Bundesgerichtshof

BGH, Beschluss vom 28. 9. 2016 – 2 StR 223/16 (lexetius.com/2016,3717)

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 28. September 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 21. Dezember 2015
a) im Schuldspruch dahingehend berichtigt, dass der Angeklagte der versuchten Freiheitsberaubung und des erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung schuldig ist,
b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
[1] Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Freiheitsberaubung sowie erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
[2] 1. Der Schuldspruch warwie schon die Kammer selbst in den Urteilsgründen bemerkt hat – insoweit zu berichtigen, als hinsichtlich der zweiten Tat vom 30. Juni 2015 lediglich eine versuchte räuberische Erpressung anzunehmen war.
[3] 2. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Annahme, der Angeklagte habe im Zustand nicht erheblich verminderter Schuldfähigkeit gehandelt, hat das Landgericht nicht tragfähig begründet.
[4] Die Strafkammer ist, sachverständig beraten, davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Charaktereigenschaften gegeben sei, die wegen des extremen Ausmaßes als schwere andere seelische Abartigkeit einzustufen sei. Trotz des Vorliegens des Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB sei die Einsichts- und auch die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nicht beeinträchtigt gewesen.
[5] Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
[6] a) Ob eine Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens bei Vorliegen eines Eingangsmerkmals erheblich ist, ist eine nicht empirisch, sondern normativ zu beantwortende Frage, über die nach ständiger Rechtsprechung das Gericht und nicht der Sachverständige zu befinden hat (BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53; m. w. N. Fischer, StGB, 63. Aufl. § 21, Rn. 7). Vorliegend referiert die Strafkammer die Einschätzung des Sachverständigen, die "Steuerungsfähigkeit sei unter Zugrundelegung der von der Expertenkommission beim BGH entwickelten Richtlinien zur Tatzeit sowohl am 29. Juni 2015 wie auch am 30. Juni 2015 erhalten gewesen". Eigene Erwägungen, die erkennen ließen, dass sich die Strafkammer mit der ihr obliegenden Prüfung einer erheblichen Steuerungsfähigkeit eigenverantwortlich befasst hat, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Dies lässt besorgen, dass eine eigenständige Prüfung durch das Landgericht nicht stattgefunden hat.
[7] b) Ist das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB, wie hier der schweren seelischen Abartigkeit, festgestellt, liegt regelmäßig zumindest die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit nahe (vgl. zuletzt Senat, Urteil vom 25. März 2015 – 2 StR 409/14, NStZ 2015, 588). Die Feststellung einer nicht erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit bedarf danach einer besonderen Begründung (vgl. dazu Fischer, aaO, § 21, Rn. 8), die auch erkennen lassen muss, dass sich der Tatrichter bewusst war, eine vom Regelfall abweichende Entscheidung zu treffen. Daran fehlt es hier. Die vom Landgericht wiedergegebenen Ausführungen der Sachverständigen lassen besorgen, dass dies bei der Würdigung aus dem Blick geraten sein könnte (UA S. 19: "Zusammenfassend führt die Sachverständige aus, dass es bei den gegen eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sprechenden Umständen nicht um eine Liste von Kriterien handele, bei der eine gewisse Anzahl von nicht erfüllten Kriterien im Sinne eines cut-off-Wertes zur Annahme verminderter Schuldfähigkeit führe. Vielmehr seien die erfüllten Kriterien Anhaltspunkte, die auf den Einzelfall zu diskutieren seien").
[8] c) Zudem stützt sich die Würdigung auf Erwägungen, die bezogen auf den zugrunde liegenden Sachverhalt keine oder wenig Aussagekraft besitzen.
[9] Soweit ausgeführt wird, die vorgeworfenen Taten seien Ausdruck der dissozialen und psychopatischen Persönlichkeit des Angeklagten, seiner Rücksichtslosigkeit, der Allmachtsphantasien und seines Empathiemangels gegenüber Eltern und Großmutter, der Angeklagte habe Geld gebraucht und habe sich dieses – wie schon früher – bei Eltern und Großmutter beschaffen wollen, erschließt sich nicht, warum "vor diesem Hintergrund" (UA S. 20) nicht von einer erheblich verminderten oder aufgehobenen Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden könne. Dass eine Tat Ausdruck der festgestellten Störung ist, besagt nichts über den Schweregrad der Störung und enthält – weder positiv noch negativ – einen Hinweis auf den Grad der Einschränkung der Steuerungsfähigkeit.
[10] Auch die weiter angeführten Umstände, das Vorgehen des Angeklagten sei geplant und vorbereitet gewesen, es habe sich auch nicht um Impulstaten gehandelt, verhält sich nicht zu der Frage, ob das Hemmungsvermögen des Angeklagten mehr als nur unerheblich beeinträchtigt ist. Die Planung und Vorbereitung einer Tat, die jedenfalls im Hinblick auf das Vorgehen am 30. Juni 2015 wenig professionell erscheint und angesichts ihrer Durchführung in der Öffentlichkeit eine große Gefahr der Entdeckung birgt, lassen ohne nähere Erkenntnisse, wann der Angeklagte sich zur Tat entschlossen und welche Anstrengungen er zu ihrer Durchführung unternommen hat, keinen vernünftigen Rückschluss auf den Grad der Einschränkung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt zu. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht nur bei "Impulstaten" in Betracht kommt.
[11] d) Der Rechtsfehler lässt den Schuldspruch unberührt; der Senat kann ausschließen, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten vollständig aufgehoben war. Er führt aber zur Aufhebung des Strafausspruchs; es liegt bei Annahme einer schweren seelischen Abartigkeit nahe, dass der Tatrichter bei rechtsfehlerfreier eigener Würdigung zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gelangt wäre. Die Sache bedarf insoweit, naheliegender Weise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen, neuer Verhandlung und Entscheidung.