Bundesgerichtshof
Unter dem Gesichtspunkt einer Marktstörung ist der unentgeltliche Vertrieb einer durch Anzeigen finanzierten Tageszeitung auch dann nicht wettbewerbswidrig, wenn er zu Absatzeinbußen der bestehenden Kauf- und Abonnementzeitungen führt. Das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralität verbietet es, einer Kauf- und Abonnementzeitung von vornherein einen höheren Schutz vor einer Marktstörung zuzubilligen als einer vollständig durch Anzeigen finanzierten Zeitung.
BGH, Urteil vom 20. 11. 2003 – I ZR 151/01 – 20 Minuten Köln (lexetius.com/2003,3642)
[1] Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2003 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Ullmann und die Richter Prof. Starck, Prof. Dr. Bornkamm, Dr. Büscher und Dr. Schaffert für Recht erkannt:
[2] Die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 11. Mai 2001 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
[3] Tatbestand: Die Klägerin gibt die Tageszeitungen "Kölner Stadt-Anzeiger", "Kölnische Rundschau" und den "EXPRESS" heraus. Der "EXPRESS" ist eine sogenannte Boulevardzeitung, die im Raum Köln/Bonn mit einer Auflage von etwa 253. 000 Exemplaren erscheint und dort mit der vom Axel Springer Verlag herausgegebenen Tageszeitung "BILD" konkurriert, die in diesem Erscheinungsgebiet eine tägliche Auflage von etwa 85. 000 Exemplaren erreicht.
[4] Die Beklagte ist die deutsche Tochtergesellschaft des größten norwegischen Medienkonzerns, der u. a. auch Tageszeitungen verlegt, die sich ausschließlich aus Anzeigen finanzieren und an die Leser auf Dauer unentgeltlich abgegeben werden. Die Beklagte ließ erstmals am 13. Dezember 1999 in Köln eine solche für die Leser unentgeltliche Tageszeitung mit dem Titel "20 Minuten Köln" verteilen. Diese Zeitung mit einer Startauflage von 150. 000 Exemplaren verfügte über einen redaktionellen Teil, der etwa zwei Drittel ihres Inhalts ausmachte und lokale Nachrichten sowie Berichte insbesondere aus Politik, Kultur und Sport enthielt. Sie wurde montags bis freitags in allen Kölner Straßenbahn- und U-Bahn-Stationen in Zeitungsboxen ausgelegt sowie von Mitarbeitern der Beklagten an belebten Stellen im Kölner Stadtgebiet verteilt. Dieser unentgeltliche Vertrieb ist – abgesehen von einer zweimonatigen Unterbrechung, die durch eine vom Kammergericht (GRUR 2000, 624) aufgehobene einstweilige Verfügung des Landgerichts Berlin verursacht worden war – jedenfalls bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz am 16. März 2001 aufrechterhalten worden. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt erschienen auch die kostenlos verteilten Tageszeitungen "Kölner Morgen" aus dem Hause der Klägerin und "Köln Extra" des Axel Springer Verlages, die als Reaktion auf das Erscheinen von "20 Minuten Köln" ins Leben gerufen worden waren.
[5] Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die kostenlose Abgabe einer Tageszeitung verstoße unter dem Gesichtspunkt einer Marktstörung und einer unzulässigen Wertreklame gegen § 1 UWG. Ein solches Wettbewerbsverhalten berge für die gegen Entgelt angebotenen Tageszeitungen die Gefahr von Verkaufs- und Anzeigenrückgängen in sich, die sich im Streitfall auch realisiert habe. Langfristig stelle der unentgeltliche Vertrieb eine Existenzbedrohung für verkaufte Tageszeitungen dar und gefährde daher die unabhängige Presseberichterstattung.
[6] Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verurteilen, es zu unterlassen, zu Wettbewerbszwecken (hilfsweise: im Gebiet der Stadt Köln) ein täglich von montags bis freitags erscheinendes Presseerzeugnis mit Inhalt und Aufmachung nach Art einer Tageszeitung wie nachstehend wiedergegeben (es folgen Kopien von S. 3 bis 26 der Ausgabe von "20 Minuten Köln" vom 13. 12. 1999) unentgeltlich zu verbreiten, verbreiten zu lassen, abzugeben und/oder abgeben zu lassen.
[7] Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat die Auffassung vertreten, daß ein generelles Verbot, anzeigenfinanzierte Tageszeitungen zu vertreiben, mit Art. 5 GG unvereinbar sei. Eine Gefährdung des Bestandes der herkömmlichen Tageszeitungen durch den Vertrieb ausschließlich anzeigenfinanzierter Zeitungen sei im übrigen nicht dargetan.
[8] Das Landgericht hat die Klage unter Bezugnahme auf die im Verfügungsverfahren ergangenen Entscheidungen (LG Köln ZUM-RD 2000, 190; OLG Köln ZUM-RD 2000, 377) abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (OLG Köln ZUM-RD 2001, 393).
[9] Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie ihren Unterlassungsanspruch weiterverfolgt. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
[10] Entscheidungsgründe: I. Das Berufungsgericht hat einen Wettbewerbsverstoß der Beklagten verneint und zur Begründung ausgeführt:
[11] Eine unzulässige Wertreklame unter dem Gesichtspunkt eines übertriebenen Anlockens komme im Streitfall nicht in Betracht, weil die Beklagte die Leser durch das unentgeltliche Verteilen nicht zu einem späteren entgeltlichen Bezug ihrer Zeitung veranlassen wolle; im Falle der Beklagten sei vielmehr der unentgeltliche Vertrieb auf Dauer angelegt. Auch die Voraussetzungen einer wettbewerbswidrigen Marktstörung seien nicht gegeben. Allein der Umstand, daß eine gewöhnlich nur gegen Entgelt erbrachte Leistung unentgeltlich angeboten werde, lasse noch nicht ohne weiteres auf eine wettbewerbswidrige Marktstörung schließen. Vielmehr müsse ein weiteres Element hinzutreten, um die Unlauterkeit zu begründen. Alsdann habe unter Würdigung aller Gesamtumstände eine Interessenabwägung stattzufinden. Dabei treffe im allgemeinen denjenigen, der sich auf die Marktstörung berufe, die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen. Im Streitfall gelte nicht etwa deswegen etwas anderes, weil der Gratisvertrieb einer Tageszeitung in Rede stehe und die Allgemeinheit ein schützenswertes Interesse am Bestand der herkömmlichen Presse als Institution zur Bildung der Meinungsvielfalt habe. Die Entwicklung am Markt habe dazu geführt, daß auch Tageszeitungen mit einem anspruchsvollen redaktionellen Teil ausschließlich durch Anzeigen finanziert und kostenlos verteilt würden. Dieses Konzept begegne nicht von vornherein wettbewerbs- oder verfassungsrechtlichen Bedenken. Unter diesen Umständen reichten bloße Mutmaßungen über eine Bestandsgefährdung entgeltlich vertriebener Tageszeitungen, über Qualitätseinbußen im redaktionellen Teil oder über einen erhöhten Einfluß der Anzeigenkunden auf die Redaktionen nicht aus, um den in einem wettbewerbsrechtlichen Verbot liegenden massiven Eingriff in die Presse- und Informationsfreiheit zu rechtfertigen. Auch auf dem Kölner Zeitungsmarkt, auf den der Hilfsantrag abstelle, sei der Bestand der herkömmlichen Tageszeitungen selbst nach eineinhalbjähriger Präsenz der unentgeltlich verteilten Tageszeitung der Beklagten – soweit ersichtlich – keinen ernstlichen Gefahren ausgesetzt. Der von der Klägerin vorgetragene Absatzrückgang in Höhe von 6 bis 20 % – Einbußen im Anzeigengeschäft seien nicht vorgetragen – reiche nicht aus, um eine Bestandsgefährdung anzunehmen. Dabei bleibe noch unberücksichtigt, daß der Absatz der entgeltlich vertriebenen Tageszeitungen der Klägerin auch unter der eigenen Gratiszeitung der Klägerin und dem entsprechenden Abwehrblatt des Axel Springer Verlages gelitten habe. Diese Beurteilung schließe es nicht aus, daß unter veränderten Umständen das Individualrecht der Beklagten, den Vertriebsweg für ihre Zeitung frei zu wählen, hinter der institutionellen Garantie der Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zurücktreten müssen.
[12] II. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben keinen Erfolg. Mit Recht hat das Berufungsgericht das beanstandete Verhalten der Beklagten, die Tageszeitung "20 Minuten Köln" unentgeltlich zu vertreiben, nicht als wettbewerbswidrig angesehen.
[13] 1. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, daß im Streitfall die Voraussetzungen einer wettbewerbswidrigen Wertreklame im Sinne einer unlauteren Kundenbeeinflussung nach § 1 UWG nicht vorliegen.
[14] a) Der Begriff der Wertreklame besagt, daß ein Kaufmann nicht mit Worten, sondern mit Werten Werbung treibt, daß er also etwas verschenkt, sei es eine ungekoppelte Werbegabe, sei es eine Zugabe oder sei es die Ware selbst, für deren entgeltlichen Absatz er damit zugleich wirbt. Eine solche Wertreklame ist nicht stets wettbewerbswidrig, sie kann aber im Einzelfall – etwa unter dem Gesichtspunkt einer Preisverschleierung, eines übertriebenen Anlockens oder eines psychischen Kaufzwangs – ausnahmsweise gegen die Regeln lauteren Wettbewerbs verstoßen (BGH, Urt. v. 18. 9. 1997 – I ZR 119/95, GRUR 1998, 475, 476 = WRP 1998, 162 – Erstcoloration; Urt. v. 26. 3. 1998 – I ZR 231/95, GRUR 1998, 1037, 1038 = WRP 1998, 727 – Schmuck-Set; Urt. v. 28. 1. 1999 – I ZR 192/96, GRUR 1999, 755, 756 = WRP 1999, 828 – Altkleider-Wertgutscheine; BGHZ 151, 84, 88 ff. – Kopplungsangebot I; BGH, Urt. v. 13. 6. 2002 – I ZR 71/01, GRUR 2002, 979, 980 ff. = WRP 2002, 1259 – Kopplungsangebot II; Urt. v. 22. 5. 2003 – I ZR 185/00, GRUR 2003, 804 f. = WRP 2003, 1101 – Foto-Aktion; Urt. v. 22. 5. 2003 – I ZR 8/01, GRUR 2003, 1057 = WRP 2003, 1428 – Einkaufsgutschein I, jeweils m. w. N.).
[15] b) Im Streitfall kommt eine wettbewerbswidrige Wertreklame von vornherein nicht in Betracht, weil bei einem Zeitungsvertrieb, der auf Dauer darauf eingerichtet ist, die Zeitung ohne Entgelt abzugeben, eine auf den Erwerb einer entgeltlichen Leistung gerichtete unsachliche Beeinflussung des Empfängers ausscheidet (vgl. BGHZ 81, 291, 294 f. – Bäckerfachzeitschrift; OLG Karlsruhe WRP 1996, 118, 119). Ein Zeitungsverleger setzt seine Ware oder Leistung auf zwei verschiedenen Märkten ab, auf dem Lesermarkt und auf dem Anzeigenmarkt. Entscheidet er sich dafür, nur auf dem einen der beiden Märkte ein Entgelt zu verlangen, verursacht das unentgeltliche Angebot auf dem anderen Markt keine unsachliche Beeinflussung der Marktgegenseite, weil diese von vornherein nicht für ein Umsatzgeschäft gewonnen werden soll. Der Vorwurf, er verschenke eine geldwerte journalistische Leistung, kann dem Verleger, der seine Zeitung unentgeltlich abgibt, nicht gemacht werden, solange sie sich – wenn auch nicht in der Anlaufphase, so doch auf längere Sicht – ausschließlich durch Anzeigen finanzieren soll. Denn er läßt sich seine Leistung in diesem Fall bezahlen, wenn auch nicht vom Leser, so doch vom Anzeigenkunden (vgl. Hefermehl in der Anmerkung zur Senatsentscheidung "Bliestal-Spiegel" GRUR 1985, 881, 883; OLG Karlsruhe WRP 1996, 118, 119 f.). Derartige Finanzierungsmodelle sind auch sonst gang und gäbe, etwa bei Internet-Diensten oder beim privaten Rundfunk, ohne daß hierin ein wettbewerbswidriges Verhalten gesehen wird.
[16] 2. Mit Recht hat das Berufungsgericht auch einen Wettbewerbsverstoß der Beklagten unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen Marktbehinderung nach § 1 UWG verneint.
[17] a) Das Verschenken von Ware kann auch dann wettbewerbswidrig sein, wenn es eine allgemeine Marktbehinderung oder Marktstörung zur Folge hat. Ein solcher Fall ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann gegeben, wenn das Wettbewerbsverhalten allein oder in Verbindung mit zu erwartenden gleichartigen Maßnahmen von Mitbewerbern die ernstliche Gefahr begründet, der auf der unternehmerischen Leistung beruhende Wettbewerb werde in erheblichem Maße eingeschränkt (vgl. BGHZ 114, 82, 84 – Motorboot-Fachzeitschrift; BGH, Urt. v. 29. 6. 2000 – I ZR 128/98, GRUR 2001, 80, 81 = WRP 2000, 1394 – ad-hoc-Meldung; Urt. v. 14. 12. 2000 – I ZR 147/98, GRUR 2001, 752, 753 = WRP 2001, 688 – Eröffnungswerbung). Damit soll im Interesse der betroffenen Wettbewerber, in dem sich das Interesse der Allgemeinheit am Bestand des Wettbewerbs widerspiegelt, auch in Fällen, in denen eine gezielte Verdrängungsabsicht nicht vorliegt, verhindert werden, daß durch ein systematisches Verschenken von Waren oder durch einen Verkauf unter Einstandspreis der Wettbewerbsbestand gefährdet wird (vgl. BGH, Urt. v. 27. 10. 1988 – I ZR 29/87, GRUR 1990, 371, 372 = WRP 1989, 468 – Preiskampf).
[18] Eine Marktverhaltenskontrolle läuft in diesem Fall – ähnlich wie bei den die Kontrolle von Marktmacht betreffenden Bestimmungen der §§ 19 und 20 GWB, die den Wettbewerb als Institution zu schützen bestimmt sind – gleichzeitig auf eine Marktstrukturkontrolle hinaus. Dieser Umstand und die damit verbundene parallele Anwendung der Bestimmungen des UWG und des GWB führen dazu, daß auch bei der lauterkeitsrechtlichen Beurteilung stets die Zielsetzung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen berücksichtigt werden muß. Insbesondere ist zu beachten, daß dem lauterkeitsrechtlichen Verbot nicht die Wirkung zukommt, ohnehin bestehende Marktzutrittsschranken zu erhöhen und damit zu einer Marktabschottung beizutragen.
[19] b) Der Bundesgerichtshof hat entschieden, daß die Gratisverteilung von Anzeigenblättern, die über einen redaktionellen Teil verfügen, unter besonderen Umständen gegen § 1 UWG verstoßen kann (vgl. BGHZ 19, 392, 397 f. – Freiburger Wochenbericht; 51, 236, 238 – Stuttgarter Wochenblatt I; BGH, Urt. v. 22. 11. 1984 – I ZR 98/82, GRUR 1985, 881, 882 = WRP 1985, 330 – Bliestal-Spiegel). Ein solcher Verstoß soll insbesondere dann vorliegen, wenn der redaktionelle Teil des Anzeigenblattes geeignet sei, für einen nicht unerheblichen Teil des Publikums eine Tageszeitung zu ersetzen, und wenn die ernstliche Gefahr bestehe, daß deshalb die Tagespresse als Institution in ihrem verfassungsrechtlich garantierten Bestand bedroht sei (BGH GRUR 1985, 881, 882 – Bliestal-Spiegel, m. w. N.). Dabei hat der Senat jedoch klargestellt, daß auch die ständige Gratisverteilung von Anzeigenblättern und Fachzeitschriften mit einem gewissen Eigenwert des redaktionellen Teils nicht ohne weiteres, sondern nur unter besonderen Umständen gegen § 1 UWG verstößt (BGHZ 81, 291, 294 – Bäckerfachzeitschrift; BGH GRUR 1985, 881, 882 – Bliestal-Spiegel). Außerdem hat der Senat betont, daß im Geschäftsleben niemand Anspruch auf eine unveränderte Erhaltung seines Kundenkreises hat und daß auch neuartige und vielleicht besonders wirksame Wettbewerbsmaßnahmen nicht schon deshalb als unlauter zu mißbilligen sind, weil sie sich für Mitbewerber wegen ihres Erfolges nachteilig auswirken (BGHZ 51, 236, 242 – Stuttgarter Wochenblatt I; BGH, Urt. v. 12. 10. 1989 – I ZR 155/87, GRUR 1990, 44, 45 = WRP 1990, 266 – Annoncen-Avis; BGHZ 114, 82, 84 – Motorboot-Fachzeitschrift).
[20] c) Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, der Bestand ihrer Tageszeitungen müsse schon aus verfassungsrechtlichen Gründen vor dem Wettbewerb durch die unentgeltlich vertriebene Tageszeitung der Beklagten geschützt werden.
[21] aa) Die Garantie der Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG unterscheidet nicht danach, ob sich eine Zeitung mit redaktionellem Textteil allein durch Anzeigen oder daneben auch dadurch finanziert, daß der Leser für den Erwerb ein Entgelt zahlen muß (vgl. BGHZ 51, 236, 246 f. – Stuttgarter Wochenblatt I). Bei der institutionellen Garantie der Presse durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geht es nicht darum, den Bestand eines Presseorgans gegen den Wettbewerb durch ein anderes Presseorgan zu schützen. Nur wenn der Bestand eines meinungsbildenden Blattes – also einer Zeitung, die "sich redaktionell vor allem mit allgemein interessierenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegenständen" befaßt und dabei "informierend und kommentierend an der Bildung der öffentlichen Meinung" mitwirkt (BGH GRUR 1985, 881, 882 – Bliestal-Spiegel) – durch ein Konkurrenzprodukt gefährdet würde, das diese Funktionen nicht wahrnehmen könnte, käme ein Rückgriff auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht (vgl. OLG Karlsruhe WRP 1996, 118, 120; vgl. auch Hefermehl in der Anmerkung zur Senatsentscheidung "Stuttgarter Wochenblatt II" GRUR 1971, 477, 479).
[22] bb) Im Streitfall ist nicht ersichtlich, weshalb den von der Klägerin verlegten Tageszeitungen gegenüber der Tageszeitung der Beklagten von Verfassungs wegen eine Vorrangstellung zukommen sollte. Die Bedenken, die die Revision in diesem Zusammenhang generell gegenüber anzeigenfinanzierten Tageszeitungen äußert, können nicht dazu führen, die eine Form der Tageszeitung gegenüber der anderen auch im Rahmen der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung auf eine höhere Stufe zu stellen. Die Revision meint, bei der gratis verteilten Zeitung sei auch die gesamte redaktionelle Arbeit anzeigenfinanziert, so daß die Gefahr der Einflußnahme der Werbetreibenden auf die Arbeit, Ausrichtung und personelle Besetzung der Redaktion bestehe. Diese Erwägung liegt nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung (vgl. BGHZ 114, 82, 86 – Motorboot-Fachzeitschrift; ferner Teplitzky, GRUR 1999, 108, 111). Daraus folgt aber nicht, daß der über die Leserschaft (mit-) finanzierten Tageszeitung von vornherein ein höherer Schutz vor einer Marktstörung zugebilligt werden müßte. Ohne die ebenfalls nicht fernliegende Abhängigkeit der mischfinanzierten Presse von wirtschaftlich bedingten meinungsbildenden Faktoren zu gewichten, schlägt das verfassungsrechtliche Gebot, bei der Wertung redaktioneller Berichterstattung Neutralität zu wahren, auch bei der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung durch. Entgegen der Ansicht der Revision kann der Klägerin deshalb auch kein präventiver Schutz zugesprochen und das unentgeltliche Verteilen von Tageszeitungen unabhängig vom Vorliegen einer konkreten Gefährdung des Bestands als wettbewerbswidrig angesehen werden. Eine dahingehende Äußerung kann der Senatsentscheidung "Stumme Verkäufer" (Urt. v. 15. 2. 1996 – I ZR 1/94, GRUR 1996, 778, 780 = WRP 1996, 889) nicht entnommen werden. In keinem Fall reicht eine abstrakte Gefährdung aus, um das beanstandete Marktverhalten zu verbieten. Im übrigen gelten für die einen wie für die anderen Tageszeitungen dieselben presse- und lauterkeitsrechtlichen Regeln, mit denen beispielsweise eine redaktionell getarnte Werbung verhindert werden kann.
[23] cc) Nicht weiterführend ist die Parallele, die die Revision zur Rundfunkordnung ziehen möchte. Sie verweist darauf, daß das mit einer ausschließlichen Werbefinanzierung verbundene Gefährdungspotential für den Rundfunk schon seit längerem bekannt sei; dies habe zur Folge, daß das Bundesverfassungsgericht die ausschließliche Werbefinanzierung als unvereinbar mit der grundgesetzlich geschützten Informationsfreiheit und der Institution eines freien Rundfunks angesehen habe. Die Revision verkennt hierbei, daß in der dualen Rundfunkordnung neben den öffentlichrechtlichen Anstalten auch die ausschließlich werbefinanzierten privaten Rundfunkunternehmen ihren festen Platz haben. Im übrigen kann auch das mit den Abonnementzeitungen am ehesten vergleichbare sogenannte Bezahlfernsehen, das sich durch Abonnenten finanziert, nicht beanspruchen, daß ihm durch werbefinanzierte Fernsehsender kein Wettbewerb erwächst.
[24] d) Auch die weiteren Umstände des Streitfalls, die sämtlich zur Prüfung heranzuziehen sind (vgl. BGHZ 81, 291, 294 – Bäckerfachzeitschrift; Hefermehl, GRUR 1985, 883), rechtfertigen es nicht, der Beklagten den Betrieb einer rein anzeigenfinanzierten Zeitung mit Hilfe des Wettbewerbsrechts zu untersagen.
[25] aa) Der vorgetragene Absatzrückgang bei den Zeitungen der Klägerin deutet entgegen der Ansicht der Revision nicht darauf hin, daß das Verhalten der Beklagten wettbewerbsrechtlich zu beanstanden wäre. Die Klägerin hat hierzu vorgetragen, daß sie in der Zeit, in der ihre Blätter dem Wettbewerb der Beklagten mit ihrer Zeitung "20 Minuten Köln" ausgesetzt waren, Absatzrückgänge zwischen 6 und 20 % zu verzeichnen hatte. Zu ihren Gunsten ist von diesem – bestrittenen – Vortrag im Revisionsverfahren auszugehen. Es kann auch unterstellt werden, daß dieser Rückgang auf den Wettbewerb durch die neue Tageszeitung der Beklagten zurückzuführen ist. Daraus läßt sich indessen kein die Unlauterkeit begründendes Merkmal ableiten. Es ist nicht Aufgabe des Wettbewerbsrechts, den Bestand bestehender wettbewerblicher Strukturen zu bewahren und wirtschaftlichen Entwicklungen entgegenzusteuern, in denen die bisherigen Marktteilnehmer mit Recht eine Bedrohung ihres Kundenstammes erblicken. Denn es ist gerade Sinn der Wettbewerbsrechtsordnung, dem freien Spiel der Kräfte des Marktes im Rahmen der gesetzten Rechtsordnung Raum zu gewähren (BGH GRUR 1990, 44, 45 – Annoncen-Avis; BGHZ 114, 82, 84 – Motorboot-Fachzeitschrift). Die Klägerin kann daher keine Sicherung ihres Bestandes – schon gar nicht auf dem vor Eintritt des Wettbewerbers gehaltenen Niveau – beanspruchen.
[26] bb) Eine Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb führt zu keiner anderen Sichtweise. Die Verhältnisse auf den lokalen und regionalen Pressemärkten haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Während die lokalen und regionalen Tageszeitungen in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einem nicht unerheblichen Wettbewerb ausgesetzt waren, sind die lokalen und regionalen Tageszeitungen heute in ihren Kernverbreitungsgebieten vielfach Monopolanbieter auf dem Lesermarkt. Lediglich dort, wo sich die Verbreitungsgebiete benachbarter Lokal- oder Regionalzeitungen überschneiden, herrscht noch Wettbewerb. So waren auch die Blätter der Klägerin auf dem regionalen Lesermarkt der meinungsbildenden Tageszeitungen in Köln bis zum Erscheinen des Blattes der Beklagten keinem Wettbewerb ausgesetzt.
[27] Neu hinzutretende Wettbewerber können in den auf diese Weise strukturierten Märkten nur schwer Fuß fassen. Die Marktzutrittsschranken sind extrem hoch. Bislang mußten Monopolanbieter, nachdem sie einmal diese Stellung errungen hatten, mit dem Zutritt neuer Wettbewerber nicht mehr rechnen. Auch heute noch erscheint es ausgeschlossen, daß ihnen Konkurrenz durch andere Abonnementzeitungen erwächst. Möchte sich ein neuer Anbieter etablieren, bleibt ihm kaum eine andere Wahl als den der ausschließlich anzeigenfinanzierten Tageszeitung (vgl. Berst, AfP 1999, 425, 429). Diesen aufkeimenden Wettbewerb mit Hilfe des Lauterkeitsrechts zu verbieten und sich zur Rechtfertigung auf den Schutz des Wettbewerbs zu berufen, hieße, die Dinge auf den Kopf zu stellen.