Urheberrechtliche Zulässigkeit des Kopienversands öffentlicher Bibliotheken
BGH, Mitteilung vom 26. 2. 1999 – 16/99 (lexetius.com/1999,2236)
[1] Der u. a. für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hatte auf Klage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e. V. gegen das Land Niedersachsen (als Träger der Technischen Informationsbibliothek Hannover [TIB]) über die Frage zu entscheiden, ob eine öffentliche Bibliothek Urheberrechte verletzt, wenn sie auf Einzelbestellung gegen Bezahlung Kopien urheberrechtlich geschützter Zeitschriftenbeiträge herstellt und an den Auftraggeber mittels Telefax oder mit der Post übersendet. Nicht Gegenstand der Entscheidung war die Frage, ob eine öffentliche Bibliothek ohne Zustimmung der Urheber Zeitschriftenbeiträge in eine Datenbank einspeichern und auf Online-Abruf an Nutzer übertragen darf oder für Auftraggeber nach vorherigen Recherchedienstleistungen Kopien herstellen darf (zu letzterer Fallgestaltung vgl. BGHZ 134, 250 – CB-infobank I).
[2] Die TIB sammelt im Verbund mit der Universitätsbibliothek Hannover technische und naturwissenschaftliche Literatur aus aller Welt. Auf Anforderung stellt sie Kopien von Zeitschriftenbeiträgen her, die sie den Bestellern durch Telefax oder mit der Post übermittelt. Die TIB unterhält einen über das Internet zugänglichen Katalog ihrer Bestände; Bestellungen sind auch online möglich. Für ihre Dienstleistungen wirbt die TIB weltweit.
[3] Nach Ansicht des Klägers verletzt die TIB mit ihrem Bestellservice bei urheberrechtlich geschützter Literatur die Vervielfältigungs- und Verbreitungsrechte der Urheberberechtigten. Er hat aus abgetretenem Recht verschiedener Zeitschriftenverlage und deren Autoren (insbesondere auf Unterlassung und Schadensersatz) geklagt und geltend gemacht, die Praxis öffentlicher Bibliotheken, in größtem Umfang Aufsatzkopien zu versenden, bedrohe das Verlagsgeschäft mit Fachzeitschriften. Mit dem Kopienversand werde den Verlagen durch Ausbeutung ihrer Leistung in wettbewerbsrechtlich unlauterer Weise Konkurrenz gemacht.
[4] Die Beklagte hat demgegenüber vorgebracht, die TIB handele beim Kopienversand nur im Auftrag der Besteller; die Herstellung der Vervielfältigungen von Zeitschriftenbeiträgen sei daher nach § 53 UrhG zulässig, welche Vorschrift Vervielfältigungen zum privaten und sonstigen eigenen Gebrauch von dem Erfordernis einer Zustimmung des Urhebers freistellt.
[5] Die Klage blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Nach Ansicht des I. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ergibt sich aus der Zweckbestimmung des § 53 UrhG, die insbesondere durch die Gesetzesgeschichte der Vorschrift verdeutlicht wird, daß der Gesetzgeber den Kopienversanddienst öffentlicher Bibliotheken wegen der überragenden Bedeutung, die der freie Zugang zu Fachinformationen für die Allgemeinheit hat, nicht von einem Zustimmungsrecht der Urheberberechtigten abhängig machen wollte. Dementsprechend war der Unterlassungsantrag abzuweisen.
[6] Seit der Entscheidung des Gesetzgebers haben sich allerdings die Verhältnisse grundlegend verändert. Der Kopienversand kann heute nicht mehr lediglich als eine dem Verlagsgeschäft nachfolgende Werknutzung von vergleichsweise geringerer Bedeutung angesehen werden. Das Internet ermöglicht einem Massenpublikum – zunehmend unabhängig von Ort und Zeit – Datenbanken zur Literaturrecherche zu benutzen und online Kopien auch von neuesten Zeitschriftenbeiträgen zu bestellen. Mit Hilfe von Telefaxgeräten können solche Bestellungen in kürzester Zeit abgewickelt werden. Angesichts dieser Steigerung der Zugriffsmöglichkeiten auf Zeitschriftenbeiträge unabhängig vom Verlagsvertrieb gebieten es nunmehr der Schutz des Urheberrechts als geistiges Eigentum (Art. 14 GG) sowie die Vorschriften der internationalen Urheberrechtsabkommen (Revidierte Berner Übereinkunft und TRIPS-Abkommen), den Urhebern einen Anspruch auf angemessene Vergütung als Ausgleich für die Freistellung des Kopienversands vom Verbotsrecht durch § 53 UrhG zuzugestehen. Die Einschränkung des Ausschließlichkeitsrechts durch diese Vorschrift ist dagegen nach wie vor zu beachten, weil die Gründe, auf die der Gesetzgeber abgestellt hat, unverändert fortbestehen.
[7] Die durch die technische und wirtschaftliche Entwicklung entstandene Gesetzeslücke ist dadurch zu schließen, daß – in Anwendung des Rechtsgedankens, der in den Vorschriften des § 27 UrhG (sog. Bibliothekstantieme), des § 49 UrhG (Pressespiegel) und des § 54 UrhG (Betreibervergütung) zum Ausdruck gekommen ist – beim Kopienversand auf Einzelbestellung durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung ein Anspruch des Urhebers auf angemessene Vergütung gegen diese anzuerkennen ist. Da eine solche Forderung nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden kann, blieb der Anspruch des Klägers auf eine Entschädigung für die Nutzung der Zeitschriftenbeiträge, an denen er Rechte geltend gemacht hat, ebenfalls ohne Erfolg.
BGH, Urteil vom 25. 2. 1999 – I ZR 118/96