Bundessozialgericht

BSG, Urteil vom 10. 3. 2010 – B 3 P 10/08 R (lexetius.com/2010,1731)

[1] Tatbestand: Streitig ist die Bemessung des Zeitaufwandes für die Hilfe beim Gehen im Rahmen des Anspruchs auf Zuerkennung von Leistungen nach der Pflegestufe II im Zeitraum 1. 3. 2006 bis 30. 11. 2008.
[2] Die 1923 geborene Klägerin ist bei der beklagten Pflegekasse gesetzlich pflegeversichert. Sie leidet gesundheitlich im Wesentlichen an einer im streitigen Zeitraum noch mittelgradigen Demenz mit halluzinatorischer Symptomatik sowie einem beidseitigen Glaukom mit erheblicher Beeinträchtigung der Sehkraft. Seit dem 9. 2. 2006 ist sie vollstationär in einem Seniorenzentrum untergebracht. Die Beklagte gewährte zunächst Pflegeleistungen bei vollstationärer Pflege nach der Pflegestufe I und seit dem 1. 12. 2008 nach der Pflegestufe II (Bescheid vom 10. 3. 2009). Einen früheren Höherstufungsantrag der Klägerin vom 1. 3. 2006 lehnte die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ab und führte zur Begründung aus, der durchschnittliche Hilfebedarf in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität betrage lediglich 66 Minuten (Bescheid vom 16. 6. 2006). Der hiergegen eingelegte Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. 9. 2006).
[3] Das von der Klägerin angerufene SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens vom 2. 4. 2007, ausweislich dessen ein Hilfebedarf im Bereich Hauswirtschaft von mindestens 60 Minuten täglich und ein grundpflegerischer Hilfebedarf im Umfang von 109 Minuten täglich bestanden hat (Körperpflege 55 Minuten, Ernährung 24 Minuten und Mobilität 30 Minuten). Für die Bemessung des Hilfebedarfs beim Gehen wurden dabei 25 bis 27 Wegstrecken für die Hin- und Rückwege zu den Mahlzeiten, zur Toilette und zur Dusche sowie dem abendlichen Zubettgehen zugrunde gelegt. Bei einer nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (BRi) anzunehmenden durchschnittlichen Wegstrecke von acht Metern benötige die Klägerin hierfür pro Weg eine halbe Minute. Insgesamt sei daher für die Hilfe beim Gehen ein durchschnittlicher täglicher Zeitbedarf von 13 Minuten (26 x ½ Minute) festzustellen. Das SG hat der Klage mit Urteil vom 20. 11. 2007 stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. 3. 2006 Leistungen nach Pflegestufe II zu gewähren. Über die Feststellungen im Gutachten vom 2. 4. 2007 hinaus seien weitere 14 Minuten Hilfebedarf (insgesamt 123 Minuten Grundpflege) anzurechnen: Eine Minute davon entfalle auf das Aufstehen und Zubettgehen und 13 Minuten auf die Verrichtung des "Gehens". Nach den BRi sei der Wert der Verrichtungen jeweils mit mindestens einer Minute zu berücksichtigen – daher müsse jede einzelne Wegstrecke mit einem Hilfebedarf von einer Minute bemessen werden.
[4] Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. 8. 2008). Verrichtung im Sinne der BRi sei nicht jeder einzelne Weg, sondern das Gehen an sich. Die in den BRi enthaltene Regelung, wonach für jede Verrichtung volle Minutenwerte anzugeben sind, beziehe sich nicht auf einzelne Tätigkeiten oder "Einzelverrichtungen", sondern nur auf die Tagesdurchschnittsbemessung.
[5] Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. § 14 Abs 4 SGB XI sei für die Frage, welche Verrichtungen berücksichtigungsfähig seien, nicht in jedem Fall als abschließende Regelung zu betrachten. Offensichtlich irrtümlich habe der Gesetzgeber den Toilettengang nicht als Verrichtung aufgeführt. Zudem sei jeder Gang zur bzw von der Toilette jeweils mit einer vollen Minute anzusetzen. Es sei einem Pflegenden nicht zuzumuten, quasi mit der Stoppuhr den Hilfebedarf sekundengenau zu dokumentieren.
[6] Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13. 8. 2008 mit der Maßgabe zu ändern, dass nur noch Leistungen der Pflegestufe II für die Zeit vom 1. 3. 2006 bis 30. 11. 2008 begehrt werden, und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Duisburg vom 20. 11. 2007 insoweit zurückzuweisen.
[7] Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.
[8] Entscheidungsgründe: Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass ein Anspruch auf Pflegeleistungen bei vollstationärer Pflege nach der Pflegestufe II für den Zeitraum vom 1. 3. 2006 bis 30. 11. 2008 nicht bestanden hat, sondern nur – wie bereits zuerkannt – nach der Pflegestufe I.
[9] 1. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs für die Zeit von März 2006 bis Juni 2007 ist § 43 Abs 5 Satz 1 Nr 2 SGB XI in der bis zum 31. 3. 2007 geltenden Fassung des Gesetzes vom 23. 10. 2001 (BGBl I 2702), für die Zeit von Juli 2007 bis Juni 2008 § 43 Abs 2 Satz 1 SGB XI in der bis zum 30. 6. 2008 geltenden Fassung des Gesetzes vom 26. 3. 2007 (BGBl I 378) und für die Zeit von Juli bis November 2008 in der aktuellen Fassung des § 43 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB XI (Gesetz vom 28. 5. 2008, BGBl I 874) – jeweils iVm § 14, § 15 Abs 1 Nr 2 und § 15 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB XI.
[10] 2. Für Pflegebedürftige in vollstationären Einrichtungen übernimmt die Pflegekasse gemäß § 43 Abs 2 Satz 1 SGB XI im Rahmen von pauschalen Leistungsbeträgen die pflegebedingten Aufwendungen sowie die Aufwendungen der sozialen Betreuung und für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege. Die monatliche Leistungshöhe hängt von der Pflegestufe iS des § 15 SGB XI ab und beträgt für Pflegebedürftige der Pflegestufe II damals wie heute 1279 Euro. Nach § 14 Abs 1 SGB XI sind Personen pflegebedürftig, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Gemäß § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB XI ist schwerpflegebedürftig und damit der Pflegestufe II zuzuordnen, wer bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bedarf. Diese Vorschrift wird durch § 15 Abs 3 Satz 1 SGB XI insofern konkretisiert, als der Zeitaufwand für die Hilfen täglich im Wochendurchschnitt (die Formulierung in § 15 Abs 3 Satz 1 SGB XI "wöchentlich im Tagesdurchschnitt" ist so gemeint, vgl BSG SozR 4—3300 § 14 Nr 3 RdNr 9) bei der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen muss, von denen wiederum mindestens zwei Stunden auf die Grundpflege entfallen müssen. Die Grundpflege erfasst diejenigen Verrichtungen, die für die Körperpflege, die Ernährung und die Mobilität iS von § 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB XI erforderlich sind (BSG SozR 4—3300 § 14 Nr 7 RdNr 9).
[11] 3. Ein die Zuordnung zur Pflegestufe II begründender Grundpflegebedarf bestand in dem hier zur Entscheidung stehenden Zeitraum nicht. Nach den unangegriffenen und deshalb für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG betrug der tägliche Hilfebedarf der Klägerin für die Körperpflege 55 Minuten und für die Ernährung 24 Minuten (zusammen 79 Minuten). Der im Hinblick auf die Pflegestufe II erforderliche Grundpflegebedarf von zumindest 120 Minuten wurde aber nicht erreicht, weil die Klägerin in Bezug auf ihre Mobilität keiner Hilfe im Umfang von weiteren zumindest 41 Minuten bedurfte. Der mobilitätsbedingte und im Gutachten vom 2. 4. 2007 festgestellte Hilfebedarf von 30 Minuten ist nicht um weitere 13 Minuten wegen zusätzlicher Hilfezeiten beim Gehen zu erhöhen (dazu unter a). Ob darüber hinaus – wie vom SG angenommen – wegen der Hilfe beim Aufstehen/Zubettgehen der Hilfebedarf um eine weitere Minute zu erhöhen ist, bedarf daher keiner Entscheidung (dazu unter b).
[12] a) Das LSG hat den Hilfebedarf beim Gehen zu Recht nur insoweit anerkannt, als die Wege zu und von der Toilette, zu und von den Mahlzeiten sowie beim Zubettgehen zu berücksichtigen waren (dazu unter aa); bezüglich des Gehens hat es seiner Entscheidung ebenfalls zu Recht nur die einfache Wegstrecke von pauschal acht Metern zugrunde gelegt (dazu unter bb) und die dabei benötigte Hilfe zeitlich auch nicht auf eine volle Minute pro Wegstrecke aufgerundet (dazu unter cc).
[13] aa) Der Hilfebedarf beim Gehen (§ 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI) ist dem Grunde nach nur im Hinblick auf die Wege zu und von der Toilette, zu und von den Mahlzeiten und beim Zubettgehen anzuerkennen. Denn die notwendige Hilfe beim Gehen ist nur dann zu berücksichtigen, wenn sie im Zusammenhang mit den anderen in § 14 Abs 4 SGB XI genannten zielgerichteten Verrichtungen – dh Körperpflege, Ernährung und hauswirtschaftliche Versorgung – erfolgt (so schon BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 10 S 70 f; zustimmend: Wagner in Hauck/Noftz, SGB XI, Stand März 2010, K § 14 RdNr 47; kritisch: Klie in LPK SGB XI, 3. Aufl 2009, § 14 RdNr 12). Der Verrichtungskatalog des § 14 Abs 4 SGB XI ist grundsätzlich abschließend und auf bestimmte elementare Lebensbereiche beschränkt (BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 9 S 58 f; vgl zur "offensichtlichen Lücke des Gesetzes" zur Hilfe beim Liegen und Sitzen aber: BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 14 S 91 f). Die Auffassung der Klägerin, die Wege von und zur Toilette seien nicht der Verrichtung "Gehen" zuzuordnen, sondern über den Wortlaut des § 14 Abs 4 SGB XI hinaus ebenfalls als eigenständige Verrichtung zu erfassen, ist unzutreffend, da schon keine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht. Die Darm- und Blasenentleerung in Form des hygienischen Vorgangs ist eine für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit relevante Verrichtung der Körperpflege (§ 14 Abs 4 Nr 1 SGB XI), so dass der Hilfebedarf für die Wege zur bzw von der Toilette im Rahmen der Mobilität über die Verrichtung des Gehens vollständig erfasst wird.
[14] bb) Ebenfalls zutreffend hat das LSG bezüglich des zeitlichen Umfangs der Hilfe beim Gehen auf das individuelle Gehvermögen der Klägerin abgestellt und dabei für eine einfache Wegstrecke pauschal acht Meter zugrunde gelegt.
[15] (1) Ausgangspunkt für die Ermittlung des Zeitaufwandes für die Hilfe beim Gehen ist auch bei stationärer Pflege die Dauer, die eine – nicht als Pflegekraft ausgebildete, also nicht professionelle – durchschnittliche Pflegeperson iS von § 19 SGB XI für die Hilfe angesichts des individuellen Gehvermögens des Pflegebedürftigen benötigt (§ 15 Abs 3 Satz 1 SGB XI). Entscheidend ist der individuelle, sachlich begründete Bedarf aus Sicht des zu Pflegenden (BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 9 S 61), wobei sich das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nicht pauschal nach Krankheitsbildern oder Funktionsstörungen, sondern danach richtet, welcher Zeitaufwand in Bezug auf den individuellen Pflegebedarf konkret erforderlich ist (Udsching, SGB XI, 3. Aufl 2010, § 15 RdNr 4). Dementsprechend ist in dem vom SG eingeholten Sachverständigengutachten vom 2. 4. 2007 (aaO, S 21) zutreffend auf die individuelle Bewegungsfähigkeit der Klägerin abgestellt und festgestellt worden, dass ein Zeitaufwand von jeweils einer Minute zu hoch und nur eine geringere Zeit pro Wegstrecke angemessen ist.
[16] (2) Die Ermittlung des maßgeblichen Zeitaufwandes für die Hilfe beim Gehen hängt jedoch nicht nur vom individuellen Gehvermögen des Pflegebedürftigen ab, sondern auch von den örtlich-räumlichen Verhältnissen. Hierfür und somit für die Länge der zurückzulegenden Wege stellt der Gesetzgeber grundsätzlich auf die Pflege in häuslicher Umgebung ab (§§ 3, 19 Satz 1 SGB XI); maßgeblich sind also die in einer Wohnung üblicherweise zurückzulegenden Wegstrecken. Dies entspricht dem vom Gesetzgeber gewollten Vorrang der häuslichen vor der stationären Pflege und stellt einen wesentlichen Grundsatz der sozialen Pflegeversicherung dar (BT-Drucks 12/5262, S 89 f). Mit dem Abstellen auf die individuellen Wohngegebenheiten bei der Bemessung des Zeitaufwandes für die Hilfe beim Gehen wird dieses Grundprinzip bestätigt; eine rein pauschalierte Betrachtungsweise würde dem widersprechen. Bei der vollstationären Pflege sind solch individualisierte Feststellungen indes nicht möglich, weil es eine "Pflege in häuslicher Umgebung" und damit auch den in § 3 Satz 1 SGB XI normierten Vorrang gerade nicht mehr gibt. Trotz Fehlens von "häuslich" -geprägten Rahmenbedingungen hat der Gesetzgeber gleichwohl auch für die Leistungen bei vollstationärer Pflege eine Feststellung der Pflegestufen nach Maßgabe der §§ 15 ff SGB XI angeordnet, ohne hierfür eine eigenständige und auf die stationäre Pflege zugeschnittene Regelung zu schaffen. Der Senat teilt deshalb den rechtlichen Ausgangspunkt des LSG, dass der Zeitaufwand für die Hilfe beim Gehen bei dauerhaft vollstationärer Pflege mangels anderer Anhaltspunkte auf der Grundlage pauschalierter Wegstrecken im Heim festgestellt werden kann.
[17] (3) Der Senat sieht die vom LSG zugrunde gelegte Strecke von acht Metern pro Weg im vorliegenden Fall als sachgerecht an; Bedenken hiergegen sind von der Klägerin selbst nicht vorgebracht worden. Ausgangspunkt des LSG für den hier streitgegenständlichen Zeitraum sind die "Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch Sozialgesetzbuch" (BRi – vom 21. 3. 1997 idF des Beschlusses vom 11. 5. 2006, abgedruckt etwa bei Aichberger-Engelmann, Ergänzungsband "Gesetzliche Krankenversicherung, Soziale Pflegeversicherung", GlNr 1610). Diese nach §§ 17, 53a SGB XI erlassenen BRi erläutern die Begutachtungskriterien und das Begutachtungsverfahren und sollen bundesweit einheitliche Maßstäbe für die Pflege-Begutachtung sichern. Für die Festlegung des Zeitaufwandes für die Hilfe beim Gehen sehen sie als Maß sowohl für die durchschnittliche häusliche Wohnsituation als auch bei dauerhaft stationärer Unterbringung eine einfache Wegstrecke von acht Metern vor (BRi Teil C Ziff 2. 4, Teil D Ziff 4. 3 Nr 12; abgedruckt bei Aichberger-Engelmann, aaO, S 11, 50). Diese für den MDK gemäß § 53a Satz 3 SGB XI verbindlichen Richtlinien sind allerdings für das gerichtliche Verfahren nicht bindend. Denn die §§ 17, 53a SGB XI enthalten keine normative Ermächtigung der Spitzenverbände, Voraussetzungen und Ausmaß der Pflegebedürftigkeit mit Wirkung für außerhalb der Verwaltung stehende Personen oder die Gerichte festzulegen (BSG SozR 3—3300 § 15 Nr 1 S 5; Udsching, aaO, § 17 RdNr 4; ders in: Festschrift Krasney, München 1997, S 677, 683 f; Wagner, aaO, K § 17 RdNr 5). Sie stellen nur sog Verwaltungs-Binnenrecht dar und werden von den Gerichten auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung und den Gesetzen sowie auf ihre sachliche Vertretbarkeit überprüft (ähnlich vgl etwa BSG SozR 3—3300 § 15 Nr 1 S 5; BSG SozR 3—3300 § 15 Nr 5 S 16; BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 10 S 77 mwN; zur Kasuistik zusammenfassend Udsching, aaO, § 17 RdNr 6). Nicht zu entscheiden war hier indes, ob bei der Festlegung des Zeitaufwandes für die Hilfe beim Gehen in der durchschnittlichen häuslichen Wohnsituation trotz des Individualisierungsgebots (vgl oben unter 3. a bb [2]) entsprechend den BRi regelmäßig eine einfache Wegstrecke von acht Metern zugrunde gelegt werden darf, denn die Klägerin ist stationär untergebracht. Der Senat kann aber auch offenlassen, ob und inwieweit der MDK bei seiner Begutachtung im stationären Bereich grundsätzlich eine Wegstrecke von acht Metern berücksichtigen darf bzw welche Gehstrecke ansonsten angemessen wäre. Denn im vorliegenden Fall sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der sachverständig zugrunde gelegte Wert nicht mit den Gegebenheiten im Seniorenzentrum der Klägerin übereinstimmt – dies hat die Klägerin auch selbst nicht behauptet.
[18] cc) Zu Recht hat das LSG den tatsächlichen Hilfebedarf von jeweils einer halben Minute nicht auf eine volle Minute pro zu berücksichtigendem Weg aufgerundet. Eine Rundungsvorschrift, wonach der tatsächlich bestehende Pflegebedarf – in welcher Weise auch immer – auf- oder abzurunden wäre, enthält das SGB XI nicht. Ein Anspruch auf Rundung aus Gründen der Gleichbehandlung ergibt sich auch nicht aus Art 3 GG iVm den nach §§ 17, 53a SGB XI erlassenen BRi.
[19] (1) Die BRi verlangen bereits dem Wortlaut nach keine Rundung auf volle Minuten für jeden abgrenzbaren Einzelvorgang, der im Rahmen der Verrichtungen möglicherweise mehrmals täglich anfällt. Die BRi sehen in Teil F – Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung – zwar vor, dass der Hilfebedarf "für jede Verrichtung der Grundpflege stets in vollen Minutenwerten anzugeben" ist (abgedruckt bei Aichberger-Engelmann, aaO, S 79). Diese Formulierung ist aber so zu verstehen, dass für jede der in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen in der jeweiligen Summe und bezogen auf den Tagesdurchschnitt volle Minutenwerte anzugeben sind. Wenn die BRi von "Verrichtung" sprechen, beziehen sie sich lediglich auf die in § 14 Abs 4 SGB XI aufgelisteten Handlungsbereiche und nicht auf jeden Einzelvorgang, der innerhalb dieses Handlungsbereichs möglicherweise mehrmals täglich anfällt. Sprachlich unterscheiden die BRi nämlich konsequent zwischen der Verrichtung und den innerhalb der jeweiligen Verrichtung erforderlichen Handlungen. Wenn es um Einzelvorgänge geht, die einer bestimmten Verrichtung zuzuordnen sind, sprechen die BRi nicht von Verrichtung, sondern zB von einzelnen "Transferleistungen" die "nur Sekunden in Anspruch" nehmen (BRi Teil D Ziff 4. 0/III./9.; abgedruckt bei Aichberger-Engelmann, aaO, S 42). Dass sich die Rundungsvorschrift nur auf die pro Tag durchschnittlich erforderliche Hilfe bezieht, legt auch die sich der Rundungsvorgabe unmittelbar anschließende Regelung zur Berechnung der nicht täglich erfolgenden Verrichtungen nahe: Auch hier wird eine auf den Tag bezogene Umrechnung des wöchentlichen Zeitaufwandes vorgesehen. Bei nicht täglich anfallenden Pflegeleistungen wie etwa dem Baden wäre es wenig zielführend, wenn zunächst die Hilfeleistung pro Einzelvorgang auf volle Minuten gerundet würde. Denn bei der danach erforderlichen Umrechnung des Zeitbedarfes auf einen Tag (Hilfeleistung pro Woche geteilt durch sieben; vgl zur Berechnung der nicht täglich anfallenden Verrichtungen: BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 10 S 75) – auf diesen kommt es für die Zuordnung im Rahmen von § 15 Abs 3 SGB XI an – würde in den meisten Fällen ein rechnerisches Ergebnis produziert, welches keine vollen Minuten ergäbe – gerade das will die Rundungsvorschrift aber vermeiden.
[20] (2) Etwas anderes ergibt sich – anders als die Klägerin meint – auch nicht daraus, dass in den BRi betreffend der Hilfe zum Stehen/Transfer und der Hilfe zum Gehen festgelegt wird, dass jeder Transfer/jeder Weg "einzeln zu berücksichtigen" ist (BRi Teil F Ziff 4. 3/Teil D Ziff 4. 3 abgedruckt bei Aichberger-Engelmann, aaO, S 50 und 83) –. Die Häufigkeitsangabe der einzelnen Hilfeleistungen im Gutachten ist notwendig, da der Gesetzgeber in § 15 Abs 1 S 1 SGB XI die Pflegestufen auch von der Häufigkeit der Hilfeleistungen abhängig macht. Allein in diesem Sinne sind die in den BRi enthaltenen Maßgaben zur "Zählweise" zu lesen; dies hat keine Relevanz für die Dauer der Hilfeleistung und steht daher auch nicht in Zusammenhang mit etwaigen Rundungsschritten. Eine Rundung bereits bei jeder Einzeltätigkeit und die damit gegebenenfalls einhergehende erhebliche Ungenauigkeit wäre zudem nicht mit der gesetzlichen Vorgabe vereinbar, den Pflegebedarf angesichts der individuellen Situation des zu Pflegenden – einzelfallbezogen – so genau wie möglich festzustellen (hierzu: BSG SozR 4—3300 § 15 Nr 1 RdNr 13). Das Anliegen einer möglichst großen Praktikabilität – und nur damit lässt sich eine Rundung der festzustellenden Hilfeleistung rechtfertigen – kann nicht dazu führen, Abweichungen von den gesetzlichen Vorgaben in Kauf zu nehmen (BSG SozR 3—3300 § 14 Nr 10 S 78). Zwar beruhen die von medizinischen Sachverständigen festzustellenden Zeitwerte regelmäßig auf Schätzungen, denen eine gewisse und auf wenige Minuten beschränkte Unschärfe nicht abgesprochen werden kann und die dennoch hinzunehmen sind (BSGE 95, 57 = SozR 4—1300 § 48 Nr 6 RdNr 25 ff). Mit dem Individualisierungsgebot des SGB XI wäre es aber nicht vereinbar, solche Unschärfen sehenden Auges in verstärktem Maße durch Rundungsschritte bereits bei jeder einzelnen Hilfeleistung zu produzieren. Derartig gesteigerte Unschärfen würden sich im Übrigen nicht zwangsläufig zugunsten der Versicherten auswirken; die BRi sprechen keineswegs zwingend von einer Aufrundung, sondern erlauben mit der Formulierung "in vollen Minuten" durchaus auch, eine Abrundung vorzunehmen.
[21] (3) Die zwischenzeitlich mit Beschluss vom 8. 6. 2009 neu gefassten BRi (abgedruckt bei Udsching, aaO, Anhang 4, S 553) sind daher lediglich als Klarstellung zu verstehen, wenn dort nunmehr in den Orientierungswerten (Teil F, aaO, S 601) bestimmt ist: "Der Zeitaufwand für die jeweilige Verrichtung der Grundpflege ist pro Tag, gerundet auf volle Minuten anzugeben. Dabei erfolgt die Rundung nur im Zusammenhang mit der Ermittlung des Gesamtzeitaufwands pro Tag und nicht für jede Hilfeleistung, deren Zeitaufwand weniger als eine Minute beträgt." Dies galt auch schon im hier streitigen Zeitraum unter Geltung der früheren BRi idF vom 11. 5. 2006; eine inhaltliche Änderung betreffend die Rundungsregel ist mit den seit 2009 gültigen BRi nicht verbunden.
[22] b) Einer Entscheidung des Senats zu der Frage, ob dem Grundpflegebedarf im Bereich Mobilität eine weitere Minute für die Hilfe beim Aufstehen bzw Zubettgehen hinzuzufügen ist, wie es das SG angenommen hat, bedurfte es nicht. Durch Hinzufügen einer weiteren Minute würde sich der Hilfebedarf der Klägerin nicht dergestalt erhöhen, dass allein dadurch ein Grundpflegebedarf von zumindest 120 Minuten festzustellen wäre.
[23] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.