Bundesarbeitsgericht
Vertragsänderung nach Betriebsübergang – Anfechtungsfrist
1. § 613a BGB hindert Arbeitnehmer und Betriebsübernehmer nicht, nach einem Betriebsübergang einzelvertraglich die mit dem Betriebsveräußerer vereinbarte Vergütung abzusenken.
2. Ist eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 1. Alt. BGB) erklärt worden, können andere Anfechtungsgründe nicht nach-geschoben werden.

BAG, Urteil vom 7. 11. 2007 – 5 AZR 1007/06 (lexetius.com/2007,3905)

[1] 1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg vom 5. September 2006 – 1 Sa 219/06 – wird zurückgewiesen.
[2] 2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
[3] Tatbestand: Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche.
[4] Die 1963 geborene Klägerin, Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, war bei der nicht tarifgebundenen G GmbH seit 1998 im Betrieb S als Verkäuferin mit 30 Wochenstunden beschäftigt. Zuletzt erhielt sie neben Sonderzahlungen und vermögenswirksamen Leistungen ein monatliches Grundgehalt von 1.099,28 Euro brutto sowie eine "freiwillige anrechenbare" Zulage (Funktionszulage) von 270,98 Euro brutto.
[5] Am 1. Juni 2004 ging der Betrieb S auf die Beklagte über. Diese unterrichtete die Klägerin über den Betriebsübergang. In dem Unterrichtungsschreiben vom 1. Juni 2004 heißt es ua.:
"… 5. Bei der K GmbH finden die zwischen der Konsum-Tarifgemeinschaft e. V. und ver. di – Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft e. V. vereinbarten Tarifverträge Anwendung. …"
[6] Am 27. Juli 2004 vereinbarten die Parteien in einem "Personalveränderung" genannten Vertrag, dass die Klägerin ab 1. August 2004 eine Vergütung nach Tarifgruppe G III/5 in Höhe von 1.041,40 Euro brutto im Monat und als Differenzzahlung zu ihrem bisherigen Gehalt und dem "KEM Tarif" für zwölf Monate eine Einmalzahlung von 3.900,00 Euro erhalten sollte. Die Beklagte leistete die Einmalzahlung im August 2004.
[7] Mit Schreiben ihrer Gewerkschaft vom 22. September 2005 machte die Klägerin geltend, sie sei über die tariflichen Rechtsfolgen des Betriebsübergangs getäuscht worden, und verlangte die Rückabwicklung der Personalveränderung. Auch mit Schreiben vom 26. Oktober 2005 begehrte die Klägerin die Rückabwicklung "wegen Täuschung".
[8] Mit der Klage fordert die Klägerin für den Zeitraum August 2004 bis Februar 2006 Fortzahlung ihrer alten Vergütung. Hierauf lässt sie sich die erhaltene Einmalzahlung anrechnen. Die Vereinbarung sei mangels Sachgrundes unwirksam. Außerdem sei die Klägerin über die Folgen des Betriebsübergangs unzutreffend informiert worden. Dies rechtfertige die erklärte Anfechtung.
[9] Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.348,53 Euro brutto, hilfsweise 1.248,62 Euro brutto, nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
[10] Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. § 613a BGB stehe der Änderungsvereinbarung nicht entgegen. Mit der Regelung seien die Einkommens- und Tarifverhältnisse an die übrigen Mitarbeiter angeglichen worden.
[11] Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils und macht geltend, ihr sei vor Abschluss der Personalveränderung mit dem Ausspruch einer ordentlichen Kündigung gedroht worden. Diese Drohung habe jedenfalls bis zum 22. September 2005 angedauert.
[12] Entscheidungsgründe: Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der Differenzvergütung für den Zeitraum August 2004 bis Februar 2006.
[13] I. Die Vereinbarung vom 27. Juli 2004, mit der die Parteien die Vergütung neu geregelt haben, ist wirksam.
[14] 1. Insbesondere bedarf eine nach dem Betriebsübergang getroffene Vergütungsvereinbarung nicht wegen möglicher Umgehung des § 613a BGB eines sie rechtfertigenden Sachgrundes.
[15] a) Ein Rechtsgeschäft darf und kann die mit ihm beabsichtigte Wirkung nicht entfalten, wenn es sich als objektive Umgehung zwingender Rechtsnormen darstellt. Das ist der Fall, wenn der Zweck einer zwingenden Rechtsnorm dadurch vereitelt wird, dass andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten missbräuchlich, dh. ohne einen im Gefüge der einschlägigen Rechtsnorm sachlich rechtfertigenden Grund, verwendet werden. Bei der Umgehung ist nicht nur ein bestimmter Weg zum Ziel, sondern das Ziel selbst verboten. Dabei kommt es nicht auf eine Umgehungsabsicht oder eine bewusste Missachtung der zwingenden Rechtsnormen an; entscheidend ist die objektive Funktionswidrigkeit des Rechtsgeschäfts (BAG 23. November 2006 – 8 AZR 349/06 – Rn. 24, AP BGB § 613a Wiedereinstellung Nr. 1 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 61; Senat 22. März 1995 – 5 AZB 21/94BAGE 79, 319 ff.; Palandt/Heinrichs BGB 66. Aufl. § 134 Rn. 28).
[16] b) Mit der Personalveränderung genannten Vereinbarung ist der Schutzzweck des § 613a BGB nicht in unzulässiger Weise umgangen worden. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.
[17] aa) Nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt ein Betriebserwerber im Falle des Betriebsübergangs in die Rechte und Pflichten aus einem im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnis ein. Außerdem ist nach § 613a Abs. 4 BGB die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Betriebsveräußerer oder -erwerber "wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils" unwirksam. § 613a Abs. 1 BGB bezweckt zunächst einen (nicht zwingenden) einzelvertraglichen Inhaltsschutz (§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB) und – bei Fehlen kollektivrechtlicher Regelungen im Erwerberbetrieb – einen kollektivrechtlichen Inhaltsschutz, der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur für ein Jahr zwingende Wirkung entfaltet. Soweit eine nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB an sich unverändert übergeleitete Regelung der Disposition der Arbeitsvertragsparteien unterliegt, kann sie durch Vereinbarung mit dem alten oder neuen Inhaber geändert werden. Es herrscht grundsätzlich die gleiche Vertragsfreiheit, wie sie im Veräußererbetrieb bestanden hat. Aus § 613a BGB lassen sich keine weitergehenden Einschränkungen der Privatautonomie ableiten.
[18] Diese nationale Regelung stimmt mit der Rechtsprechung des EuGH (10. Februar 1988 – C-324/86 – EAS Nr. 4 zu Art. 1 der RL 77/187 EWG) zur Betriebsübergangsrichtlinie 77/187 EWG überein. Danach steht diese Richtlinie einer mit dem neuen Unternehmensinhaber vereinbarten Änderung des Arbeitsverhältnisses nicht entgegen. Hieran hat sich durch die RL 2001/23/EG vom 12. März 2001 (ABl. EG Nr. L 82 vom 22. März 2001 S. 16) nichts geändert.
[19] bb) Es kann dahinstehen, ob an Verträge, die den Erlass rückständiger Arbeitnehmeransprüche regeln oder die betriebliche Altersversorgung zu Lasten des Arbeitnehmers verschlechtern, weitergehende Anforderungen zu stellen sind. Für derartige Sachverhalte hat das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, § 613a BGB gewähre einen Schutz vor einer Veränderung des Vertragsinhalts, sofern kein sachlicher Grund für die dem Arbeitnehmer nachteilige Regelung bestehe (Senat 18. August 1976 – 5 AZR 95/75 – AP BGB § 613a Nr. 4 = EzA BGB § 613a Nr. 7; 26. Januar 1977 – 5 AZR 302/75 – AP BGB § 613a Nr. 5 = EzA BGB § 613a Nr. 11; BAG 17. Januar 1980 – 3 AZR 160/79BAGE 32, 326, 337; 29. Oktober 1985 – 3 AZR 485/83BAGE 50, 62 ff., 72 f.; Senat 27. April 1988 – 5 AZR 358/87BAGE 58, 176 ff., 182 f.; BAG 12. Mai 1992 – 3 AZR 247/91BAGE 70, 209 ff.; vgl. auch BAG 23. November 2006 – 8 AZR 349/06AP BGB § 613a Wiedereinstellung Nr. 1 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 61; 18. August 2005 – 8 AZR 523/04BAGE 115, 340). Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, bedarf keiner Entscheidung. Verträge über bereits verdientes Arbeitsentgelt, zu dem auch Anwartschaften über eine betriebliche Altersversorgung zu rechnen sind, können nach einem Betriebsübergang nicht mit den die Vergütung zukünftiger, noch zu erbringender Arbeitsleistungen regelnden Vereinbarungen gleichgesetzt werden.
[20] 2. Die Personalveränderung vom 27. Juli 2004 ist nicht gemäß § 142 BGB auf Grund der von der Klägerin erklärten Anfechtung (§ 123 Abs. 1 BGB) nichtig.
[21] a) Die Klägerin hat die einjährige Anfechtungsfrist (§ 124 BGB) für die von ihr zunächst erklärte Anfechtung wegen Täuschung (§ 123 Abs. 1 1. Alt. BGB) versäumt. Erst mit Schreiben vom 22. September 2005 wies sie auf die behauptete Täuschung hin und forderte eine Rückabwicklung der Personalveränderung.
[22] b) Soweit die Klägerin erstmals mit der Revisionsbegründung geltend macht, die Anfechtung vom 22. September 2005 sei wegen widerrechtlicher Drohung mit einer Kündigung wirksam möglich gewesen, weil die Zwangslage zum Zeitpunkt der Anfechtung im September 2005 noch fortbestanden habe (§ 124 Abs. 2 Satz 1 BGB), ist dieser Vortrag ungeeignet, die wegen Täuschung erklärte Anfechtung zu heilen.
[23] aa) Das Nachschieben von Anfechtungsgründen zu einer bereits aus anderen Gründen erklärten Anfechtung ist unzulässig, weil dies den berechtigten Belangen des Anfechtungsgegners widerspräche. Dieser geht davon aus, dass die Wirksamkeit der Erklärung nur aus den angegebenen oder erkennbaren Gründen in Zweifel gezogen wird. Er richtet sich in seinem weiteren Verhalten darauf ein. Sind die zunächst angegebenen Anfechtungsgründe nicht überzeugend, so stellt sich der Anfechtungsgegner darauf ein, dass die Willenserklärung Bestand hat. Er braucht nicht damit zu rechnen, dass noch zu einem späteren Zeitpunkt andere Gründe nachgeschoben werden. Diese Grundsätze, die das Bundesarbeitsgericht zur Anfechtung nach § 119 BGB entwickelt hat (BAG 21. Januar 1981 – 7 AZR 1093/78 – AP BGB § 119 Nr. 5 = EzA BGB § 119 Nr. 12) gelten für alle Anfechtungsgründe (ebenso BGH 11. Oktober 1965 – II ZR 45/63 – BB 1965, 1328; vgl. auch BGH 22. Oktober 2003 – VIII ZR 361/02NJW-RR 2004, 628 – 630 mwN; Palandt/Heinrichs BGB § 143 Rn. 3 mwN; MünchKommBGB/Busche 5. Aufl. § 143 Rn. 10; Staudinger/Roth BGB (2003) § 143 Rn. 13).
[24] bb) Im Übrigen ist weder die Drohung noch deren Fortdauer vom Landesarbeitsgericht festgestellt worden, so dass die für das Revisionsgericht unverzichtbaren Entscheidungsgrundlagen fehlen.
[25] II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.