Bundesgerichtshof
Weist der Richter nach Widerspruch gegen einen Mahnbescheid den Beklagten mit der Zustellung der Anspruchsbegründungsschrift darauf hin, daß der Anspruch verjährt sei, besteht Grund, ihn abzulehnen; dasselbe gilt, wenn der Hinweis zwar an den Kläger gerichtet, aber auch dem Beklagten zuzustellen ist.
BGH, Beschluss vom 2. 10. 2003 – V ZB 22/03; LG Dessau (lexetius.com/2003,2591)
[1] Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 2. Oktober 2003 durch den Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofes Dr. Wenzel und die Richter Tropf, Dr. Lemke, Dr. Gaier und Dr. Schmidt-Räntsch beschlossen:
[2] Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin werden die Beschlüsse der 1. Zivilkammer des Landgerichts Dessau vom 24. Februar 2003 und des Amtsgerichts Zerbst vom 24. Januar 2003 aufgehoben.
[3] Das Ablehnungsgesuch gegen den Richter am Amtsgericht S. wird für begründet erklärt.
[4] Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens beträgt 800 €.
[5] Gründe: I. Mit einem dem Beklagten am 26. Oktober 2002 zugestellten Mahnbescheid hat die Klägerin Herausgabe von Nutzungsentgelt nach den Vorschriften über das Sachenrechtsmoratorium (Art. 233 § 2a Abs. 1 Satz 4 und Satz 8 EGBGB) geltend gemacht. Nach Widerspruch hat das Amtsgericht im schriftlichen Vorverfahren dem Beklagten die Anspruchsbegründungsschrift und eine beglaubigte Abschrift folgenden, an den Kläger ergangenen Hinweises zugestellt:
[6] "Der Anspruch nach Satz 4 dürfte gemäß Satz 7 verjährt sein, wenn der Beklagte die Einrede der Verjährung erhebt."
[7] Der Beklagte, der zunächst nur Einwendungen gegen das Bestehen der Ansprüche erhoben hatte, berief sich in der Folge auch auf Verjährung. Die Klägerin hat den Amtsrichter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das Ablehnungsgesuch ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Klägerin ihr Ablehnungsgesuch weiter.
[8] II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) und auch im übrigen zulässig. In der Sache hat sie Erfolg.
[9] 1. Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet wegen Besorgnis der Befangenheit die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Maßgeblich ist, ob aus der Sicht der den Richter ablehnenden Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß gegeben ist, an dessen Unvoreingenommenheit und objektiver Einstellung zu zweifeln (st. Rspr. BGHZ 77, 70, 72; BGH, Urt. v. 15. Dezember 1994, I ZR 121/92, NJW 1995, 1677, 1679; zu § 19 BVerfGG: BVerfGE 20, 1, 5; 102, 122, 125). Kriterium für die Unparteilichkeit des Richters ist die Gleichbehandlung der Parteien. Der Ablehnung setzt er sich aus, wenn er, ohne Stütze im Verfahrensrecht, die Aequidistanz zu den Parteien aufgibt und sich zum Berater einer Seite macht. Bei der materiellen Prozeßleitung, zu der die in § 139 ZPO vorgesehenen Erörterungen, Fragen und Hinweise zählen (vgl. auch §§ 136 Abs. 3, 141, 279 Abs. 3 ZPO), hat er, soweit für besondere Verfahrensarten nichts Abweichendes bestimmt ist (für Familiensachen vgl. §§ 616, 617 ZPO), das Verfügungsrecht der Parteien über das Streitverhältnis und deren alleinige Befugnis zur Beibringung des Prozeßstoffes zu respektieren. Es ist ihm deshalb verwehrt, auf die Einführung selbständiger, einen gesetzlichen Tatbestand eigenständig ausfüllender Angriffs- und Verteidigungsmittel (vgl. § 146 ZPO) in den Prozeß hinzuwirken. Dies gilt für weitere Klagegründe (BGHZ 7, 208, 211; Senatsurteil vom 16. Juli 1999, V ZR 56/98, WM 1999, 1891, 1893, jeweils für die Klageerweiterung), für die Ausübung von Gestaltungsrechten (Senat aaO), aber auch für Leistungsverweigerungsrechte (BGH, Urteil vom 18. November 1968, II ZR 152/67, NJW 1969, 691, 693 für das Zurückbehaltungsrecht).
[10] 2. Die Verjährung berührt nach der Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchs den anspruchsbegründenden Tatbestand und mithin das Bestehen des Rechts des Gläubigers nicht. Ihr Eintritt verschafft dem Schuldner vielmehr ein Gegenrecht, nämlich die Befugnis, die Leistung zu verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB). Die Geltendmachung des Gegenrechts, die Erhebung der Einrede der Verjährung, ist eine geschäftsähnliche Handlung des sachlichen Rechts (allg. M., vgl. statt aller MünchKomm-BGB/Grothe, 4. Aufl. § 222 Rdn. 3). Sie setzt die Bekundung des Willens des Schuldners voraus, die Leistung endgültig zu verweigern und dies – jedenfalls dem Sinne nach – mit dem Ablauf der Verjährungsfrist zu begründen. Bevor dies geschehen ist, steht dem Verlangen des Gläubigers auf Erbringung der Leistung nichts entgegen. Im Rechtsstreit hat deshalb, auch wenn die verjährungsbegründenden Umstände vom Kläger selbst vorgetragen werden, auf Antrag Versäumnisurteil gegen den ausgebliebenen Beklagten zu ergehen (§ 331 Abs. 2 ZPO). An dieser Konzeption (bisher § 222 BGB) hat der Gesetzgeber bei der Novellierung des Verjährungsrechts durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz festgehalten. Überlegungen zur Zweckmäßigkeit der Einredelösung (Nachweise bei Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 139 Rdn. 24a; aus der Sicht des § 42 Abs. 2 ZPO vgl. auch Feiber, Anm. zu BGH, Urteil vom 12. November 1997, IV ZR 214/96, LM ZPO § 42 Nr. 7 und Deubner, JuS 1998, 249, 250) erübrigen sich daher. Zu Unrecht meint mithin das Beschwerdegericht, der Amtsrichter habe sich mit seinem Hinweis auf die Wiedergabe der materiellen Rechtslage beschränkt. Seine prozeßleitende Verfügung führte dem Beklagten vielmehr die Möglichkeit vor Augen, durch eine geschäftsähnliche Handlung die bestehende, für das Gericht verbindliche Rechtslage zum Nachteil des Klägers und zu seinen eigenen Gunsten zu verändern. Ein solcher Hinweis wirkt wie eine Aufforderung, die Einrede auch zu erheben.
[11] 3. Für den Hinweis bietet § 139 ZPO keine Grundlage. Der Bundesgerichtshof hat zwar bisher die Frage, ob das Gericht nach dieser Vorschrift den Anspruchsgegner auf die Möglichkeit hinweisen darf, sich mit der Einrede der Verjährung zu verteidigen (zum Streitstand in Rechtsprechung und Literatur vgl. Musielak/Stadler, ZPO, 3. Aufl. § 139 Rdn. 9 mit Fn. 64), noch nicht ausdrücklich entschieden. Die Verneinung des Rechts, auf ein vorübergehendes Leistungsverweigerungsrecht (Zurückbehaltungsrecht) aufmerksam zu machen (oben zu 1.), nimmt die Entscheidung aber im Grundsatz vorweg. Der Gesetzgeber hat sich mit der Neufassung des § 139 ZPO durch das Zivilprozeßreformgesetz diesen Standpunkt zu eigen gemacht. Die neuen Regeln der materiellen Prozeßleitung sehen nach Wortlaut und Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 14/4722, S. 77) davon ab, den Gerichten inhaltlich engere oder detailliertere Vorgaben zu machen als das bisherige Recht. § 139 Abs. 1 ZPO hebt danach zwar insgesamt hervor, daß das Gericht im offenen Gespräch mit den Parteien die entscheidungserheblichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte erörtern und auf eine allseits sachdienliche Verfahrensführung hinwirken soll. Er beläßt es jedoch bei dem Grundsatz, daß es nicht Aufgabe des Gerichts ist, durch Fragen oder Hinweise neue Anspruchsgrundlagen, Einreden oder Anträge einzuführen, die in dem streitigen Vortrag der Parteien nicht zumindest andeutungsweise bereits eine Grundlage haben. Das Ausbleiben von Hinweisen, für die danach kein Raum besteht, macht eine Entscheidung auch nicht überraschend im Sinne des § 139 Abs. 2 ZPO (ausdrücklich zu § 139 Abs. 2 der Referentenentwurf des BMJ, Stand 23. Dezember 1999, Entwurfsbegründung S. 109). Hiermit weicht der Senat nicht von der vom IV. Zivilsenat in der Entscheidung vom 12. November 1997 (oben zu 2.) zu § 278 Abs. 3 ZPO a. F. vertretenen Meinung ab. Der IV. Zivilsenat hat aus der in den Grundzügen § 139 Abs. 2 ZPO entsprechenden Vorschrift nicht die allgemeine Befugnis des Richters hergeleitet, den Anspruchsgegner auf die Möglichkeit hinzuweisen, er könne sich mit dem Eintritt der Verjährung verteidigen. Bei dem vom IV. Zivilsenat zu beurteilenden Sachverhalt war es vielmehr geboten, die Revisionsparteien auf eine bestimmte Rechtsprechung hinzuweisen, aus der unübersehbar die Anwendung einer bestimmten Verjährungsvorschrift folgte. Daß der abgelehnte Richter bei den Vergleichsgesprächen in der Revisionsinstanz auf diese Rechtsfolge hingewiesen hatte, machte ihn nicht befangen.
[12] 4. Der Senat hat nicht darüber zu befinden, ob andere Vorschriften, etwa die Pflicht, auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits bedacht zu sein (§ 278 ZPO), überhaupt, unter welchen Voraussetzungen und wenn ja, in welcher Weise, den Hinweis auf die Einrede erlauben. Er hat sich deshalb auch nicht mit der Gesamtheit der in Rechtsprechung und Literatur geführten Diskussion über das Ablehnungsrecht der Parteien im Falle des Hinweises auf die Verjährung zu befassen (zum Streitstand vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 23. Aufl. § 42 Rdn. 27). Im Streitfalle entbehrte der Hinweis jeder in Frage kommenden Rechtsgrundlage. Der Richter hat, noch bevor der Beklagte überhaupt Gelegenheit hatte, sich zu äußern, diesem einen Weg aufgezeigt, der nach seiner Auffassung zum Erfolg der Rechtsverteidigung und zum Mißerfolg der Klage führte. Damit hat er sich aus der verständlichen Sicht der Klägerin parteilich gezeigt. Daß der Hinweis unmittelbar gegenüber der Klägerin erfolgte, ändert hieran angesichts des Umstandes, daß er nach der Anordnung des Richters dem Beklagten bekanntzugeben war, entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts, nichts. Ohne Einfluß auf den Erfolg des Ablehnungsgesuches ist auch der Umstand, daß der Hinweis inhaltlich unzutreffend war (die Zustellung des Mahnbescheides hatte die am 8. November 2000 begonnene, zweijährige Verjährungsfrist des Art. 233 § 2a Abs. 1 Satz 7 gehemmt; § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB, Art. 229 § 6 Abs. 1 EGBGB).
[13] 5. Der Ablehnungsgrund entfällt nicht deshalb, weil das Verhalten des Richters jedenfalls vertretbar gewesen wäre (zu diesem Gesichtspunkt statt aller Zöller/Vollkommer aaO, Rdn. 27 m. w. N.). Das war nicht der Fall. Im übrigen ist, wenn man bei der Beurteilung der Befangenheit des Richters auf diesen Gesichtspunkt abstellen will (dazu auch BGH, Urteil vom 12. November 1997, oben zu 2; Beschluß vom 29. November 1995, XII ZR 140/94, BGHR ZPO § 42 Abs. 2, Rechtsauffassung 1), zwischen Äußerungen über Rechts- und tatsächliche Fragen im allgemeinen und einem Hinweis darauf, daß ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel in den Prozeß eingeführt werden könne, zu unterscheiden. Im letzteren Fall müssen, wegen der eklatanten Gefahr, von einer Gleichbehandlung der Parteien abzuweichen, an die Vertretbarkeit des Hinweises strenge Anforderungen gestellt werden. Anderenfalls wäre es dem Richter an die Hand gegeben, über die Grenzen seiner Neutralitätspflicht selbst zu entscheiden. Die danach zu stellenden Anforderungen wären im Streitfall unter keinem Gesichtspunkt erfüllt gewesen.