Befristete einstweilige Anordnung im Zusammenhang mit Frischzellen-Verordnung
BVerfG, Mitteilung vom 20. 3. 1997 – 24/97 (lexetius.com/1997,566)
[1] Die 2. Kammer des Ersten Senats das BVerfG hat auf den Antrag mehrerer Ärzte eine längstens bis zum 20. September 1997 befristete einstweilige Anordnung im Zusammenhang mit dem Verbot der Verwendung von Frischzellen erlassen. Innerhalb dieser Frist werden die Antragsteller zu klären haben, ob ihnen gegen das Verbot Rechtsschutz durch die Fachgerichte (Verwaltungsgerichtsbarkeit) zusteht, ob also die zugleich zum BVerfG erhobene Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig ist.
[2] Die Antragsteller/Beschwerdeführer bieten in von ihnen geführten privatärztlichen Sanatorien überwiegend oder ausschließlich zelltherapeutische Behandlungen an und injizieren ihren Patienten selbst hergestellte, aus Schafen gewonnene Frischzellen.
[3] Am 10. März 1997 haben sie sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen § 1 Abs. 1 der vom Bundesministerium für Gesundheit erlassenen Frischzellen-Verordnung vom 4. März 1997 gewandt und gleichzeitig den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. § 1 dieser Verordnung lautet auszugsweise:
[4] "Verbot der Verwendung von Frischzellen. (1) Es ist verboten, bei der Herstellung von Arzneimitteln, die zur Injektion oder Infusion bestimmt sind, Frischzellen zu verwenden. (2) … (3) … (4) Von den Verboten nach Absätzen 1 und 2 ausgenommen sind Fertigarzneimittel im Sinne des § 4 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes, die gemäß § 25 des Arzneimittelgesetzes zugelassen sind, gemäß § 39 des Arzneimittelgesetzes registriert sind oder gemäß § 105 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes als zugelassen gelten."
[5] Ein Verstoß gegen dieses Verbot ist mit Strafe bedroht. Die Frischzellen-Verordnung geht auf ein Gutachten des Bundesgesundheitsamtes von 1994 zurück, in dem es unter anderem heißt:
[6] "Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse werden injizierbare Arzneimittel zur Frischzellentherapie für ebenso bedenklich … gehalten wie Fertigarzneimittel zur Zelltherapie …"
[7] Die Beschwerdeführer klären ihre Patienten nunmehr wie folgt auf:
[8] "Ich wünsche ausdrücklich die ärztliche Behandlung mittels Frischzellentherapie. Mein behandelnder Arzt/Ärztin hat mich über das Verbot der Verwendung von Frischzellen nach § 1 der Frischzellen-Verordnung unterrichtet. Er hat mir deren amtliche Begründung zur Lektüre überlassen und mir erklärt, Frischzellentherapie sei nach Ansicht des Verordnungsgebers bedenklich oder für die menschliche Gesundheit gefährlich; diesen angeblichen Risiken stehe keine nachgewiesene Wirksamkeit von Frischzellen gegenüber …"
[9] Die Beschwerdeführer rügen mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Verletzung ihres Grundrechts auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Sie sind der Meinung, dem Bund fehle im vorliegenden Fall die Gesetzgebungskompetenz, die Überwachung der ärztlichen Therapie sei vielmehr ausschließlich Sache der Länder.
[10] II. Die 2. Kammer des Ersten Senats hat die beantragte einstweilige Anordnung mit der Maßgabe erlassen, daß die angegriffenen Vorschriften längstens bis zum 20. September 1997 insoweit ausgesetzt werden, als die Herstellung der genannten Arzneimittel zur Injektion oder Infusion für eigene Patienten erfolgt.
[11] Zur Begründung heißt es unter anderem:
[12] Das BVerfG kann einen Streitfall durch eine einstweilige Anordnung dann vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde sind dabei nur insoweit relevant, als diese nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet sein darf. Das BVerfG muß die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber erfolglos bliebe.
[13] Danach war die einstweilige Anordnung zu erlassen.
[14] 1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Das in der Verordnung ausgesprochene Verbot betrifft die Beschwerdeführer in ihrer Therapiefreiheit selbst und unmittelbar, ohne daß es noch eines weiteren Vollzugsaktes bedürfte. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß die Verfassungsbeschwerde kompetenzrechtliche Fragen im Hinblick auf die Regelungszuständigkeit von Bund oder Land aufwirft, die eingehend im Verfassungsbeschwerdeverfahren (= Hauptsacheverfahren) zu prüfen sind.
[15] Zwar könnte die Verfassungsbeschwerde unzulässig sein, weil die Beschwerdeführer möglicherweise bei den Fachgerichten Rechtsschutz erhalten könnten. Diese Frage läßt sich jedoch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht mit hinreichender Sicherheit beantworten. Angesichts dieser unsicheren prozessualen Lage kann daher dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung der Grundsatz der Subsidiarität (mangelnde Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges) nicht nicht entgegengehalten werden. 2. Die gebotene Folgenabwägung fällt zugunsten der Beschwerdeführer aus. Für den Fall, daß die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde sich jedoch als begründet herausstellte, würden den Beschwerdeführer schwere und kaum wiedergutzumachende Nachteile entstehen. Denn das in der Frischzellen-Verordnung enthaltene Verbot würde sie zur Aufgabe oder vollständigen Umstellung ihrer derzeitigen beruflichen Existenz zwingen.
[16] Demgegenüber kann im Ergebnis die weitere Anwendung von Frischzellen in der Einzeltherapie vorübergehend hingenommen werden. Hierbei hat die Kammer folgendes berücksichtigt: – Solange die Frischzellentherapie für eine gewisse Zeit noch angewendet werden darf, sind die Patienten zwar weiter den Risiken ausgesetzt, die das Bundesministerium für Gesundheit zum Erlaß bewogen haben. Die Risiken sind jedoch abgeschwächt, weil die Patienten durch die Beschwerdeführer in ausreichender Weise aufgeklärt werden. – Ein sofortiges Eingreifen zur Risikovermeidung erscheint nicht zwingend, weil sich Anhaltspunkte für die Gefährlichkeit der Therapie nicht etwa neuerdings verdichtet haben. Der Verordnungsgeber hat die Gefährlichkeit von Zellpräparaten nicht so hoch eingeschätzt, daß er den Empfehlungen der Gutachten von 1992 und 1994 mit Dringlichkeit gefolgt wäre. Er hat für die Fertigarzneimittel, für die ihm die Regelungskompetenz zweifelsfrei zusteht und die im Gutachten von 1994 als ebenso bedenklich eingestuft werden wie die Frischzellentherapie, in § 1 Abs. 4 der Verordnung ausdrücklich Ausnahmen zugelassen. Auch der lange Zeitablauf seit dem ersten Auftrag der Bundesgesundheitsministerkonferenz 1987 und dem Therapieverbot 1997 macht deutlich, daß dem Gesetzgeber sofortiges Einschreiten bisher nicht geboten erschien. Vor diesem Hintergrund kann die Therapie mit Frischzellen vorübergehend noch hingenommen werden, solange die Patienten aufgeklärt werden und solche Behandlung wünschen. Die Kammer hat mit ihrer Entscheidung selbst keine Wertung zu Nutzen und Risiken der Frischzellentherapie vorgenommen.
BVerfG, Beschluss vom 18. 3. 1997 – 1 BvR 420/97