Bundesverwaltungsgericht
Vorläufige Dienstenthebung; Uniformtrageverbot; Verdacht der Misshandlung Untergebener; Grundrechte der Soldaten; Schutz der Rekruten; Dauer des gerichtlichen Disziplinarverfahrens; Ansehen der Bundeswehr.
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1; SG §§ 6, 7, 10 Abs. 3, § 12 Satz 2, § 17 Abs. 2 Satz 1, § 22; WDO § 83 Abs. 3, § 93 Abs. 1 Satz 2, § 94 Abs. 1 Nr. 2, § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2, § 126 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Satz 3; WStG §§ 30, 31; StGB §§ 223, 224; StPO § 170 Abs. 1, § 203; VorgV § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
Zu den gesetzlichen Voraussetzungen der Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung eines Soldaten und des Uniformtrageverbots.

BVerwG, Beschluss vom 19. 1. 2006 – 2 WDB 6.05 (lexetius.com/2006,927)

[1] Die Einleitungsbehörde hat den Soldaten, einen Oberfeldwebel, vorläufig des Dienstes enthoben und ihm verboten, Uniform zu tragen. Sie hält den Soldaten eines schwerwiegenden Dienstvergehens hinreichend verdächtig, weil er u. a. einem Rekruten mittels eines Feldfernsprechers einen Stromschlag versetzt habe. Insoweit ist auch die Anklage der Staatsanwaltschaft durch das Landgericht mit nicht rechtskräftigen Beschluss zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Das Truppendienstgericht hat den Antrag des Soldaten auf Aufhebung der Anordnung zurückgewiesen. Hiergegen hat der Soldat Beschwerde erhoben, die der Senat zurückgewiesen hat.
[2] Gründe: … Nach § 126 Abs. 1 WDO kann die Einleitungsbehörde einen Soldaten vorläufig des Dienstes entheben, wenn das gerichtliche Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wird oder eingeleitet worden ist; mit der vorläufigen Dienstenthebung kann unter denselben Voraussetzungen das Verbot, Uniform zu tragen, verbunden werden. Diese Anordnungen setzen demzufolge die rechtswirksame Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens gegen den Soldaten und eine pflichtgemäße Ermessensausübung der zuständigen Einleitungsbehörde voraus. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
[3] Bei der gerichtlichen Entscheidung darüber, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Einleitungsbehörde erfüllt sind, muss auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgestellt werden (vgl. Beschlüsse vom 22. Juli 2002 BVerwG 2 WDB 1.02 Buchholz 235. 01 § 126 WDO Nr. 1 = NZWehrr 2003, 79 = DokBer 2003, 29 m. w. N. und vom 18. November 2003 BVerwG 2 WDB 2.03 BVerwGE 119, 206 = Buchholz 236. 1 § 8 SG Nr. 5 = NVwZ-RR 2004, 760). Die Sachprüfung in diesem vorläufigen Verfahren gemäß § 126 Abs. 5 Satz 3 i. V. m. § 114 Abs. 3 Satz 2 WDO, das durch einen ohne mündliche Verhandlung ergehenden Beschluss abgeschlossen wird, muss sich hinsichtlich der zu treffenden tatsächlichen Feststellungen seinem Wesen nach auf eine summarische Bewertung und entsprechende Wahrscheinlichkeitserwägungen beschränken. Für eine eingehende Beweiserhebung ist nach der gesetzlichen Regelung kein Raum (stRspr.: vgl. u. a. Beschlüsse vom 22. Juli 2002 BVerwG 2 WDB 1.02 a. a. O. und vom 18. November 2003 BVerwG 2 WDB 2.03 a. a. O.). …
[4] Die Anordnungen der vorläufigen Dienstenthebung und des Uniformtrageverbotes lassen einen Ermessensfehler nicht erkennen. Ein solcher läge nur dann vor, wenn die Einleitungsbehörde sich nicht im Rahmen der ihr vom Gesetz erteilten Ermächtigung gehalten oder wenn sie von ihrem Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hat. Dies ist jedoch nicht der Fall.
[5] Die im pflichtgemäßen Ermessen der Einleitungsbehörde stehenden Anordnungen setzen einen besonderen rechtfertigenden Grund voraus; sie müssen im dienstlichen Interesse geboten sein und dem Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit genügen. Das ist nur dann der Fall, wenn ohne sie der Dienstbetrieb durch den vom gerichtlichen Disziplinarverfahren Betroffenen empfindlich gestört oder in besonderem Maße gefährdet würde. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit erfordert insbesondere, dass die Einleitungsbehörde dem Betroffenen mit ihrer Ermessensentscheidung keine Nachteile zufügt, die außer Verhältnis zu dem Interesse des Dienstherrn stehen, einen Soldaten, der eines schwerwiegenden Dienstvergehens hinreichend verdächtig ist, bis zur endgültigen Klärung dieses Vorwurfs von der Dienstausübung auszuschließen (vgl. Beschluss vom 18. November 2003 BVerwG 2 WDB 2.03 a. a. O. und BVerfG, Beschluss vom 4. Oktober 1977 2 BvR 80/77 BVerfGE 46, 17 = NJW 1978, 152 = DÖV 1977, 274). Im Übrigen ist die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung im Gegensatz zur teilweisen Einbehaltung von Dienstbezügen (§ 126 Abs. 2 Satz 1 WDO) nicht davon abhängig, dass im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf die höchstzulässige Disziplinarmaßnahme erkannt wird.
[6] Der für die Anordnungen der vorläufigen Dienstenthebung und des Uniformtrageverbotes erforderliche besondere rechtfertigende Grund liegt hier vor. Denn die Abwägung zwischen dem Ausmaß der unmittelbaren Gefährdung oder Störung des Dienstbetriebes und den nachteiligen Auswirkungen sowie Belastungen für den Soldaten ergibt, dass die angeordneten Maßnahmen der Einleitungsbehörde im dienstlichen Interesse geboten sind und dem Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit nicht widersprechen.
[7] Im vorliegenden Fall ergibt sich ein hinreichend begründeter Verdacht eines schwerwiegenden disziplinaren Fehlverhaltens des Soldaten insbesondere daraus, dass er wie er selbst einräumt während des Vorfalls in der Nacht zum 1. September 2004 bei der Befragung der Rekruten im Kasernenkeller einem Rekruten mittels eines Feldfernsprechers einen Stromschlag versetzt hat. Insoweit ist auch die Anklage der Staatsanwaltschaft M., in welcher der Soldat einer Misshandlung Untergebener beschuldigt wird, durch das Landgericht M. durch nicht rechtskräftigen Beschluss vom 22. Dezember 2005 zur Hauptverhandlung zugelassen worden, wobei das Landgericht die Tat rechtlich abweichend von der Beurteilung der Staatsanwaltschaft als Misshandlung Untergebener gemäß § 30 Abs. 1 WStG bewertet. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats reicht für den geforderten hinreichend begründeten Verdacht die Erhebung der öffentlichen Anklage in einem sachgleichen Strafverfahren (§ 170 Abs. 1 StPO) oder die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO) aus (vgl. zuletzt Beschluss vom 17. März 2005 BVerwG 2 WDB 1.05 Buchholz 235. 01 § 126 WDO 2002 Nr. 2 = NVwZ-RR 2005, 729 = NZWehrr 2005, 216 = ZBR 2005, 318 [nur LS] = DokBer 2005, 275 m. w. N.). Soweit das Landgericht M. bezüglich der Übung in der Nacht zum 25. August 2004 einen hinreichenden Verdacht für eine Straftat ausscheidet und bezüglich der Übung in der Nacht zum 31. August 2004 ausführt, aufgrund der bisherigen Ermittlungen sei der Soldat zwar hinreichend verdächtig, einen Rekruten gefesselt und ihm die Augen verbunden zu haben, dies sei aber nicht strafbar, wird über die disziplinarrechtliche Bewertung dieser Vorfälle erst im Zusammenhang mit einer Beweisaufnahme im gerichtlichen Disziplinarverfahren entschieden werden können.
[8] Die Eigenheit des zugrunde liegenden Sachverhalts besteht darin, dass neben dem Soldaten weitere acht Soldaten angeklagt sind, deren Tatbeiträge aufgrund der Besonderheiten des Falles, wie insbesondere dem Zusammenwirken mehrerer bei verdeckter Sicht der Opfer, bisher noch nicht vollständig zugeordnet werden konnten. Es ist deshalb möglich, dass dem Soldaten über das bisher Vorgeworfene hinaus weitere straf- und disziplinarrechtlich erhebliche Verhaltensweisen angelastet werden. So reicht es für eine Bestrafung nach § 31 Abs. 2 WStG aus, dass ein Vorgesetzter pflichtwidrig duldet, dass ein Untergebener die Tat gegen einen anderen Soldaten begeht; gegenüber den jeweils handelnden Mittätern im Dienstgrad Stabsunteroffizier und niedriger hatte der Soldat aufgrund seines Dienstgrades nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VorgV die erforderliche Vorgesetztenstellung inne.
[9] Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht der hinreichende Tatverdacht, dass der Soldat vorsätzlich gegen zentrale Dienstpflichten, insbesondere gegen die Pflichten zum treuen Dienen (§ 7 SG), zur Fürsorge (§ 10 Abs. 3) und zur Kameradschaft (§ 12 Satz 2 SG) sowie gegen die Pflicht zur Wahrung der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit im Dienst (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) verstoßen hat.
[10] Ein solches Dienstvergehen ist für einen Portepeeunteroffizier im Dienstgrad eines Oberfeldwebels in der Funktion eines Gruppenführers bzw. stellvertretenden Zugführers gegenüber einem Rekruten deshalb besonders schwerwiegend, weil es bei der Wahrnehmung der zentralen Aufgabe der Menschenführung unter Ausnutzung der ihm durch den Dienstherrn eingeräumten Befugnisse begangen wurde. Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar; sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dieses Gebot gilt auch für die Streitkräfte als Teil der Exekutive und bedarf im militärischen Bereich mit seiner streng hierarchischen Gliederung besonderer Beachtung. Welche Bedeutung der Gesetzgeber dem Schutz Untergebener beimisst, ergibt sich aus der Tatsache, dass die entwürdigende Behandlung Untergebener nach § 31 WStG mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Ein Vorgesetzter, der so handelt, begeht nicht nur eine Wehrstraftat, sondern auch eine schwerwiegende Dienstpflichtverletzung (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2005 BVerwG 2 WD 33.04 m. w. N.).
[11] Die Anordnungen nach § 126 Abs. 1 WDO sind auch geeignet und erforderlich, um dadurch eine Schädigung des Ansehens der Bundeswehr in der Öffentlichkeit sowie Nachteile und Gefahren insbesondere für die Disziplin und die dienstliche Ordnung in den Streitkräften abzuwehren.
[12] Bei einer vor rechtskräftigem Abschluss des gerichtlichen Disziplinarverfahrens erfolgenden Rückkehr des Soldaten in seine Einheit besteht jedenfalls gegenwärtig die Gefahr einer Beeinträchtigung des Ansehens der Bundeswehr und ihres Erscheinungsbildes in der Öffentlichkeit mit der Folge eines schweren, nicht wieder gutzumachenden Schadens. Zwar wurde gegenüber der Bevölkerung damals durch die schnelle Reaktion in Form von verhängten Verboten der Dienstausübung nach § 22 SG durch die zuständigen Disziplinarvorgesetzten und durch spätere vorläufige Maßnahmen nach § 126 Abs. 1 WDO durch die Einleitungsbehörde sowie durch Äußerungen der politischen Leitung und der militärischen Führungsspitze des Bundesministeriums der Verteidigung zum Ausdruck gebracht, dass die Bundeswehr derartige Verhaltensweisen unter keinen Umständen billigt. Würde der Soldat jetzt in seine Einheit zurückkehren und dies in der Öffentlichkeit bekannt werden, könnte aber in den Augen eines den Sachverhalt objektiv und vorurteilsfrei wertenden Betrachters (vgl. zu diesem Maßstab u. a. Urteil vom 27. November 2003 BVerwG 2 WD 6.03) der Eindruck entstehen, dass die Bundeswehr das Fehlverhalten des Soldaten trotz der gerade in der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zum Ausdruck kommenden Schwere im nachhinein milder und verständnisvoller beurteilt. Dies stünde aber schwerlich im Einklang mit dem hohen Stellenwert, den der Gesetzgeber den Grundrechten der Soldaten beimisst und wie er in § 6 SG zum Ausdruck kommt, dem zu entnehmen ist, dass dem Soldaten alle Rechte nach dem Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte zustehen (Soldat als so genannter Staatsbürger in Uniform). Auch die Grundsätze der Inneren Führung betonen in besonderer Weise die Grundrechte der Soldaten (vgl. etwa ZDv 10/1 Anlage 1/2 Leitsatz 4, wonach ein Vorgesetzter das Recht durchsetzt und bei der Ausübung der Befehls- und Disziplinargewalt dafür Sorge trägt, dass die Grundrechte der ihm unterstellten Soldaten gewahrt bleiben). Davon wird ein Soldat nicht dadurch freigestellt, dass er sich wie der Verteidiger des Soldaten für ihn in dem Schreiben an die Einleitungsbehörde vom 16. März 2005 geltend gemacht hat auf "eine Befehlslage seitens der Zugführer und des Kompaniechefs" sowie darauf beruft, er habe davon ausgehen dürfen, dass die in Rede stehenden "Ausbildungs" -Inhalte "de facto ab dem 1. Oktober 2004 sowieso Inhalt der dann neu in Kraft tretenden AnTrA 1 sein" würden und dass "zudem der KpChef diese Ausbildungsinhalte vollständig gebilligt" habe (vgl. zu den rechtlichen Grenzen des soldatischen Gehorsams Urteil vom 21. Juni 2005 BVerwG 2 WD 12.04 EuGRZ 2005, 636 = NJW 2006, 77 = DVBl 2005, 1455 [insoweit nicht abgedruckt] = NZWehrr 2005, 254 [nur LS] = JZ 2006, 41 [nur LS]). Die vom Soldaten beantragte Aufhebung der Anordnung nach § 126 Abs. 1 WDO würde die Gefahr begründen, dass insbesondere die Einsicht und verlässliche Bereitschaft zur strikten Beachtung des Grundrechts auf Achtung und Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) innerhalb der Streitkräfte relativiert werden. Auf die Einheit des Soldaten bezogen, in der Rekruten die Allgemeine Grundausbildung ableisten, könnten angesichts der konkreten Umstände des zur Last gelegten Dienstvergehens Außenstehende zur Ansicht gelangen, dass der Schutz der Rekruten nicht in jeder Hinsicht ausreichend gewährleistet ist. Angesichts der Tatsache, dass sich das teilweise sachgleiche Strafverfahren verfahrensrechtlich im Stadium nach der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung befindet und somit in baldiger Zukunft mit erhöhter Medienberichterstattung über die zugrunde liegenden Vorfälle zu rechnen ist, könnte die Rückkehr des Soldaten vor abschließender disziplinargerichtlicher Klärung der Vorfälle in der Öffentlichkeit als ein die in Rede stehenden Verfehlungen bagatellisierendes und deshalb nicht nachvollziehbares Signal gewertet werden.
[13] Auch innerhalb der Streitkräfte besteht jedenfalls gegenwärtig bei Rückkehr des Soldaten die erhebliche Gefahr einer empfindlichen Störung oder jedenfalls Gefährdung der militärischen Ordnung und des Dienstbetriebes. (wird ausgeführt)
[14] Schließlich liegt keine überlange Dauer oder Verschleppung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens vor.
[15] Ab welcher verstrichenen Zeitspanne das Übermaßverbot die weitere Aufrechterhaltung der Anordnungen nach § 126 Abs. 1 WDO verbietet, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn dies ist hier jedenfalls gegenwärtig nicht der Fall. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Pflicht der Einleitungsbehörde zur regelmäßigen Prüfung, ob die Anordnungen nach ihren Voraussetzungen noch gerechtfertigt sind (vgl. Dau, WDO, 4. Aufl., 2002, § 126 RNr. 26). Davon abgesehen hat der Soldat nach § 126 Abs. 5 Satz 1 WDO jederzeit die Möglichkeit, einen neuen Antrag auf Aufhebung zu stellen.