Bundesverwaltungsgericht
Beschränkte Berufung; Teilrechtskraft; Ehrverletzung; Menschenwürdeverstoß; Zurückhaltungsgebot; Verfahrenseinstellung; milderes Gesetz; Regelungslücke; maßgeblicher Zeitpunkt; Höchstmaßnahme.
WDO § 38 Abs. 1, § 91 Abs. 1, § 108 Abs. 3; StPO § 327; StGB § 2 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 2; SG § 10 Abs. 6, § 12
1. Bei einer auf die Maßnahmebemessung beschränkten Berufung ist der Wehrdienstsenat an die Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts sowie die von diesem vorgenommene rechtliche Würdigung des angeschuldigten Fehlverhaltens des Soldaten unabhängig davon gebunden, ob diese in jeder Hinsicht rechtsfehlerfrei sind (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).
2. Die – verfassungskonforme – Pflicht jedes Offiziers nach § 10 Abs. 6 SG, innerhalb und außerhalb seines Dienstes bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten, wird unabhängig davon verletzt, ob die betreffende Äußerung im Rahmen eines inhaltlichen Meinungsstreits oder durch völlig unsachliche, ehrverletzende oder gar die Würde des Untergebenen missachtende Formulierungen ohne Bezug auf einen inhaltlichen Meinungsstreit erfolgt (Änderung der bisherigen Rechtsprechung).
3. Die Regelung des § 2 Abs. 1 StGB, wonach sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt, bestimmen, ist im Wehrdisziplinarrecht entsprechend anzuwenden.
4. Ist das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung des Gerichts geändert worden, ist nach der im Wehrdisziplinarrecht ebenfalls entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 2 Abs. 3 StGB das "mildeste Gesetz" anzuwenden. Das ist diejenige Vorschrift, die im konkreten Einzelfall die dem Täter günstigste Beurteilung zulässt.
5. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob ein Soldat durch sein Dienstvergehen bei der gebotenen objektiven Betrachtung das Vertrauen des Dienstherrn in seine persönliche Integrität und Zuverlässigkeit und damit eine zentrale Grundlage des Dienstverhältnisses in besonders grobem Maße erschüttert oder ganz zerstört hat, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die gebotene gerichtliche Disziplinarmaßnahme.

BVerwG, Urteil vom 9. 1. 2007 – 2 WD 20.05; TDG Nord (lexetius.com/2007,993)

[1] Das Truppendienstgericht hatte den (früheren) Soldaten, einen Leutnant der Reserve, wegen beleidigender und teilweise menschenverachtender Äußerungen, die während einer Wehrübung teilweise unmittelbar gegenüber Untergebenen und teilweise über diese vor Dritten erfolgten, eines Dienstvergehens für schuldig befunden und ihm den Dienstgrad eines "Leutnants der Reserve" aberkannt. Auf die (auf die Maßnahmebemessung) beschränkte Berufung des früheren Soldaten hat das Bundesverwaltungsgericht bei Feststellung eines Dienstvergehens das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und das Verfahren eingestellt.
[2] Aus den Gründen: … Das Rechtsmittel ist vom früheren Soldaten in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung des Vertreters des Bundeswehrdisziplinaranwalts wirksam auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkt worden. Der Senat hat daher die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die rechtliche Würdigung der Truppendienstkammer seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 327 StPO). …
[3] Ferner steht aufgrund der wirksam erfolgten Berufungsbeschränkung fest, dass sich der frühere Soldat "durch sein Verhalten" eines "Dienstvergehens schuldig gemacht (§ 23 Abs. 1 SG)" hat, weil er "vorsätzlich und schuldhaft gegen seine Dienstpflichten verstieß, als Offizier bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten (§ 10 Abs. 6 SG), die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten (§ 12 Satz 2 SG) sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die sein Dienst als Soldat erfordert (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG)".
[4] Der Senat ist an diese Tat- und Schuldfeststellungen sowie die von der Truppendienstkammer vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden. Ob diese in jeder Hinsicht rechtsfehlerfrei getroffen worden sind, kann und darf aufgrund der wirksam erfolgten Berufungsbeschränkung und der dadurch insoweit eingetretenen Teilrechtskraft im Berufungsverfahren nicht mehr untersucht werden (stRspr, vgl. u. a. Urteil vom 2. Dezember 1969 – BVerwG 1 WD 7.69 –; Dau, WDO, 4. Aufl. 2003, § 116 Rn. 20; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl. 2006, § 318 Rn. 31 und § 327 Rn. 5 f. jeweils m. w. N.). …
[5] Auf dieser Grundlage hat der Senat unter Beachtung des Verschlechterungsverbotes (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 331 Abs. 1 StPO) lediglich über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden.
[6] Ungeachtet dessen, dass der frühere Soldat im festgestellten Umfang ein Dienstvergehen begangen hat, ist die Verhängung der an sich gebotenen gerichtlichen Disziplinarmaßnahme einer Herabsetzung um (zumindest) zwei Dienstgrade von Gesetzes wegen nicht zulässig (§ 61 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 57 Abs. 1 Satz 1 der im Tatzeitraum bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung der WDO – WDO a. F.). Daher ist das Verfahren nach § 123 Satz 3 i. V. m. § 108 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 WDO einzustellen sowie festzustellen, dass der frühere Soldat ein Dienstvergehen begangen hat.
[7] Art und Maß einer zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind abhängig von der Eigenart und Schwere des Dienstvergehens, seinen Auswirkungen, dem Maß der Schuld, der Persönlichkeit, der bisherigen Führung sowie den Beweggründen des (früheren) Soldaten (§ 38 Abs. 1 i. V. m. § 58 Abs. 7 WDO).
[8] Die "Eigenart und Schwere" eines Dienstvergehens bestimmen sich nach dem Unrechtsgehalt der Verfehlung, mithin also nach der Bedeutung der verletzten Pflichten. Danach wiegt das Dienstvergehen des früheren Soldaten schwer.
[9] Sein besonderer Unrechtsgehalt ist dadurch gekennzeichnet, dass der frühere Soldat mehrfach in erheblichem Maße gegen die Pflicht zur Kameradschaft (§ 12 Satz 2 SG) verstoßen hat, indem er in beleidigenden und teils menschenverachtenden Worten (wie "kleine Maden", "[kleine] Stricher", "Pisser", "Wichser", "Arschlöcher", "genetischer Abfall", "menschlicher Müll", "Fickfehler") dienstgradniedrigeren Kameraden seine Geringschätzung der Rekruten der Batterie kundtat. …
[10] Darüber hinaus lag in den Worten "genetischer Abfall" und "menschlicher Müll" (Anschuldigungspunkt 5) sowie "Fickfehler" (Anschuldigungspunkt 8) zugleich auch ein Angriff auf die Menschenwürde der betroffenen Rekruten und geht damit über eine "bloße" Ehrverletzung hinaus. Dies wiegt besonders schwer. …
[11] Auch die festgestellte Verletzung der in § 10 Abs. 6 SG normierten Pflicht eines Offiziers, innerhalb und außerhalb des Dienstes bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten, sowie der in § 17 Abs. 2 Satz 1 SG normierten Pflicht jedes Soldaten, der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die sein Dienst als Soldat erfordert, wiegt schwer.
[12] Daran ändert nichts, dass der Senat bisher in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen ist, die Vorschrift des § 10 Abs. 6 SG, gegen deren Verfassungsmäßigkeit angesichts der Einschränkbarkeit des Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit (Art 5 Abs. 1 GG) der Soldaten nach Art. 17a GG und § 6 Satz 2 SG keine durchgreifenden Bedenken bestehen (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1970 – 2 BvR 746/68BVerfGE 28, 55 [62 f.] = NZWehrr 1970, 177), finde nur in Fällen Anwendung, in denen es um einen "Kampf der Meinungen", um "eine geistige Auseinandersetzung" gehe, "die immer ein Argumentieren, einen Austausch von Gedanken" voraussetze (vgl. u. a. Urteil vom 20. Mai 1981 – BVerwG 2 WD 9.80BVerwGE 73, 187 [191 f.]; ebenso Scherer/Alff, SG, 7. Aufl. 2003 § 10 Rn. 63). Denn der Senat ist auch insoweit aufgrund der erfolgten Berufungsbeschränkung an die rechtliche Würdigung der Truppendienstkammer gebunden, wonach der frühere Soldat mit seinem Verhalten (in allen acht Anschuldigungspunkten) § 10 Abs. 6 SG verletzt hat. Zudem hält der Senat an seiner bisherigen Auslegung nicht mehr fest. Die Vorschrift des § 10 Abs. 6 SG erfasst nach ihrem eindeutigen Wortlaut – uneingeschränkt – alle "Äußerungen" der näher bezeichneten Art innerhalb und außerhalb des Dienstes, wobei allerdings die Schutzwirkungen des Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten sind. Auch ehrverletzende und diffamierende Äußerungen sind jedenfalls "Äußerungen", die gegen die Pflicht zur Zurückhaltung verstoßen (vgl. dazu auch Peterson, NZWehrr 1991, 12). Dafür spricht insbesondere der Normzweck der Vorschrift. Sie soll verhindern helfen, dass Vorgesetzte ihre dienstliche Autorität selbst untergraben (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1970 a. a. O.); sie verlangt die Zurückhaltung bei (allen) Äußerungen, "um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten". Dieser Zweck besteht unabhängig davon, ob die in Rede stehende Äußerung im Rahmen eines inhaltlichen Meinungsstreits oder durch völlig unsachliche, ehrverletzende oder gar die Würde des Untergebenen missachtende Äußerungen ohne Bezug auf einen inhaltlichen Meinungsstreit erfolgt. …
[13] Bei der gebotenen Gesamtwürdigung des Fehlverhaltens des früheren Soldaten ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats davon auszugehen, dass bei einer durch einen Vorgesetzten begangenen ehrverletzenden und/oder entwürdigenden Behandlung Untergebener im Regelfall die Dienstgradherabsetzung um einen oder mehrere Dienstgrade, in schweren Fällen sogar die Höchstmaßnahme verwirkt ist (vgl. zuletzt Urteile vom 17. März 2004 – BVerwG 2 WD 17.03NZWehrr 2005, 38 m. w. N., vom 26. Oktober 2005 – BVerwG 2 WD 33.04 – NZWehrr 2006, 161 = NVwZ 2006, 947, vom 4. Mai 2006 – BVerwG 2 WD 9.05 – DÖV 2006, 1005 m. w. N. und vom 16. Mai 2006 – BVerwG 2 WD 3.05NZWehrr 2006, 252 [insoweit nicht veröffentlicht]). Dieser Maßstab gilt im Regelfall auch bei ehrverletzenden und/oder entwürdigenden Äußerungen (vgl. dazu Urteil vom 4. Mai 2006 a. a. O. m. w. N.). Eine weniger gravierende Disziplinarmaßnahme kommt lediglich bei leichteren Pflichtverletzungen oder bei Vorliegen besonderer Milderungsgründe in Betracht (vgl. etwa Urteil vom 4. Mai 2006 a. a. O.).
[14] Ein solcher minderschwerer Fall liegt hier nicht vor. … Besondere Milderungsgründe in den Umständen der Tat oder in der Person greifen nicht ein. …
[15] Angesichts dessen erscheint – unter Abwägung aller be- und entlastenden Aspekte – an sich eine Dienstgradherabsetzung um zumindest zwei Dienstgrade als geboten und angemessen. Eine solche Dienstgradherabsetzung ist jedoch im Falle des früheren Soldaten, der als Leutnant der Reserve den untersten Dienstgrad der Laufbahngruppe der Offiziere trägt, nach dem Gesetz nicht zulässig. Gleichzeitig ist auch die Verhängung der Höchstmaßnahme nicht geboten und nicht zulässig.
[16] Maßgebend dafür ist die zum Tatzeitpunkt (Oktober/November 2001) geltende Regelung des § 61 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 57 Abs. 1 Satz 1 WDO a. F., die bis zum 31. Dezember 2001 in Kraft war. Dagegen findet die nunmehr geltende Regelung des § 58 Abs. 3 WDO keine Anwendung.
[17] Zwar ist in der Wehrdisziplinarordnung nicht ausdrücklich geregelt, ob im Falle eines vor dem 1. Januar 2002 und damit vor dem Inkrafttreten der Neufassung begangenen Dienstvergehens die zum Tatzeitpunkt geltende Regelung oder aber die gegenwärtige Fassung der Wehrdisziplinarordnung Anwendung finden soll. Es liegt insoweit eine Regelungslücke vor, weil die Wehrdisziplinarordnung weder in ihrer (einzigen) Überleitungsnorm (§ 147 WDO) noch sonst eine solche Konstellation geregelt hat. Diese ist planwidrig, da weder aus dem Wortlaut des § 147 WDO noch aus der Systematik der Schlussvorschriften (§§ 143 – 148 WDO) die Absicht des Gesetzgebers zu einer abschließenden Regelung entnommen werden kann. Ebenso wenig ergibt sich diese aus der Entstehungsgeschichte zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts (BTDrucks 14/4660, S. 38 zu Nr. 94 [§ 139a]) oder aus dem Normzweck des § 147 WDO. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber keine der Vorschrift des § 2 Abs. 1 und 3 StGB vergleichbare Regelung in die Wehrdisziplinarordnung aufgenommen hat, weil er diese Konstellation nicht bedacht hatte oder nicht für regelungsbedürftig hielt.
[18] Diese planwidrige Regelungslücke ist verfassungskonform durch analoge Anwendung des § 2 Abs. 1 und 3 StGB zu schließen.
[19] Nach der Regelung des § 2 Abs. 1 StGB, der in materieller Hinsicht im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG Verfassungsrang zukommt (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl. 2006, § 2 Rn. 2), bestimmen sich die (Kriminal-) Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich nicht nur auf Kriminalstrafen, sondern – allerdings mit gewissen Einschränkungen, die sich aus der Natur des Rechtsgebiets ergeben – auch auf ehrengerichtliche und "Disziplinarstrafen" (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1969 – 2 BvR 518/66BVerfGE 26, 186 [203, 204] m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 52 1. Juli 1992 – BVerwG 2 WD 14.92BVerwGE 93, 269 = NZWehrr 1993, 72).
[20] Die "Disziplinarstrafe" stimmt, so sehr sie sich im Übrigen von der Kriminalstrafe unterscheidet, mit dieser darin überein, dass sie eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten ist. Art. 103 Abs. 2 GG soll auch im Bereich des Disziplinarrechts solche hoheitlichen Reaktionen voraussehbar machen. Wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung des Gerichts geändert worden ist, ist nach § 2 Abs. 3 StGB "das mildeste Gesetz" anzuwenden (sog. Meistbegünstigungsklausel; vgl. dazu u. a. Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, § 2 Rn. 3 m. w. N.). Die Vorschrift des § 2 Abs. 3 StGB bezweckt, dem Täter, wenn das spätere Recht für den Täter günstiger ist als das zum Tatzeitpunkt geltende Recht, die neue (mildere) Bewertung des Gesetzgebers nicht vorzuenthalten. Diese Beweggründe treffen – ungeachtet der unterschiedlichen Zwecke des Strafrechts und des Disziplinarrechts – wegen des Sanktionscharakters auch auf das Disziplinarrecht zu. Eine insoweit unterschiedliche Behandlung eines Soldaten im Disziplinarrecht einerseits und im Strafrecht andererseits wäre mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Es ist kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich, warum ein Soldat bei einer erfolgten, im Ergebnis für ihn günstigen Gesetzesänderung im Disziplinarrecht in dieser Hinsicht schlechter zu behandeln sein sollte als ein zu verurteilender Straftäter. § 2 Abs. 3 StGB ist deshalb auch im Wehrdisziplinarrecht entsprechend anzuwenden.
[21] Für eine (analoge) Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB ist erforderlich, dass die einschlägige Vorschrift der Wehrdisziplinarordnung, die bei Tatbeendigung galt, vor der gerichtlichen Entscheidung geändert wurde. Das ist vorliegend der Fall, weil zur Zeit der spätesten Dienstpflichtverletzung (spätestens) am 23. November 2001 (Anschuldigungspunkte 7 und 8) noch § 61 Abs. 1 WDO a. F. anzuwenden war und weil nach Inkrafttreten der Neufassung der Wehrdisziplinarordnung am 1. Januar 2002 nun § 58 Abs. 3 WDO die maßgebende Norm ist.
[22] Als Rechtsfolge ist damit das mildeste Gesetz anzuwenden. Darunter ist dasjenige zu verstehen, das im konkreten Einzelfall die dem Täter – bzw. hier dem früheren Soldaten – günstigste Beurteilung zulässt. Auf einen abstrakten Vergleich kommt es dabei nicht an (Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, § 2 Rn. 3 m. w. N.; Eser in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 2 Rn. 30 m. w. N.; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl. 2006, § 2 Rn. 10). Deshalb ist im vorliegenden Fall darauf abzustellen, ob die seit dem 1. Januar 2002 geltende Vorschrift des § 58 Abs. 3 WDO gegenüber dem nach § 2 Abs. 1 StGB (analog) grundsätzlich anzuwendenden § 61 Abs. 1 Satz 1 WDO a. F. das mildere Gesetz ist. Nur dann wäre die aktuell geltende Vorschrift des § 58 Abs. 3 WDO anwendbar.
[23] Dies ist jedoch zu verneinen. Dabei ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass hier – aus den oben dargelegten Gründen – an sich eine Dienstgradherabsetzung geboten und angemessen ist.
[24] Sowohl § 61 Abs. 1 Satz 1 WDO a. F. als auch § 58 Abs. 3 Nr. 1 WDO sehen bei früheren Soldaten ("Angehörige der Reserve") die Zulässigkeit einer Dienstgradherabsetzung vor. Während diese nach § 58 Abs. 3 Nr. 1 WDO i. V. m. § 62 Abs. 1 Satz 1 und 2 WDO – ohne Ausnahme – lediglich bis zum niedrigsten Offiziersdienstgrad zulässig ist, war nach § 61 Abs. 1 WDO a. F. in Satz 2 eine vom Regelfall des Satzes 1 abweichende unbeschränkte Dienstgradherabsetzung nur für den Fall vorgesehen, dass – fiktiv – bei einem Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit eine Entfernung aus dem Dienst gerechtfertigt gewesen wäre. Im Gegensatz dazu eröffnet § 58 Abs. 3 Nr. 2 WDO darüber hinaus weitergehend die Möglichkeit einer gänzlichen Aberkennung des Dienstgrades, die es bis zum Inkrafttreten der Neufassung der Wehrdisziplinarordnung am 1. Januar 2002 noch nicht gab. § 58 Abs. 3 WDO ist danach nicht die mildere Vorschrift. Denn sie sieht – bei gleicher Einstufung – gegenüber § 61 Abs. 1 WDO a. F. jedenfalls keine günstigere Maßnahmebemessung vor.
[25] Nach § 61 Abs. 1 Satz 2 a. F. wäre damit zwar – anders als nach der im vorliegenden Fall nicht anwendbaren Vorschrift des § 58 Abs. 3 WDO – keine Aberkennung des Dienstgrades des früheren Soldaten zulässig. Jedoch dürfte nach § 61 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F. auch bei einem Leutnant der Reserve eine Herabsetzung des Dienstgrades über die Beschränkungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 WDO a. F. ("bis zum niedrigsten Offizierdienstgrad") hinaus bis in einen Mannschaftsdienstgrad nur dann verhängt werden, wenn bei einem Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit die Entfernung aus dem Dienstverhältnis gerechtfertigt wäre. An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch im vorliegenden Fall.
[26] Die Verhängung der Höchstmaßnahme wäre, wenn es sich bei dem früheren Soldaten um einen Soldaten auf Zeit oder um einen Berufssoldaten handeln würde, bei der Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Umstände nicht geboten gewesen. Der Senat hat nicht feststellen können, dass der frühere Soldat auch in Anbetracht der Schwere des Dienstvergehens, der Schuld und der eingetretenen Auswirkungen seines Fehlverhaltens – bei fiktiver Betrachtung – als Soldat auf Zeit oder als Berufssoldat für den Dienstherrn untragbar wäre. Letzteres wäre (nur) dann der Fall, wenn der frühere Soldat durch sein Dienstvergehen bei der gebotenen objektiven Betrachtung das Vertrauen des Dienstherrn in seine persönliche Integrität und Zuverlässigkeit und damit eine zentrale Grundlage des Dienstverhältnisses in besonders grobem Maße erschüttert und letztlich zerstört hätte (vgl. u. a. Urteil vom 19. Juli 1995 – BVerwG 2 WD 9.95BVerwGE 103, 265 = Buchholz 236. 1 § 7 SG Nr. 4 = NZWehrr 1996, 164, vom 6. Mai 2003 a. a. O. und vom 27. November 2003 – BVerwG 2 WD 6.03 -). Daran fehlt es hier.
[27] Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung dieser Frage ist dabei der Zeitpunkt, zu dem das Wehrdienstgericht nach Maßgabe der § 58 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1 WDO über die Verhängung der gebotenen gerichtlichen Disziplinarmaßnahme zu entscheiden hat. Zu diesem Zeitpunkt hat der Senat bei der gebotenen objektiven Betrachtung nicht (mehr) feststellen können, dass gegenwärtig von einer besonders groben Erschütterung oder gar von einer Zerstörung des Vertrauens des Dienstherrn in die persönliche Integrität und Zuverlässigkeit des früheren Soldaten auszugehen ist, die bei einem Soldaten auf Zeit oder einem Berufssoldaten die Verhängung der Höchstmaßnahme in Gestalt der Entfernung aus dem Dienstverhältnis erforderlich machen würde. … (wird ausgeführt)