Zur Frage der Zulässigkeit einer Beschwerde gegen richterliche Durchsuchungsanordnungen

BVerfG, Mitteilung vom 11. 6. 1997 – 52/97 (lexetius.com/1997,585)

[1] Der Zweite Senat des BVerfG hat in vier Verfassungsbeschwerde-Verfahren entschieden, daß die Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung im Strafverfahren nicht allein deshalb als unzulässig verworfen werden darf, weil die Durchsuchung vollzogen wurde und die Maßnahme sich mithin erledigt hat (sog. prozessuale Überholung). Der Senat hat entsprechende landgerichtliche Beschlüsse aufgehoben und die Sachen jeweils zur erneuten Entscheidung an die Landgerichte (LG) zurückverwiesen.
[2] I. In vier strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe waren Wohnräume aufgrund richterlicher Anordnungen durchsucht worden. Beschwerden gegen diese Beschlüsse wurden von den Rechtsmittelgerichten (LG) jeweils als unzulässig verworfen. Zur Begründung hieß es im wesentlichen, die Beschwerden seien prozessual überholt, weil die Durchsuchungen bereits durchgeführt und etwaige sichergestellte Gegenstände zurückgegeben worden seien.
[3] Hiergegen wendeten sich die Betroffenen mit ihren Verfassungsbeschwerde. Sie rügten insbesondere, es sei ihnen der durch Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte effektive Rechtsschutz nicht gewährt worden.
[4] II. Der Senat hat den Beschwerdeführern recht gegeben und die landgerichtlichen Beschlüsse aufgehoben. Sie verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung). Die LG müssen die Sachen erneut entscheiden.
[5] Zur Begründung heißt es u. a.:
[6] Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Ein Rechtsmittelgericht darf ein in der jeweiligen Rechtsordnung vorgesehenes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen. Es muß prüfen, ob im jeweiligen Einzelfall für das statthafte Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur so lange als gegeben ansehen, als ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzinteresse aber auch in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gegeben, in denen die direkte Belastung durch den Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Solche tiefgreifenden Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das GG – wie u. a. im Fall des Art. 13 Abs. 2 GG – dem Richter vorbehalten hat. Zu der Fallgruppe tiefgreifender Grundrechtseingriffe, die ihrer Natur nach häufig vor möglicher gerichtlicher Überprüfung schon wieder beendet sind, gehört die Wohnungsdurchsuchung aufgrund richterlicher Durchsuchungsanordnung. Ein schutzwürdiges Interesse des Betroffenen, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung gerichtlich feststellen zu lassen, wird in solchen Fällen nicht nur ausnahmsweise anzunehmen sein.
[7] Die angegriffenen landgerichtlichen Beschlüsse genügen diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Entsprechend dem verfassungsrechtlichen Maßstab hätten die Beschwerdegerichte vielmehr in jedem Einzelfall von dem Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses ausgehen müssen.
BVerfG, Beschluss vom 30. 4. 1997 – 2 BvR 817/90