Bundesverwaltungsgericht
Tierschutz; Tierzucht; Qual; Qualzucht; Zuchtverbot; Tierrassen; Haubenenten; Bestimmtheit; rechnen müssen; Wahrscheinlichkeitsmaßstab.
Bei der Zucht von Tieren muss damit gerechnet werden, dass bei den Nachkommen Schmerzen, Leiden, Schäden oder erblich bedingte Verhaltensstörungen im Sinne des § 11b TierSchG auftreten, wenn dies nach dem Stand der Wissenschaft überwiegend wahrscheinlich ist.
BVerwG, Urteil vom 17. 12. 2009 – 7 C 4.09; VGH Kassel (lexetius.com/2009,4035)
[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 17. Dezember 2009 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Sailer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Krauß, Neumann, Guttenberger sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper für Recht erkannt:
[2] Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. Februar 2009 wird aufgehoben.
[3] Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
[4] Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe:
[5] 1 I Der Kläger züchtete Landenten mit Federhaube (Haubenenten). Mit Bescheid vom 11. November 2002 untersagte der Beklagte ihm diese Zucht. Zur Begründung führte er aus, bei der Zucht träten häufiger, als es zufällig zu erwarten wäre, schwere Missbildungen auf, wodurch den Tieren Leiden und Schmerzen zugefügt würden. Auf ein Gutachten des Bundesministeriums für Landwirtschaft zur Auslegung von § 11b TierSchG und auf einen von der Universität Bern und der Tierärztlichen Hochschule Hannover gemeinsam herausgegebenen Abschlussbericht zu einem Forschungsauftrag über die Haubenbildung bei Hausenten (Forschungsauftrag 96 HS 046) wurde verwiesen.
[6] 2 Mit Bescheid vom 25. August 2003 wies das zuständige Regierungspräsidium den Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten zurück.
[7] 3 Die daraufhin erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 26. September 2005 abgewiesen.
[8] 4 Mit Urteil vom 5. Februar 2009 hat der Verwaltungsgerichtshof die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Nach den vorliegenden Untersuchungsberichten zur Zucht von Haubenenten müsse damit gerechnet werden, dass bei der Nachzucht erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch untauglich oder umgestaltet seien und hierdurch Schäden aufträten (§ 11b Abs. 1 TierSchG) und dass es bei den Nachkommen zu mit Leiden verbundenen erblich bedingten Verhaltensstörungen käme (§ 11b Abs. 2 Buchst. a TierSchG). Das Zuchtverbot erfasse auch natürlich entstandene körperliche Anomalien und Merkmale, die früher als anerkannte Art- oder Rassemerkmale angesehen und deshalb in Züchtungen angestrebt worden seien.
[9] 5 Eine Zucht sei nicht erst dann nach § 11b Abs. 1 oder 2 TierSchG verboten, wenn insoweit abschließend gesicherte oder unumstrittene wissenschaftliche Erkenntnisse vorlägen. Es genüge, dass mit dem Auftreten der genannten Merkmale "gerechnet werden müsse". Dies sei der Fall, wenn es sich um nicht fernliegende, sondern realistische, naheliegende Möglichkeiten handele. Maßgeblich seien die objektiven Verhältnisse. Hier sei von der naheliegenden Möglichkeit des erblich bedingten Auftretens von Defekten bei den Nachkommen auszugehen.
[10] 6 Bei Haubenenten seien über einen langen Zeitraum hinweg Auffälligkeiten beobachtet worden. In der Literatur sei hierüber erstmals bereits im Jahr 1910 berichtet worden. In neueren Untersuchungen seien Schädeldefekte, Fetteinlagerungen im Gehirn, Hirndeformationen und Hirnbrüche festgestellt worden. Der Beklagte habe sich in nicht zu beanstandender Weise auf das Gutachten des Bundeslandwirtschaftsministeriums zur Auslegung von § 11b TierSchG sowie auf die Ergebnisse des Abschlussberichts zum Forschungsauftrag 96 HS 046 gestützt. In dem Bericht werde festgestellt, dass Haubenenten unverhältnismäßig häufig cranio-cerebrale Missbildungen (u. a. Hirndeformationen) aufwiesen, die zweifelsfrei als pathologische Organveränderungen und als Schäden im Sinne von § 11b TierSchG anzusehen seien.
[11] 7 Eine Dissertation aus dem Jahre 2006 komme zu dem Ergebnis, dass sich die in früheren Befunden getroffenen Aussagen teilweise bestätigt hätten. Sowohl motorische Koordinationsschwierigkeiten als auch Hirn- und Schädeldefekte seien beobachtet worden.
[12] 8 Nach der Dissertation sei derzeit mit dem Auftreten von Defektmerkmalen zu rechnen und es gebe keine verlässlichen Anhaltspunkte dafür, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte. Auch wenn im Rahmen der Versuche der Doktorandin bei der Zucht mit "vorselektierten Tieren" der Anteil von Tieren mit Schädelanomalien von 62 % auf 36 % zurückgegangen sei, belege die Dissertation doch eine immer noch hohe Zahl an geschädigten Tieren trotz optimaler Zuchtbedingungen.
[13] 9 Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision des Klägers. Zur Begründung führt er insbesondere aus:
[14] 10 In dem angefochtenen Bescheid sei ihm generell die Züchtung der Rasse Landenten mit Haube verboten worden. Gemäß § 11b Abs. 1 TierSchG könne aber allein die Zucht mit bestimmten Tieren verboten werden, dagegen nicht die Zucht einer ganzen Rasse. Ein solches Verbot sei nur aufgrund einer – hier nicht vorliegenden – Rechtsverordnung gemäß § 11b Abs. 5 Nr. 2 TierSchG möglich.
[15] 11 Es sei nicht mit den in § 11b TierSchG genannten negativen Folgen der Zucht zu rechnen. Mit bestimmten körperlichen Anomalien sei vielmehr nur dann zu rechnen, wenn tragfähige statistische Feststellungen dafür vorlägen, dass diese bei der Zucht häufig aufträten. Bei der Nachzucht müsse es zu einer signifikanten Häufigkeit von Schädigungen kommen, was hier nicht der Fall sei. Würde nicht auf die Signifikanz abgestellt, könnte aufgrund des § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG jede Zucht verboten werden, weil jede Züchtung mit dem Risiko von Missbildungen behaftet sei.
[16] 12 Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
[17] 13 II Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat die Anforderungen verkannt, die § 11b TierSchG an das Verbot einer Qualzüchtung stellt (vgl. 1.). Das Bundesverwaltungsgericht kann nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO, vgl. 2.).
[18] 14 1. Unter Verletzung von Bundesrecht hat das Berufungsgericht angenommen, der angefochtene Bescheid sei eine rechtmäßige, von der zuständigen Behörde zur Beseitigung festgestellter und zur Verhütung künftiger Verstöße getroffene notwendige Anordnung gemäß § 16a Satz 1 TierSchG, weil die Zucht von Haubenenten durch den Kläger gegen das Verbot der Qualzucht (§ 11b TierSchG) verstoßen habe. Nach dieser Vorschrift ist es u. a. verboten, Wirbeltiere zu züchten, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei der Nachzucht erblich bedingt Organe für den artgemäßen Gebrauch untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten (§ 11b Abs. 1 TierSchG). Ebenso ist es u. a. verboten, Wirbeltiere zu züchten, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei den Nachkommen mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten (§ 11b Abs. 2 Buchst. a TierSchG). Das Berufungsgericht hat die Anforderungen, die § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG an das Verbot einer Qualzüchtung stellen, verkannt.
[19] 15 Zwar sind die im Verfahren beschriebenen cranio-cerebralen Missbildungen (u. a. Hirndeformationen) nach den – insoweit nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen – tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils pathologische Organveränderungen und Schäden im Sinne von § 11b TierSchG. Dies wird auch vom Kläger nicht bezweifelt.
[20] 16 Ebenso rechtsfehlerfrei hat der Verwaltungsgerichthof angenommen, das Zuchtverbot des § 11b TierSchG erfasse auch (durch Mutation) natürlich entstandene körperliche Anomalien und Merkmale, die früher als anerkannte Art- oder Rassemerkmale angesehen und deshalb in Züchtungen angestrebt worden seien. Die Verbotstatbestände sind – worauf in dem angefochtenen Urteil zutreffend hingewiesen wird – Ausdruck eines gewandelten Verständnisses über die Bedeutung des Tierschutzes. Danach sollen unter den in der Bestimmung genannten Voraussetzungen Tieren in Rassezuchten zugemutete körperliche Belastungen nicht mehr hingenommen werden. Dies wird durch die verfassungsrechtliche Verankerung des Tierschutzes (Art. 20a GG) untermauert.
[21] 17 Der Verwaltungsgerichtshof hat aber verkannt, unter welchen Voraussetzungen mit derartigen erblich bedingten Schäden "gerechnet werden muss". Dies ist dann der Fall, wenn es nach dem Stand der Wissenschaft überwiegend wahrscheinlich ist, dass solche Schäden signifikant häufiger auftreten, als es zufällig zu erwarten wäre. Eine naheliegende Möglichkeit, dass es zu derartigen Schäden kommen wird, reicht dagegen – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – für ein Verbot nicht aus.
[22] 18 Hierfür spricht schon der Wortlaut der Vorschrift. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch muss nicht bereits dann mit etwas gerechnet werden, wenn nur eine naheliegende Möglichkeit dafür besteht, dass dies eintreten wird. Vielmehr bedarf es hierfür eines höheren Maßes an Wahrscheinlichkeit.
[23] 19 Auch ist bei der Auslegung von § 11b TierSchG das besondere Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten. Gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 22 TierSchG handelt ordnungswidrig, wer Wirbeltiere entgegen § 11b Abs. 1 oder 2 TierSchG züchtet. Dies gilt auch dann, wenn die Zucht nicht durch eine behördliche Anordnung verboten wurde. Deshalb müssen sowohl die Bußgeldvorschrift (§ 18 Abs. 1 Nr. 22 TierSchG) als auch die materielle verwaltungsrechtliche Norm (§ 11b Abs. 1 und 2 TierSchG) in ihrer Gesamtheit hinsichtlich der Auslegung und Anwendung im Einzelfall den verschärften verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen (stRspr des Bundesverfassungsgerichts, vgl. Beschluss vom 23. Oktober 1985 – 1 BvR 1053/82 – BVerfGE 71, 108 [114 f.]; Urteil vom 11. November 1986 – 1 BvR 713/83 u. a. – BVerfGE 73, 206 [234 ff.]; Beschlüsse vom 6. Mai 1987 – 2 BvL 11/85 – BVerfGE 75, 329 [340 ff.]; vom 22. Juni 1988 – 2 BvR 234/87, 1154/86 BVerfGE 78, 374 [381 f.]; vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718/89 u. a. – BVerfGE 92, 1 [12 ff.] und zuletzt vom 17. November 2009 – 1 BvR 2717/08). Auch wenn in Grenzfällen die strafrechtliche Irrtumsregelung angemessene Lösungen ermöglicht (vgl. Beschluss vom 6. Mai 1987 a. a. O. [343]), ist schon bei der Auslegung der verwaltungsrechtlichen Vorschrift darauf zu achten, dass die Verbotsvorschrift in ihrer Tragweite für den Adressaten vorhersehbar ist (vgl. u. a. Beschluss vom 17. November 2009 – 1 BvR 2717/08 juris).
[24] 20 Dem würde es widersprechen, die naheliegende Möglichkeit von in § 11b TierSchG genannten Schäden für ein Verbot ausreichen zu lassen. Ein Züchter würde in diesem Falle bereits dann verbotswidrig handeln, wenn eine Frage in der Wissenschaft umstritten wäre. Das Risiko, dass sich die Frage nach dem Stand der Wissenschaft nicht beantworten lässt, würde ihm aufgebürdet mit der Folge, dass er den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit verwirklicht. Auch wenn es in derartigen Fällen häufig an dem für die Verhängung eines Bußgeldes notwendigen Verschulden fehlen dürfte, würden § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG in einer solchen Auslegung dennoch gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.
[25] 21 2. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
[26] 22 Der Senat kann nicht zu Gunsten des Klägers durchentscheiden. Entgegen dessen Auffassung verbieten § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG unter den dort genannten Voraussetzungen nicht nur die Zucht mit bestimmten Tieren, sondern auch die Zucht von Tierrassen. Weder der Wortlaut, noch die Entstehungsgeschichte, noch Sinn und Zweck von § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG liefern einen Anhaltspunkt für die Rechtsauffassung des Klägers. Auch aus der Systematik des Gesetzes ergibt sich nichts anderes. Dass § 11b Abs. 5 Nr. 2 TierSchG das zuständige Bundesministerium ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Züchten von Wirbeltieren bestimmter Arten, Rassen und Linien zu verbieten oder zu beschränken, wenn dieses Züchten zu Verstößen gegen § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG führen kann, vermag daran nichts zu ändern. Wie sich aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte von § 11b Abs. 5 Nr. 2 TierSchG ergibt, soll es die Verordnungsermächtigung u. a. ermöglichen, die gesetzlichen Verbote in § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG zu konkretisieren (vgl. u. a. BTDrucks 14/4451, S. 10). Ein Verbot kann aber nur konkretisiert werden, wenn es bereits besteht. Auch dass bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 11b Abs. 5 Nr. 2 TierSchG der Erlass von Rechtsverordnungen zweifellos im Interesse der Rechtsklarheit und einer einheitlichen Verwaltungspraxis sinnvoll und wünschenswert ist, kann zu keinem anderen Ergebnis führen.
[27] 23 Ebenso wenig kann der Senat zu Gunsten des Beklagten in der Sache selbst entscheiden. Die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs tragen allein dessen Ergebnis, dass bei der Nachzucht die naheliegende Möglichkeit erblich bedingter Schäden im Sinne des § 11b Abs. 1 und 2 TierSchG besteht. Ob dies auch überwiegend wahrscheinlich ist, kann das Revisionsgericht auf Grund der getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht beurteilen.
[28] 24 Deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Tatsachengericht zurückzuverweisen. Dieses muss prüfen, ob es nach dem Stand der Wissenschaft überwiegend wahrscheinlich ist, dass bei der Nachzucht gegenwärtig Schäden im Sinne des § 11b TierSchG signifikant häufiger auftreten werden, als es zufällig zu erwarten wäre.