Bundesgerichtshof
Der Lauf der Verjährung bei dem Schadensersatzanspruch eines Arbeitgebers gegen den Steuerberater, welcher die Lohnabrechnungen für ihn besorgt und hierbei keinen Arbeitnehmeranteil der Rentenversicherungsbeiträge abzieht, beginnt in Fällen der unerkannten Beitragspflicht eines Mitarbeiters erst mit dem Zugang des entsprechenden Nachforderungsbescheides der zuständigen Behörde.
Auf den Regreßschaden eines Arbeitgebers, der infolge unerkannter Versicherungspflicht eines Mitarbeiters keinen Arbeitnehmeranteil vom Lohn abzieht und diesen Abzug nicht mehr nachholen kann, ist der Vorteil anzurechnen, den die Verjährung von Beitragsansprüchen gegen den Arbeitgeber aus dem nämlichen Grund wegen des Arbeitgeberanteils bewirkt.
BGH, Urteil vom 23. 9. 2004 – IX ZR 148/03 (lexetius.com/2004,2316)
[1] Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. Juni 2004 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Kreft und die Richter Dr. Ganter, Raebel, Kayser und Cierniak für Recht erkannt:
[2] Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der Zivilkammer 55 des Landgerichts Berlin vom 20. Mai 2003 aufgehoben.
[3] Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
[4] Tatbestand: Die Beklagten besorgten als Steuerberater der Klägerin neben anderen Tätigkeiten die Lohnabrechnungen, und zwar insbesondere in den Jahren 1996 bis 1999. Für den seit 1987 teilzeitbeschäftigten Mitarbeiter G. entrichtete die Klägerin keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Die Beklagten zogen dem Arbeitnehmer dementsprechend keinen Beitragsanteil vom Lohn ab. Anläßlich einer Außenprüfung im Jahr 2000 stellte die Landesversicherungsanstalt abweichend von dem Ergebnis einer vorausgegangenen Prüfung fest, daß G. nicht nach § 1229 Abs. 1 Nr. 6 RVO, § 230 Abs. 1 Satz 2 SGB VI versicherungsfrei war, weil seine Beamtenversorgung nur 57 v. H. der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge betrug. Daraufhin wurden mit Bescheid vom 7. November 2000 zu den nachentrichteten Arbeitgeberanteilen von der Klägerin insgesamt 10.306,42 DM unverjährte Arbeitnehmeranteile zur Rentenversicherung beginnend mit dem 1. Januar 1996 nachgefordert. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
[5] Durch Lohnabzug vom Arbeitnehmer konnte die Klägerin von dem Nachforderungsbetrag nur noch 578,67 DM erlangen. Für den Unterschiedsbetrag in Höhe von 9.727,75 DM (4.973,72 €) macht sie die Beklagten schadensersatzpflichtig. Die Beklagten reden gegen ihre Haftpflicht, die sie aus Rechtsgründen bestreiten, Verjährung ein.
[6] Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landgericht hat sie abgewiesen. Mit ihrer zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.
[7] Entscheidungsgründe: Die Revision ist begründet; der Senat kann jedoch nicht in der Sache selbst entscheiden.
[8] I. Beide Vorinstanzen haben eine Pflichtverletzung der Beklagten angenommen, weil sie die Lohnabrechnungen der Klägerin unter Mitprüfung der sozialversicherungsrechtlichen Beitragspflichten zu besorgen gehabt hätten. Das Berufungsgericht hat jedoch die Schadensersatzpflicht der Beklagten im Gegensatz zum Amtsgericht mit Ablauf des 30. April 1999, also vor Klagerhebung, für verjährt gehalten, weil der Beitragsabzug vom Arbeitslohn hier nach der Regel des Gesetzes nur bei den drei nächsten Lohn- oder Gehaltszahlungen habe nachgeholt werden können. Der dadurch verursachte Schaden sei seit dem 1. Mai 1996 zwar fortlaufend entstanden, aber mit dem ersten Teilschaden einheitlich nach Ablauf von drei Jahren verjährt.
[9] II. Gegen die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts wendet sich die Revision mit Erfolg. Das Berufungsurteil kann daher mit der bisherigen Begründung nicht bestehen bleiben.
[10] 1. Die Haftungsverjährung des § 68 StBerG hat gegen die Beklagten mit der monatlich vorrückenden Abzugssperre des § 28g Satz 2 bis 4 SGB IV seit dem 1. Mai 1996 weder einheitlich noch schrittweise begonnen. Denn vor der Beitragsnacherhebung im Gefolge der Betriebsprüfung des Jahres 2000 bestand für die Klägerin insoweit nur ein Schadensrisiko. Diese Frage ist in der bisherigen Rechtsprechung noch offengelassen worden (vgl. BGH, Urt. v. 12. Februar 2004 – IX ZR 246/02, BGH-Report 2004, 809, 811 unter IV. 1. b. a. E.). Sie ist im Streitfall zugunsten der Auftraggeberin zu entscheiden.
[11] a) Der nach § 28g Satz 2 bis 4 SGB IV verhinderte Abzug des Arbeitnehmeranteils an den Rentenversicherungsbeiträgen darf als Schaden des Arbeitgebers nicht isoliert betrachtet werden, wenn für den Arbeitnehmer irrtümlich im Rahmen des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d SGB IV) keinerlei Beitragsteile zur Rentenversicherung abgeführt worden sind. Denn die Abzugssperre wirkt sich nur aus, wenn und soweit gegen den Arbeitgeber ein durchsetzbarer Beitragsanspruch (§ 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV) besteht. Insoweit handelt es sich – wie bei der Erfüllung eines Steuertatbestandes (§ 38 AO) – um eine abstrakte gesetzliche Abgabenschuld (§ 22 Abs. 1 SGB IV). Sie bedarf allerdings zur Beitragserhebung, anders als die Steuererhebung nach den §§ 218, 155 AO, nicht schon für den Regelfall eines Festsetzungsbescheides, weil Grund und Höhe der Beitragspflicht von dem Arbeitgeber leicht festgestellt werden können. Werden jedoch Beitragsansprüche nicht rechtzeitig erfüllt, ergehen durch die Einzugsstellen nach § 28b Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SGB IV gleichfalls Bescheide zu ihrer Durchsetzung gegen den säumigen Arbeitgeber. Dasselbe gilt nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV für die hierzu verpflichteten Rentenversicherungsträger, wenn eine Außenprüfung bislang nicht erkannte Beitragspflichten eines Arbeitgebers aufdeckt. Im letztgenannten Fall bestehen vor Erlaß eines Beitragsbescheids gegen den Arbeitgeber ähnliche Unsicherheiten über die Verwirklichung des Schadensrisikos, welches die Abzugssperre des § 28g Satz 2 bis 4 SGB IV für den Arbeitgeber darstellt, wie vor der belastenden Konkretisierung eines Steuerschuldverhältnisses nach Durchführung einer steuerrechtlichen Gestaltung.
[12] b) Der Streitfall verdeutlicht, welche Unsicherheiten mit der Aufdeckung eines Beitragstatbestandes bei bestimmten Beschäftigungsverhältnissen im Einzelfall verbunden sein können. Der hier betroffene Arbeitnehmer war bei der Klägerin bereits seit dem Jahre 1987 beschäftigt. Die Beitragsansprüche aus der Zeit vor dem 1. Januar 1996 konnten wegen Verjährung (§ 25 SGB IV) nicht mehr durchgesetzt werden. Ein Schaden durch die Abzugssperre ist in diesem Zeitraum bei wertender Betrachtung nicht erst durch Verjährung im Außenverhältnis weggefallen, sondern von vornherein nicht entstanden. Selbst der zuständige Rentenversicherungsträger hatte bei einer vorausgegangenen Außenprüfung den Beitragstatbestand noch nicht erkannt. Im Nacherhebungsverfahren hatte er sich auf den Widerspruch der Klägerin daher sogar mit dem Verwirkungseinwand auseinanderzusetzen.
[13] Es wäre unter diesen Umständen nach Berücksichtigung der beiderseitigen Belange von Arbeitgeber und steuerlichen Beratern unangemessen, die Verjährung der Haftung nach § 68 StBerG hier mit dem Berufungsgericht bereits zu einem Zeitpunkt eintreten zu lassen, bevor sich das unvermutete Schadensrisiko in einem Leistungsbescheid verwirklichte.
[14] 2. Die Rechtssache ist nach dem festgestellten Sachverhältnis jedoch noch nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO), sondern an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Denn anhand des bisherigen Streitstoffs läßt sich der Haftungstatbestand rechtlich nicht abschließend beurteilen. Der Schaden der Klägerin kann auch nicht mit Beschränkung auf den Zeitausschnitt berechnet werden, welcher der Klage zugrunde liegt.
[15] III. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf folgendes hin:
[16] 1. Der steuerliche Berater, der im Auftrag des Arbeitgebers die Lohnabrechnungen besorgt, muß grundsätzlich auch prüfen, ob für Arbeitnehmer eine Befreiung von der Versicherungspflicht in Betracht kommt, wenn Beiträge nicht abgeführt werden (vgl. BGH, Urt. v. 12. Februar 2004 aaO S. 810 f; OLG Celle VersR 2001, 1437, 1438). Ergeben sich in einem solchen Fall tatsächliche Unklarheiten oder sozialversicherungsrechtliche Schwierigkeiten, so ist der steuerliche Berater gehalten, die Unklarheiten durch eigene Rückfragen auszuräumen oder deswegen ebenso wie für die Klärung sozialversicherungsrechtlicher Zweifel auf die Einschaltung eines hierfür fachlich geeigneten Beraters hinzuwirken.
[17] Im Streitfall steht nicht fest, was die Beklagten über die Beitragspflicht des Mitarbeiters G. den Arbeitgeberunterlagen der Klägerin entnehmen konnten. Offen ist auch, was bei Unvollständigkeit der Arbeitgeberunterlagen eine dann gebotene Rückfrage der Beklagten bei der Klägerin ergeben hätte. Ungeklärt ist ferner, weshalb die Betriebsprüfung des Jahres 1996 noch nicht beanstandet hat, daß für den Mitarbeiter G. keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt wurden. Denn die Parteien haben den 1996 erstellten Betriebsprüfungsbericht bisher nicht in den Rechtsstreit eingeführt.
[18] Nach allgemeiner Lebenserfahrung spricht vieles dafür, daß die Beklagten bei einem "unverdächtigen" Prüfungsergebnis im Jahre 1996 kein Vorwurf mehr treffen kann, daß sie danach selbst noch kritischer hätten sein müssen als der zuständige Prüfungsdienst. Die Beklagten würden dann für den eingetretenen Schaden nur einzustehen haben, wenn sie bereits vor der Betriebsprüfung des Jahres 1996 nach der bestehenden Aktenlage auf die tatsächliche und rechtliche Klärung einer möglichen Befreiung G. von der Versicherungspflicht hätten hinwirken müssen und in der Folge die unerkannte Beitragspflicht schon vor oder spätestens bei der Betriebsprüfung im Jahre 1996 aufgedeckt worden wäre.
[19] Den Beklagten könnte dabei auch zugerechnet werden, wenn als Folge eines unterbliebenen Hinweises auf die ungeklärte Beitragsfreiheit des Mitarbeiters G. die Notwendigkeit eines Befreiungsantrages nach § 1230 RVO oder § 230 SGB VI übersehen worden sein sollte. Nicht vorgetragen worden ist bisher aber auch, ob der betroffene Arbeitnehmer bereit gewesen wäre, einen solchen Befreiungsantrag mit Nachteil für seine Rentenanwartschaften zu stellen.
[20] 2. Die Schadensberechnung verlangt im Streitfall einen Gesamtvermögensvergleich von dem Zeitpunkt ab, an dem die Beklagten im Rahmen ihrer Tätigkeit erstmals auf die Klärung der Beitragspflicht des Arbeitnehmers G. hätten hinwirken müssen und infolgedessen die gesetzlich geschuldeten Rentenversicherungsbeiträge abgeführt worden wären.
[21] Vor dem 1. Januar 1996 würde eine Pflichtverletzung der Beklagten der Klägerin im Ergebnis nur genützt haben, weil sie für den Mitarbeiter G. aufgrund Verjährung gemäß § 25 SGB IV auch wegen ihres Arbeitgeberanteils leistungsfrei geworden ist. Bei pflichtgemäßem Handeln der Beklagten hätte dieser (kongruente) Vorteil nicht entstehen können. Er ist auch nach wertender Betrachtung auf den späteren Schaden der Klägerin anzurechnen. Denn Vor- und Nachteil stammen aus der gleichen Wurzel und sind von gleicher Art. Der Vorteil verjährter Beitragspflicht des Arbeitgebers und der Nachteil des in unverjährter Zeit ausgeschlossenen Abzugs des Arbeitnehmeranteils stehen in einem inneren Zusammenhang, der beide Größen zu einer Rechnungseinheit verbindet (vgl. zur Schadensberechnung insoweit allgemein BGHZ 91, 206, 210; 136, 52, 54 f; BGH, Urt. v. 19. Juli 2001 – IX ZR 62/00, WM 2001, 1605, 1607).
[22] Die Parteien werden Gelegenheit haben, zu den angesprochenen Punkten in der wiedereröffneten Berufungsinstanz ihren Sachvortrag zu ergänzen.