Bundesgerichtshof entscheidet über Wirksamkeit der "Tarifreform 1996" der Deutschen Telekom AG

BGH, Mitteilung vom 2. 7. 1998 – 53/98 (lexetius.com/1998,1402)

[1] Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte sich erstmals mit der Gültigkeit der mit Wirkung zum 1. Januar 1996 eingeführten neuen Tarife der Deutschen Telekom AG für den Telefondienst zu befassen, die bereits Gegenstand einer Vielzahl instanzgerichtlicher Entscheidungen war.
[2] Die beklagte Deutsche Telekom AG setzte nach Maßgabe der für den fraglichen Zeitraum geltenden Rechtsvorschriften ihre Entgelte in Allgemeinen Geschäftsbedingungen fest. Die geänderten Geschäftsbedingungen konnten nur unter Beachtung bestimmter (formaler) Voraussetzungen für bestehende und neu eingegangene Telefonanschluß-Vertragsverhältnisse wirksam werden, wobei die Festsetzung der Entgelte der hier im Oktober 1995 erteilten Genehmigung des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation bedurfte.
[3] Der klagende Inhaber eines Telefonanschlusses machte geltend, die besonderen (formalen) Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Änderung der Tarife bzw. Tarifierungsgrundsätze seien nicht erfüllt gewesen. Zudem habe die Tarifreform 1996 so massive Preiserhöhungen zur Folge gehabt, daß sie wegen sittenwidriger Ausnutzung einer Monopolstellung nach § 138 BGB nichtig sei. Zumindest habe die einseitige Tariferhöhung nicht der Billigkeit entsprochen, so daß die Zivilgerichte befugt seien, die Tarife im Wege der richterlichen Inhaltskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB herabzusetzen.
[4] Die Klage ist in allen Instanzen erfolglos geblieben.
[5] 1. Der Bundesgerichtshof hat die bei der Umsetzung der Tarifreform zu beachtenden förmlichen Voraussetzungen als erfüllt angesehen. Insbesondere waren der Wortlaut der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und ihre Änderungen rechtzeitig amtlich veröffentlicht und bei den Niederlassungen der Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost zur Einsichtnahme bereitgehalten worden. Daß möglicherweise bei der einen oder anderen Niederlassung die erwünschte Einsichtnahme eines Kunden in die neue Preisliste nicht gewährleistet war, ist unschädlich. Die Beklagte hatte ihre Kunden auch in geeigneter Weise (nämlich durch Anzeigen, Werbesendungen und die Übersendung von Preisinformationen) über die Tarifänderungen informiert.
[6] 2. Der Bundesgerichtshof hat auch die materiell-rechtlichen Beanstandungen des Klägers gegen die neuen Tarife der Deutschen Telekom AG für nicht durchgreifend erachtet.
[7] Nach den einschlägigen Rechtsvorschriften durfte die Beklagte ausschließlich die vom Bundesministerium für Post und Telekommunikation genehmigten neuen Tarife erheben. Verträge über Telefondienstleistungen, die andere als die genehmigten Leistungsentgelte oder entgeltrelevanten Bestandteile enthielten, waren zivilrechtlich unwirksam. Aufgrund dieser besonderen "privatrechtsgestaltenden" Wirkung der Tarifgenehmigung ist es den Zivilgerichten allenfalls in eingeschränktem Umfang möglich, die Preisgestaltung der Deutschen Telekom AG nach den Maßstäben des Zivilrechts zu überprüfen bzw. zu korrigieren.
[8] a) Die Vereinbarung eines überhöhten Preises ist im Regelfall dann sittenwidrig im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB, wenn sie auf der Ausnutzung einer Monopolstellung gegenüber einem Partner beruht, der auf den Geschäftsverkehr mit dem Monopolisten angewiesen ist. Ob die besonderen Wirkungen der Tarifgenehmigung einer dahingehenden Prüfung entgegenstehen, konnte der Senat offenlassen, weil die Preise der Deutschen Telekom AG jedenfalls nicht als überhöht angesehen werden können.
[9] Ob die neuen Tarife zu einer übermäßigen Belastung der (privaten oder Geschäfts-) Kunden führten, kann nur im Wege einer Gesamtbetrachtung der Tarifreform beurteilt werden. Ohne Aussagekraft ist daher etwa der vom Kläger gemachte Hinweis darauf, daß sich die Kosten für ein am Vormittag im City-Bereich geführtes sechsminütiges Telefongespräch um mehr als 100 % erhöht haben. Als Vergleichsmaßstab können dabei nicht ohne weiteres die "alten" Tarifentgelte herangezogen werden, weil sich insoweit durch die im Zuge der Postreform vollzogene Aufgliederung der Deutschen Bundespost in (zunächst) drei teilrechtsfähige öffentliche Unternehmen und die (spätere) Umstrukturierung dieser Unternehmen in Aktiengesellschaften die für die Telekom geltenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entscheidend verändert haben.
[10] b) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind die Tarife von Unternehmen, die Leistungen der Daseinsvorsorge anbieten, auf deren Inanspruchnahme der andere Vertragsteil im Bedarfsfalle angewiesen ist, grundsätzlich der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB unterworfen. Das Erfordernis der behördlichen Genehmigung solcher Tarife und Entgelte schließt die Billigkeitskontrolle dann nicht aus, wenn sich die öffentlich-rechtliche Wirkung der Genehmigung auf das Verhältnis der Behörde zum Genehmigungsempfänger beschränkt und im übrigen der privatautonomen erwerbswirtschaftlichen Entscheidungsbefugnis der Vertragspartner freien Raum läßt. Hinsichtlich der für Leistungsentgelte und entgeltrelevante Bestandteile der Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Monopolbereich der Telekommunikation und des Postwesens notwendigen Genehmigung des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation ist die Rechtslage dagegen entscheidend anders: Die "privatrechtsgestaltende" Wirkung dieser Genehmigung hindert die ordentlichen Gerichte, die Preise der Deutschen Telekom AG nach den Maßstäben des § 315 Abs. 3 BGB zu überprüfen.
BGH, Urteil vom 2. 7. 1998 – III ZR 287/97