Unzulässiger Antrag im Organstreitverfahren wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses
BVerfG, Mitteilung vom 20. 10. 2017 – 92/17 (lexetius.com/2017,2964)
[1] Hält ein Abgeordneter seine an die Bundesregierung gerichtete parlamentarische Frage für unrichtig beantwortet, muss er diese vor Einleitung des Organstreitverfahrens mit der (mutmaßlichen) Unrichtigkeit der Antwort konfrontieren und ihr so die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Anderenfalls fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und damit den im Organstreitverfahren gestellten Antrag einer Abgeordneten des Deutschen Bundestags verworfen. Diese hatte die Feststellung begehrt, dass die Bundesregierung ihre Anfrage im Zusammenhang mit den Vorfällen in der Silvesternacht 2015/2016 falsch oder nur unzureichend beantwortet und sie dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat.
Sachverhalt:
[2] Im Rahmen der Aufklärung der Vorfälle in der Silvesternacht 2015/2016 im Bereich des Kölner Doms und des Hauptbahnhofs richtete die Antragstellerin im März 2016 die schriftliche Frage an die Bundesregierung, ob beim Bundesministerium des Innern in den ersten Tagen des Jahres 2016 aus Nordrhein-Westfalen eine Meldung über elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen eingegangen sei. Die Bundesregierung verneinte dies, wies in der Antwort allerdings darauf hin, dass die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort die Recherchen erschwert hätten. Im Oktober 2016 hat der Untersuchungsausschuss "Silvesternacht 2015" des Landtages Nordrhein-Westfalen den Bundesminister des Innern unter anderem zur Rolle der Bundespolizei in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 und zu den Meldungen aus dem Land Nordrhein-Westfalen befragt. Dabei ging der Bundesminister des Innern auf die vom Land Nordrhein-Westfalen am 1. Januar 2016 auch an das Bundesministerium des Innern versandten Meldungen über die Ereignisse ein. Vor diesem Hintergrund ist die Antragstellerin der Auffassung, dass ihre schriftliche Frage im März 2016 falsch oder unzureichend beantwortet worden sei und begehrt im Organstreitverfahren die Feststellung, dass die Bundesregierung sie dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt habe.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
[3] 1. Im Organstreitverfahren ist das Rechtsschutzbedürfnis gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht. Allerdings muss der Konflikt, dessen Bereinigung der Antragsteller im kontradiktorischen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begehrt, zuvor für den Antragsgegner erkennbar geworden sein. Bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen trifft den Antragsteller daher eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen.
[4] 2. Im vorliegenden Fall fehlt der Antragstellerin das Rechtschutzbedürfnis, da sie nicht näher darlegt, worin sich die Kontroverse um die Richtigkeit der Antwort manifestiert. Sie hat vor Einleitung des Organstreitverfahrens nicht von der naheliegenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Bundesregierung zu einer Klarstellung aufzufordern, ob diese an der Antwort auf ihre schriftliche Frage festhält oder sich die Darstellung des Bundesministers des Innern zu eigen macht. Dabei hätte eine Nachfrage auch deshalb nahegelegen, weil die Bundesregierung ihre Antwort inhaltlich mit einem Vorbehalt versehen hat. Jedenfalls wäre es der Antragstellerin ohne Weiteres möglich gewesen, das hinter ihrer Frage stehende Informationsinteresse erneut zum Gegenstand einer klarstellenden Nachfrage zu machen und damit zu klären, ob eine Kontroverse zwischen ihr und der Bundesregierung angesichts der späteren Äußerungen des Bundesministers des Innern im Untersuchungsausschuss überhaupt besteht.
BVerfG, Beschluss vom 10. 10. 2017 – 2 BvE 6/16