienstantritt erklärt, dass keine behinderungsbedingte Einschränkung vorliege.
[29] Bei diesen Ausführungen ist unberücksichtigt geblieben, dass § 84 Abs. 1 SGB IX nach Wortlaut und Regelungszweck nicht nur behinderungsbedingte Schwierigkeiten (Trenk-Hinterberger, in: Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX 2. Aufl. § 84 Rdn. 10), sondern Probleme gleich welcher Art (Müller-Wenner, in: Müller-Wenner/Schorn, SGB IX § 84 Rdn. 4) erfasst. Auch bei Auftreten anderer Schwierigkeiten soll versucht werden, durch präventive Maßnahmen den Arbeitsplatz des Schwerbehinderten zu erhalten. Vor diesem Hintergrund konnte die Entlassung ohne rechtzeitige Präventionsmaßnahme nicht allein mit der Gewährung von Erleichterungen zum Ausgleich der Schwerbehinderung gerechtfertigt werden. Dasselbe gilt für die Äußerung der Antragstellerin, es läge keine behinderungsbedingte Einschränkung vor. Die Antragstellerin hat diese Bemerkung zudem nicht bei Eintreten der Schwierigkeiten – auf diesen Zeitpunkt stellt § 84 Abs. 1 SGB IX ab –, sondern zu Beginn ihrer richterlichen Tätigkeit gemacht, als sie als Berufsanfängerin die auf sie zukommenden Anforderungen noch nicht sicher einschätzen konnte.
[30] Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Besonderheiten, die mit ihrem Einsatz in einer Zivilkammer verbunden waren, die vorübergehend von Neueingängen entlastet und folglich nur für die Bearbeitung von alten Verfahren zuständig war. Nicht genau vorhersehbar sind für einen Berufsanfänger auch die Anforderungen, die mit der laufenden Förderung, Terminierung und Erledigung aller in seinem Dezernat anhängigen Verfahren verbunden sind. Gerade in diesem Bereich werden in der dienstlichen Beurteilung aber Mängel festgestellt, die sich auf verschiedene Beurteilungsmerkmale negativ ausgewirkt haben. Deshalb kam einem der Erhaltung des Arbeitsplatzes der schwerbehinderten Antragstellerin dienenden Präventionsgespräch bei Eintreten dieser Schwierigkeiten besondere Bedeutung zu. Die erst eine Woche vor dem Ende des Beurteilungszeitraums und danach geführten Präventionsgespräche erfolgten zu spät und konnten den Zweck, die Fortsetzung des Richterverhältnisses auf Probe zu ermöglichen, nicht mehr erfüllen.
[31] c) Die Entlassung der Antragstellerin beruht auf der fehlerhaften Ermessensausübung des Antragsgegners. Es ist nicht auszuschließen, dass der Antragsgegner zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn er das rechtswidrige Unterlassen der Präventionsmaßnahme gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX berücksichtigt, Bedeutung und Zweck dieser Maßnahme richtig erkannt und dem Gebot zu einer großzügigen Handhabung gemäß Nr. 1 Abs. 2 Satz 3 und 4 der Schwerbehindertenrichtlinie Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juli 1993 (ABl. MV S. 1286) entsprochen hätte.
[32] 3. Da die Entlassungsverfügung bereits wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig ist, braucht nicht entschieden zu werden, ob das Dienstgericht zu Recht angenommen hat, die Entlassung der behinderten Antragstellerin ohne rechtzeitige Präventionsmaßnahme sei allein deshalb rechtswidrig, weil keine vorherige Abmahnung erfolgt sei. Auch die – vom Dienstgericht verneinte – Frage, ob der Entlassungsverfügung eine verwertbare Beurteilung zugrunde liege, bedarf keiner Entscheidung.
[33] III. Die Revision des Antragsgegners war daher als unbegründet zurückzuweisen.